Deutsche Atlantische Gesellschaft e.V.

Pax Atlantica – die wichtigste Beziehung aller Zeiten ist den Herausforderungen der Zukunft gewachsen

Ausgabe 58: Dr. Andrew B. Denison

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Die Vereinigten Staaten von Amerika und die weniger vereinigten Staaten von Europa – in unserer Welt hat keine Beziehung mehr für Frieden, Freiheit und Wohlstand getan als diese. In unserer Zeit ist keine andere Beziehung wichtiger, um die wachsenden Gefahren der Zukunft zu bewältigen.

Wichtig ist diese Beziehung, weil sie sich in den letzten 80 Jahren wie ein Phönix aus der Asche des Zweiten Weltkriegs zum Träger eines goldenen Zeitalters entwickelt hat. Wichtig ist sie auch, weil unsere Welt weiterhin von den Machtverhältnissen und Interessenslagen geprägt ist, die sich am Ende des Zweiten Weltkriegs herausgebildet haben.

1. Die Nachkriegsordnung bleibt bestehen

Die Turbulenzen der Gegenwart beruhen auf alten Problemen, deren Wurzeln in den Machtkonstellationen und Feindseligkeiten der ersten Nachkriegsjahre liegen. Vor dem Hintergrund dieser anhaltenden Eigenschaften der Weltordnung lassen sich die Umwälzungen unserer Zeit einfacher verstehen.

• Die Vereinigten Staaten von Amerika sind mit ca. 25% des globalen Bruttosozialprodukts nach wie vor Primus inter pares: eine sich globalisierende, hoch technisierte Nation in einer sich amerikanisierenden Welt. i China und Europa hinken weit hinterher. ii

• Atomwaffen, Interkontinentalraketen, die Vereinten Nationen mit ihren 5 Vetomächten, und das Ende des amerikanischen Isolationismus prägen unsere Zeit und sind Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs.

• Geostrategisch sind die USA nach wie vor auf Euroasien fokussiert, auf die mit Kernwaffen ausgerüsteten Alt-Imperien Russland und China. iii

• Abschrecken, eindämmen, engagieren, gegeneinander ausspielen – soweit wie möglich mit Verbündeten – diese Strategien gegenüber Moskau und Peking bleiben für die Sicherheit Amerikas zentral.

• In Bezug auf diese strategischen und machtpolitischen Ziele – wenn schon nicht allein aus ethischen Gründen – gehören die Sicherheit, Freiheit und der Wohlstand Deutschlands und Japans zu den vitalsten Interessen der USA. Umgekehrt sind Deutschland und Japan nach wie vor existenziell von den USA abhängig – Markt, Dollar, Militär.

• Die Verteidigung dieser Interessen beinhaltet weiterhin die erweiterte Abschreckung, also die Bereitschaft der USA, einen nuklearen Krieg zu riskieren, um eine militärische – auch nukleare – Erpressung der Alliierten zu verhindern. iv

• Und nicht zuletzt ist die Welt von den Erblasten der Kolonialisierung geplagt – sei es zwischen Indien und Pakistan oder im Nahen Osten und in Afrika. v

Nur mit der geballten Kraft beider Seiten des Atlantiks werden die Gefahren der alten Großmachtkonflikte in ihrer neuen Form zu meistern sein. Die Erderwärmung bleibt ein drohendes Szenario, aber auch ein nuklearer Winter als Konsequenz nur eines kleinen Kernwaffenkriegs. Künstliche Intelligenz wird neue Formen politischer Macht, darunter auch Massenvernichtung, mit sich bringen. Massenmigration gefährdet den inneren Konsens und somit auch die Handlungsfähigkeit der Amerikaner und Europäer. Turbulente Zeiten stehen bevor.

Die Gefahren, die die Errungenschaften der Nachkriegsordnung bedrohen, scheinen überwältigend. Doch aus den Errungenschaften der letzten 80 Jahre ist auch der Mut zu schöpfen, den Herausforderungen der Zukunft in ähnlicher Zusammenarbeit gewachsen zu sein. Wer hätte vor 80 Jahren, als Europa in Schutt und Asche lag, gedacht, dass Europa heute so aussehen würde, dass Europa einen solchen Frieden, Freiheit und Wohlstand genießen würde?

Die Herausforderungen, aber auch die Möglichkeiten unserer Zeit, sollten deutlich machen, dass die Zusammenarbeit zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und den weniger vereinigten Staaten von Europa wichtiger ist als je zuvor.

2. Trumps Amerika – beständige Interessen und Institutionen

Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, im Land der unbegrenzten Widersprüche, im Land der unbegrenzten Sehnsucht nach Wandel beginnt ein neues, spannendes Kapitel – in einem Zeitalter, in dem alle Alarmlampen rot blinken.

Wer hätte es für möglich gehalten, dass der abgewählte und kurz vor Gefängnis und Bankrott stehende Donald J. Trump mit republikanischen Mehrheiten in beiden Häusern des Kongresses ins Oval Office zurückkehren würde? Im Land der unbegrenzten Widersprüche, in dem es für jede Aktion eine Reaktion, für jedes Argument ein Gegenargument und für jede Bewegung eine Gegenbewegung gibt, hat ein angeblich frauen- und fremdenfeindlicher 78-jähriger Milliardär bei Frauen, Nichtweißen, Erstwählern und Arbeitern Stimmen in Rekordzahlen gewonnen. Mit 77,3 Millionen Stimmen, gewann Trump 2,8 Millionen Stimmen mehr als im Jahr 2020. Kamala Harris, mit 75 Millionen, bekam dagegen ca. 6,8 Millionen Stimmen weniger als Joe Biden 2020. vi

In einem Land, in dem die Sehnsucht nach Wandel unbegrenzt ist, hatten die Amerikaner nach vier Jahren Joe Biden und Kamala Harris satt. Raus mit dem Alten, rein mit dem Neuen. Eine Mehrheit der Wähler hat gegen den Amtsinhaber gestimmt und wollte das Gegenteil wagen. Ob sie es so gewollt haben, was gekommen ist, ist nebensächlich.

Wie kein anderer amerikanischer Politiker des 21. Jahrhunderts hat Donald J. Trump seine eigene Partei und das ganze Land verändert. Doch er bleibt rätselhaft. Ein Vergleich mit anderen Politikern ist schwierig. In Amerika ist er auf jeden Fall sui generis. Ideologe, Egomane, Idiot – ein bisschen von allem. Er ist ein Selbstdarstellungskünstler wie kein anderer. Der größte Übertreiber aller Zeiten. Wie kein anderer kann er Konflikte schüren, Feindbilder verbreiten und andere niedermachen. Doch er hat auch ein kühnes Machtgespür. Er versteht die Interessen der anderen und weiß, wo er Hebelkraft einsetzen kann. vii

Ein Land wie Amerika ist allerdings mehr als sein Präsident. Die Interessen der 342 Millionen Einwohner der USA sind nicht zu übersehen. Sie geben ihre Besitzstände nicht so schnell her. Die Institutionen der Amerikaner – also die Art und Weise, wie sie ihre Macht bündeln, um zielorientiert Einfluss auszuüben – werden sie genauso wenig hergeben.

Die staatlichen Institutionen – Exekutive, Legislative und Judikative – sind im Sinne der Gründungsväter gegeneinander ausgerichtet. Ohne Mehrheiten im Kongress ist jeder Präsident, auch Donald J. Trump, deutlich schwächer. Die Bundesstaaten und Großstädte haben vielfältige Möglichkeiten, ihre Macht einzusetzen, wenn ihnen das, was aus Washington kommt, nicht gefällt. Diese Teilung der Macht, dieser politische Pluralismus, kann nicht so einfach geschafft werden oder ausgeblendet. Donald J. Trump rüttelt zwar kräftig an der Verfassungsordnung Amerikas, konnte bisher aber wenig ändern. Die Gegenargumente, die Gegenkräfte sind stark. Der Oberste Gerichtshof gibt seine Unabhängigkeit ungern auf. Wenn die Richter beispielsweise gegen seine Zollpolitik stimmen, ist das eine Gefahr für Trump.

Die Interessen der amerikanischen Wirtschaft kann Trump nicht ignorieren. Er misst seinen Erfolg an den Börsenwerten und beschimpft die Tech-Giganten im Weißen Haus. Wenn Nvidia gegen Exportbeschränkungen ist, findet der Chip-Gigant ein offenes Ohr im Oval Office. Ein Handelskrieg mit Europa oder China wollen die amerikanischen Firmen nicht. Europa ist Amerikas wertvollster Markt und Chinas Rohstoffe sind vorerst lebenswichtig.

Nicht zuletzt gibt es eine starke Zivilgesellschaft in den USA mit existierenden Netzwerken, die sich schnell mobilisieren lassen, sobald Bedarf besteht, also sobald die Menschen persönlich betroffen sind und sich von Tür zu Tür, von Nachbarschaft zu Nachbarschaft engagieren und einander mobilisieren. Beim letzten No Kings Day am 17. Oktober sind fast sieben Millionen Menschen auf die Straße gegangen. Bei den überraschend großen Wahlsiegen der Demokraten in Virginia, New Jersey, New York, Kalifornien, und Georgien am 4. November hat Donald J. Trump mal wieder die Grenzen seiner Macht gespürt. Die Amerikaner können Widerstand leisten. Das Volk – We the People – gibt seine Souveränität ungern ab. Mein Fazit: amerikanische Präsidenten kommen und gehen, amerikanische Interessen und Institutionen bleiben bestehen.

3. Trumps Welt – Life, Liberty, and the Pursuit of Happines

Die Interessen der Amerikaner in der übrigen Welt – also ihr Interesse am Überleben und vieles mehr – sind von zentraler Bedeutung. Das gilt auch für die Institutionen, die die Amerikaner mit der Welt verbinden, insbesondere die geostrategischen, politischen und wirtschaftlichen. Wie sind die Interessen der Amerikaner in der Welt zu verstehen? Wie nutzen sie die Institutionen der Welt, um ihre Interessen zu verfolgen?

Seit ihren Anfängen strebt die amerikanische Außenpolitik nach drei – zum Teil miteinander konkurrierenden – Zielen. Die USA streben nach Frieden, Freiheit und Wohlstand – für sich selbst und andere. Der amerikanische Staat soll gemäß der Unabhängigkeitserklärung von 1776 den Dreiklang „Life, Liberty and the Pursuit of Happiness” seiner Bürger sichern und fördern.

Life - Für die amerikanische Außenpolitik hat das Überleben in einer gefährlichen, anarchischen Welt oberste Priorität. In ihrem Streben nach Frieden – also Sicherheit – sind die Amerikaner wie jede Großmacht zuvor notfalls skrupellos und selbstfokusiert.

Liberty - Die zweite Priorität in einer von Staaten geprägten politischen Welt ist die Verbreitung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, also die Bekämpfung von Staatsformen, die zu Tyrannei, Massenmord und Krieg führen.

Pursuit of Happiness - Die dritte Priorität in einer von der Suche nach Gewinn geprägten wirtschaftlichen Welt ist die Eroberung globaler Märkte, um den eigenen Wohlstand voranzutreiben – manchmal auch den globalen.

Um mit den symbolträchtigen Städten des Zweiten Weltkriegs zu sprechen: Stalingrad steht für eine skrupellose Bündnis mit Josef Stalins Russland; Hiroshima, Nagasaki, Tokio, Dresden und Hamburg für eine kaltblütige Realpolitik. Auschwitz steht dagegen für die Erkenntnis, dass Frieden nicht nur aus Machtgleichgewicht entsteht; ein Staat, der Massenmord betreibt, ist nicht nur eine Gefahr für seine eigenen Bürger, sondern auch für andere Länder. Etwas weniger bekannt ist Bretton Woods, ein Ort in New Hampshire, an dem sich die Alliierten 1944 auf den Internationalen Währungsfonds und auf Institutionen zur Reduzierung von Zöllen einigten. Diese Stadt steht für Amerikas Interesse an einer offenen Weltwirtschaft, auch in der Überzeugung, dass die Weltwirtschaftskrise ein Grund für den Zweiten Weltkrieg war.

Natürlich mischen sich viele Partikularinteressen ein, aber die allgemeine Orientierung der amerikanischen Außenpolitik besteht darin, die Welt zugleich als gefährlichen Kriegsschauplatz, als Gesellschaft, die es zu demokratisieren gilt, sowie als gewinnversprechenden Marktplatz zu betrachten.

Trumps Amerika wird sich kaum weniger für weltweiten Frieden, Freiheit und Wohlstand interessieren, denn unabhängig von Trump und allen Wünsche nach „Decoupling“ schreitet die (grundsätzlich gewinnbringende) Vernetzung Amerikas mit dem Rest der Welt rasant voran.

Europa bleibt für die USA in dieser Welt Priorität Nr. 1, weil Europa der wichtigste strategische Brückenkopf in Eurasien ist, weil die Amerikaner in Europa ein Drittel mehr verdienen als in ganz Asien und weil sie in Europa die Wurzeln ihrer Kultur sehen. Gemeinsame Interessen und Investitionen gehen Hand in Hand, sind aber von gemeinsamen Werten getragen. Vernetzt wie noch nie, wachsen die europäischen und amerikanischen Gesellschaften ineinander, nicht auseinander.

Der transatlantische Handel (2,1 Billionen Dollar) und die Einnahmen durch Tochterunternehmen (7,2 Billionen Dollar) sind mit 9,3 Billionen um 30 % höher als der transpazifische Handel und die Einnahmen durch Tochterunternehmen (6,5 Billionen). viii Hierin liegt auch eine Erklärung dafür, warum sich die 27 EU-Mitglieder, vertreten durch Frau von der Leyen, mit Donald Trump in Schottland am 27. Juli 2025 auf Zollkompromisse und Investitionsziele geeinigt haben – und noch viel wichtiger: warum sie einen Handelskrieg vermieden haben.

Gemeinsame Interessen erklären, warum die 32 NATO-Mitglieder sich in Den Haag am 25. Juni 2025 darauf geeinigt haben, ihre Verteidigungsausgaben erheblich zu erhöhen. Gemeinsame Interessen erklären warum Trump sich verpflichtet hat, weiterhin eine souveräne, sichere und wohlhabende Ukraine anzustreben, warum er einen Waffenstillstand vor Verhandlungen will, warum er auch die Idee einer europäischen Sicherungstruppe in der Ukraine grundsätzlich unterstützt, was für Putin ein Anathema wäre. Trump mag die Geschäftsgrundlage der transatlantischen Partnerschaft nicht, aber seine bisherigen Taten sehen nicht nach einer vom vielen in Deutschland gefürchteten Strategie zur Schwächung Europas aus. ix

Auch Trumps Verteidigungsetat zeugt nicht unbedingt von einen Rückzug Amerikas. Mit 925 Milliarden Dollar für das Jahr 2026 ist er ca. 10 % höher als im vorigen Jahr. x Zurzeit stehen ca. 84.000 US-Truppen in Europa als konventionelles Rückgrat der Abschreckungsfähigkeit der NATO. xi Mit 62 Milliarden Dollar im Jahr 2026 für die weitere Modernisierung der strategischen Kernwaffen (neue Interkontinentalraketen, Flugzeuge und U‑Boote) kann man nicht von einer finanziellen Vernachlässigung der erweiterten Abschreckung, also die „Nukleargarantie” für Europa, Japan und Südkorea, sprechen. xii

Künftig mag China eine größere Gefahr für Amerika darstellen als Russland, aber auch hier wird Europa als Partner für Amerika von nicht zu überschätzender Bedeutung sein. Die Verbündeten Amerikas in Asien sind weder so wohlhabend noch so eng miteinander und mit Amerika verflochten wie die Europäer.

Die Sorge, dass Amerika in seiner Konzentration auf Asien seine Partner in Europa vernachlässigt, mag insoweit gerechtfertigt sein, als dass sie die Europäer dazu motiviert, um Aufmerksamkeit mit Asien zu konkurrieren. Doch seit Winston Churchill nach dem Angriff auf Pearl Harbor 1941 Angst hatte, die Amerikaner würden Europa den Rücken kehren, seit Nordkoreas Angriff auf Südkorea 1950 und seit dem Vietnamkrieg mit 50.000 toten US-Soldaten über fast 15 Jahre bleibt die amerikanische Politik verständlicherweise bei »Europe First«. Wenn es eine Wende Richtung Asien gibt, trifft dies eher auf den Europäern zu, die nicht nur wirtschaftlich dort investiert, sondern zunehmend auch sicherheitspolitisch exponiert sind. Die Konzentration der lebenswichtigen globalen Chip-Produktion in Taiwan ist vielen bewusst. Die europäische Marine zeigt Präsenz im Pazifik und NATO-Kommuniqués beschreiben die strategischen Gefahren, die von China ausgehen.

Ukraine: die wichtigste außenpolitische Herausforderung

Der Krieg in der Ukraine ist derzeit die wichtigste außenpolitische Herausforderung für die Trump-Regierung – und sicher auch die schwierigste zu lösen. In dem langjährigen amerikanischen Umgang mit den militärischen Gefahren in Europa lassen sich Ansätze erkennen, die auch bei der Suche nach Frieden in der Ukraine gelten könnten.

Amerika will in Europa weder seinen strategischen Vorposten noch seine politischen Prinzipien opfern. Gleichzeitig will es weder Kernwaffenkrieg noch den eigenen Bankrott. So auch in der Ukraine. Wenn Russland die Ukraine militärisch besiegen könnte, bestünde eine enorme Gefahr für die Sicherheit der NATO-Mitglieder. Das kann keinem amerikanischen Präsidenten, auch nicht Donald Trump, gleichgültig sein. Ein solcher Sieg würde sich schnell als existenzielle Bedrohung für die USA herausstellen und wäre somit eine enorme Herausforderung für jeden amerikanischen Präsidenten.

Die meisten Amerikaner sind erschüttert über die Art der Russen mit den besetzten Gebieten umzugehen. Sie finden Bombenangriffe auf Wohnblöcke, Schulen und Krankenhäuser entsetzlich. Die öffentliche Unterstützung für eine harte Linie gegenüber Russland wäre groß.

Militärisch könnten die Amerikaner den Russen zwar Paroli bieten, aber alle fürchten eine russische Eskalation, insbesondere die Bereitschaft, NATO-Staaten anzugreifen oder gar Kernwaffen einzusetzen. Die 32 NATO-Mitglieder reagieren alle etwas unterschiedlich auf diese Angst, die sie aber alle haben. Doch sich nuklear erpressen zu lassen, macht die Kriegsgefahr nur größer. Selbst wenn die Eskalationsgefahr gering bleibt, ist die Unterstützung der NATO und der Ukraine sehr kostspielig.

Wenn die Unterstützung der entfernten Verbündeten zu teuer wird, ist es nachvollziehbar, dass die Amerikaner an einen Rückzug denken. Seitdem die Amerikaner sich für die Sicherheit Europas interessieren, besteht der Wunsch, dass die Europäer mehr für ihre eigene Sicherheit tun. Die Debatte über die Lastenverteilung ist ein Dauerbrenner der NATO. Ohne den starken Einsatz der Europäer ist es für jeden amerikanischen Präsidenten schwierig, innenpolitische Unterstützung für europäische Verpflichtungen zu bekommen. Mit der Ukraine ist es nicht anders.

Man kann von einem Dilemma der Hegemonie sprechen. Bleibt man als Garant vor Ort, nutzen einen die Einheimischen aus und streiten untereinander, anstatt sich zu einigen und gemeinsam militärisch etwas auf die Beine zu stellen. Geht der Hegemon weg, bricht alles in sich zusammen. In diesem Sinne unterscheiden sich Japan, Südkorea und Europa von Vietnam, Irak oder Afghanistan.

In diesem atlantischen Interessengeflecht bleiben drei Punkte stets kontrovers. Wie viel Lasten trägt und wie viel Einfluss genießt jedes Mitglied des Bündnisses? Wie viel Aufmerksamkeit widmet man den Herausforderungen Europas und wie viel dem Rest der Welt? Und schließlich: Wie viel Zuckerbrot und wie viel Peitsche? Im Bündnis bleibt die richtige Mischung aus versöhnender Diplomatie und konfrontativer Stärke stets kontrovers.

Ohne europäische Stärke bleiben die USA zwar in Europa investiert und engagiert, doch die Art und Weise wird für die Europäer – im Sinne der oben genannten Reizpunkte – nicht immer angenehm sein.

4. Wie Deutschland sich in einer amerikanischen Welt behaupten kann

Ohne deutsche Stärke gibt es keine europäische Stärke. Ohne eine deutsche Strategie zur eigenen Selbstbehauptung gibt es keine europäische Selbstbehauptung. Warten auf Europa reicht nicht mehr, denn es gibt keine europäische Führung in der Welt ohne eine deutsche.

Anders als im Kalten Krieg, als die Bundesrepublik in einem kleinen Westeuropa unter Gleichen war, ist Westeuropa heute viel größer, heterogener und exponierter. Viele Lehren aus dem Kalten Krieg gelten heute noch, aber es gibt wenige Lehren darüber, wie Deutschland in seiner neuen, dominanten Position in Europa dazu beitragen kann, das Bedrohungspotenzial Russlands auszugleichen und darüber hinaus die Welt nach seinem, nach europäischem Interesse zu gestalten. Wie kein anderer Staat des westlichen Verbunds muss Deutschland seine strategische Rolle neu definieren und sein Verständnis von Macht und deren Möglichkeiten den heutigen Gegebenheiten anpassen.

Zügig aufholen bei der Verteidigung

In vielen Bereichen muss Deutschland seine Hebelkraft erhöhen, aber in keinem ist dies so wichtig wie in der Verteidigung. Der Unterschied zwischen dem, was Deutschland 1985 und 2025 mit seinen Streitkräften machen könnte, ist dramatisch. Damals 1985 hatten 495.000 Bundeswehrsoldaten, davon die Hälfte wehrpflichtig, die im Verteidigungsfall auf 1,3 Millionen aufwachsen könnten, einen Verteidigungsetat von 3,2 Prozent des BIP. Allerdings beruhte deren Fähigkeit auf drei Jahrzehnten ähnlicher oder größerer Ausgaben. Heute müssen 184.000 Freiwillige mit 30 Jahren Unterfinanzierung fertig werden. Heute hat die Bundeswehr ca. 300 Panzer, damals 4.600. Im Jahr 2026 können die heutigen Soldatinnen und Soldaten auf einen Etat von 108,2 Milliarden Euro hoffen, was 2,5 Prozent des deutschen BIP von 2024 entspricht. xiii

Im Jahr 1985 hatte die Bundesrepublik unter Helmut Kohl viel Einfluss auf die USA unter Ronald Reagan und die Sowjetunion unter Mikail Gorbachev, auch in den Jahren danach und bei der Gestaltung der Wiedervereinigung. Die Bundesrepublik ist wichtig, aber Deutschlands Einfluss in Washington ist nicht das, was es vor 40 Jahren war. Der Verfall der Bundeswehr ist ein Grund dafür.

Die deutsche Rüstungsindustrie muss, ebenso wie die Bundeswehr, eine Rationalisierung, Aufskalierung und Modernisierung zügig anstreben. Es sind Effizienzsteigerungen in den Bereichen Beschaffung, Wartung und Weiterentwicklung möglich. Die Ukraine ist ein Paradebeispiel. Der europäische Rüstungsmarkt leidet jedoch unter einem hohen Grad an Protektionismus, ist nach Art. 346 TFEU nicht Teil des Binnenmarkts. Nur eine starke deutsche Industrie kann dem entgegenwirken. Brüssel bleibt ein Ort der kleinsten gemeinsamen Nenner. Nur mit einer deutschen Regierung, deutschem Geld und einer deutschen Rüstungsindustrie an der Spitze haben europäische Projekte die Möglichkeit, protektionistische Hindernisse zu überwinden und den Herausforderungen gewachsen zu sein. Vorschläge, Deutschland in der Rolle des „Ankerinvestors“ mit langfristiger nationaler Planung, Kapazitätsentwicklung und Kapitalmobilisierung einzusetzen, sind gute erste Ansätze. xiv

Vielleicht haben die Europäer erkannt, dass ein militärisch starkes, geeintes Europa auch im Interesse von Donald J. Trump sein kann. Wenn sie sich selbst regieren wollen, sollen Staaten sich selbst verteidigen können, und je mehr die Europäer das selbst können, desto mehr können sie künftig aus ihrer Partnerschaft mit Trumps Amerika herausholen.

Wenn die Europäer mit ihrer militärischen Stärke in Europa führen, ist die Zusammenarbeit auf beiden Seiten des Atlantiks einfacher. Wenn sie ihre Verteidigungshaushalte erhöhen und ihre Streitkräfte so aufstellen, dass diese im Ernstfall an der NATO-Ostflanke oder sogar in der Ukraine verlegt werden können, ist es wahrscheinlicher, dass Donald Trumps Amerika sich an der Sicherung des europäischen und ukrainischen Friedens beteiligt.

Die Selbstverteidigungsfähigkeit der Ukraine ist der Grundstein für die Selbstverteidigungsfähigkeit Europas. Die Organisationen, Doktrinen und Technologien der ukrainischen Streitkräfte sind die neuen Bausteine der europäischen Verteidigung. Die Fähigkeit zur Erfüllung spezifischen militärischen Rollen und Aufgaben ist notwendiger und politisch leichter zu vermitteln als abstrakte Prozentzahlen. Vorerst geht es darum, die militärischen Optionen der Russen zu blockieren. In der Fähigkeit zur konventionellen Selbstverteidigung erhöhen die Europäer die nukleare Schwelle und machen für die Amerikaner die nukleare Garantie weniger gefährlich.

Nichts ist derzeit wichtiger, als die Wehrhaftigkeit Deutschlands schnell und deutlich zu erhöhen. Denn Deutschland bildet aktuell eine große Lücke in der NATO-Verteidigungslinie von Norwegen bis zur Türkei. Diese Lücke muss zügig geschlossen werden, denn nur Deutschland als das reichste und bevölkerungsreichste Land Europas kann als Schlüsselstein der europäischen Verteidigung dienen.

Wirtschaftswachstum wieder erbringen

Allerdings – ohne ein höheres Wirtschaftswachstum ist alles für Deutschland viel schwieriger. Die deutsche Wirtschaft wuchs um 1,5% in den letzten fünf Jahren, die amerikanische um 6,5%. Wirtschaftspolitik bedeutet heute mehr als nur Sozial- oder Standortpolitik. Wirtschaftspolitik ist zuallererst Sicherheitspolitik. Ohne eine schneller wachsende Wirtschaft wird Deutschland weder auf Washington noch auf Moskau mehr Einfluss ausüben können.

Der Schwerpunkt auf Infrastruktur zu setzen, ist ein guter Anfang. Die NATO betrachtet Infrastruktur als Teil der Verteidigungsfähigkeit und addiert die Ausgaben für Verteidigung (3,5 % des BIP) und Infrastruktur (1,5 %), um das vereinbarte Ziel von 5 % zu erreichen. Ähnliches gilt für das deutsche Infrastrukturpaket in Höhe von 500 Milliarden Euro, das sich ebenfalls mit sicherheitspolitischen Argumenten rechtfertigen lässt. Dass Deutschland die Investitionen erhöhen, die Regulierungen reduzieren und die Weiterbildung fördern soll, ist eine Binse. xv Dass die strategische Handlungsfähigkeit Deutschlands ohne diese Maßnahmen verloren geht, ist den meisten jedoch weniger bekannt.

Die Geldpolitik muss auch sicherheitspolitisch betrachtet werden. Deutschland spart zu viel und investiert zu wenig. Ein Leistungsbilanzdefizit von sechs Prozent deutet darauf hin, denn das ist in etwa der Unterschied zwischen dem, was in Deutschland gespart und dem, was investiert wird. Deutschlands finanzielles Saatgut sitzt nicht nur auf dem Girokonto, sondern wird auch ins Ausland, etwa in die USA, geschickt und dort gewinnbringend angelegt, statt im Inland zu bleiben. xvi

Das Gleiche gilt auf europäischer Ebene. Wie im Draghi-Bericht zu lesen ist, leidet Europa unter Unterinvestition. Europäische Ersparnisse werden nicht in Europa investiert. Bisher darf die Europäische Investitionsbank (EIB) nicht in Munition- und Waffenproduktion investieren. Von einer Investment and Savings Union bis hin zu EU-Verteidigungsanleihen können die EU-Mitglieder Geld in Europas Verteidigungsfähigkeit noch viel effizienter investieren. In der Handelspolitik könnte Europa von einer weiteren Liberalisierung des Binnenmarktes viel mehr profitieren als von einer weiteren Zollreduktion über den Atlantik. xvii In Zeiten des Krieges sollten die Partikularinteressen, die einer weiteren Öffnung des europäischen Binnen- und Finanzmarktes im Wege stehen, anders betrachtet und behandelt werden.

Demokratie festigen

Um sich zu behaupten und seinen Einfluss zu stärken, muss Deutschland seine Demokratie im Inneren festigen. Demokratie war nie einfach, sie balanciert immer auf Messers Schneide, nämlich zwischen Tyrannei und Anarchie. Die beschleunigte Modernisierung scheint dies noch schwieriger zu machen. Einheit in der Vielfalt, Orientierung in der Verwirrung, Agilität in der Standhaftigkeit – Deutschland braucht wegweisende Geschichten wie noch nie zuvor. Es gilt, das Alte zu nutzen, um mit dem Neuen fertig zu werden. Tür an Tür, Nachbarschaft an Nachbarschaft, solidarisch, wehrhaft, fortschrittsdenkend. Für die Kindeskinder. Eine starke, in sich geeinte und zukunftsorientierte deutsche Demokratie fördert die europäische Demokratie, erleichtert die Partnerschaft mit Amerika und macht die Abwehr von Sicherheitsgefahren effektiver.

5. Pax Atlantica – Wichtiger als je zuvor

Die Nachkriegsordnung ist heute noch bestimmend. Zwar verändert sich vieles, doch die Konturen unserer Welt sind nach wie vor von Interessen und Institutionen geprägt, die sich in den ersten Jahren der Nachkriegszeit herausgebildet haben. Dazu gehören die amerikanische Hegemonie samt Bündnissen und dem Dollar; Russland und China als euroasiatische Bedrohungen; der globale Kernwaffenkrieg als existenzielle Gefahr und die Entkolonialisierung als blutende Wunde.

Donald Trumps Amerika stellt Deutschland und Europa vor viele neue Herausforderungen. Aber selbst er kann die bestehenden Machtverhältnisse und Besitzstände nicht einfach wegwünschen. Auch für Trumps Amerika bleibt Frieden, Freiheit und Wohlstand bei den weniger Vereinigten Staaten von Europa letztendlich so wichtig wie nichts anderes. Amerikanische Interessen und Investitionen in Europa hängen miteinander zusammen und ruhen auf einem gemeinsamen Wertefundament. Das Ringen um die transatlantische Lastenteilung bleibt ebenfalls eine Konstante.

Neu ist Deutschlands Position im transatlantischen Geflecht. Anders als im Kalten Krieg ist Deutschland in Europa heute primus inter pares. Anders als in den drei Jahrzehnten des Friedens nach dem Mauerfall ist Europa heute einer Kriegsgefahr ausgesetzt wie selten zuvor. Wenn Deutschland sich dieser neuen Rolle stellt, wird die transatlantische Partnerschaft leichter zu gestalten sein. Mit deutscher Macht geht auch europäische Macht einher, und selbst Trumps Amerika kann nicht leugnen, welche Vorteile ein verteidigungsfähiges, wohlhabendes und demokratisch selbstregiertes Europa für Amerika birgt.

Die Zukunft eines sich selbst behauptenden Europas beginnt in der Ukraine. Durch die erfolgreiche Abwehr des russischen Angriffs entsteht der erste Baustein eines schlagkräftigen, sich selbst verteidigenden und global wirkenden europäischen Staatenbundes. So entsteht dort auch der militärische Kern einer neuen transatlantischen Geschäftsgrundlage.

Die transatlantische Partnerschaft bleibt wichtig wie kein anderer. Die gemeinsamen Interessen und Institutionen, und die Erfolge, die daraus entstanden sind, sprechen dafür, dass diese Zusammenarbeit auch in Zukunft von großem Wert sein wird.

Achtzig Jahre nach Kriegsende gibt es genügend Gründe, optimistisch zu sein: Diese Partnerschaft wird den Herausforderungen der Zukunft gewachsen sein. Denn in den letzten 80 Jahren wurde Erstaunliches geleistet – wer hätte damals von dem heutigen Frieden, der Freiheit und dem Wohlstand träumen können? In den Gestaltungsmöglichkeiten dieses Verbunds liegen auch die Gründe für Zuversicht: Die Herausforderungen der Zukunft können gemeistert werden. Die Hoffnungen auf eine Pax Humana ruhen auf den Erfolgen der Pax Atlantica.

i Ranked: The Top 6 Economies by Share of Global GDP (1980−2024)

ii Michael Beckley, The Stagnant Order And the End of Rising Powers, Foreign Affairs, Nov. 2025

iii Hal Brands, The Eurasian Century, Hot Wars, Cold Wars and the Making of the Modern World, 2025.

iv Lawrence Freedman, Jeffrey Michaels, The Evolution of Nuclear Strategy, 2019.

v Robert Kaplan, Wasteland – A World in Permanent Crisis, 2025.

vii Jonathan Karl, Retribution: Donald Trump and the Campaign That Changed America, 2025.

viii The Transatlantic Economy 2025, American Chamber of Commerce, 2025.

ix Wissenschaftler fordern Parteien zur schnellen Einigung über Verteidigungsausgaben auf, Augen Gerade Aus, März 2025

x Will Big Beautiful’ Defense Spending Last?, Council on Foreign Relations, 2025.

xi Where Are U.S. Forces Deployed in Europe? Council on Foreign Relations, 2025.

xii Trump Administration Increases Nuclear Weapons Budget, Arms Control Today, Arms Control

xiii Verteidigung — Gesetzentwurf — hib 360/2025, Etat 2026: Verteidigungsausgaben von 108 Millliarden Euro, 22.08.2025

xiv Eine neue Strategie für Verteidigungswirtschaft, Technologieführerschaft und Wachstum, Nico Lange, René Obermann, Joachim von Sandrart, Moritz Schularick, 05. November 2025

xv Wolfgang Monschau, Kaputt. Das Ende des deutschen Wirtschaftswunders, 2025.

xvi German Balance of Payments in 2024, Bundesbank, March 2025.

xvii Regional Economic Outlook Europe 2024, International Monetary Fund, Nov. 2024.

Ein Beitrag von:

Dr. Andrew B. Denison

Direktor von Transatlantic Networks

Dr. Andrew B. Denison promovierte an der Nitze School of Advanced International Studies der Johns Hopkins Universität in Washington D.C., seinen Magister machte er an der Universität Hamburg und seinen “Bachelor of Arts” an der University of Wyoming. Der überzeugte Transatlantiker Andrew Denison, aufgewachsen und tief verwurzelt im Cowboystaat Wyoming, ist passionierter Fahrradfahrer und Bergwanderer, Ehemann und Vater zweier Söhne. Er wirkt seit über 15 Jahren regelmäßig als Kommentator und Experte in Funk und Fernsehen mit und ist Gast in Talkshows wie Presseclub (ARD), Internationaler Frühschoppen (Phoenix), Quergefragt (SWR), Hart aber fair (WDR), Talk in Berlin (n-tv), Talk vor Mitternacht (NDR), Phoenix Runde, Morgenmagazin (ARD/ZDF), Talk im Hangar 7 (servus tv), DeutschlandRadio Kultur, NDR Info, Maybrit Illner (ZDF) und Anne Will (ARD).

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