Deutsche Atlantische Gesellschaft e.V.

Die Nato nach der Norderweiterung

Die Nato hat gerade ihr 75. Jubiläum in ihrer Gründungsstadt Washington, D.C., gefeiert. Die Bilanz fällt gemischt aus: der Beschluss Finnlands und Schwedens, als Reaktion auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine die Nato-Mitgliedschaft zu beantragen, hat die Relevanz des Bündnisses bestätigt. Weitere Mitgliedskandidaten stehen an und die Mitgliedschaft der Ukraine wird für die einzig ausreichende Sicherheitsgarantie gegen künftige russische Aggression gehalten. Auch indo-pazifische Partnerländer wie Japan, Südkorea, Neuseeland und Australien suchen eine engere Zusammenarbeit mit der Nato.

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Gleichzeitig besteht die Herausforderung für ein Bündnis mehr oder weniger demokratischer Staaten, dass die interne Verfasstheit der Mitglieder die Handlungsfähigkeit der Nato beeinflusst. Der Elefant im Raum beim Gipfeltreffen in Washington waren die anstehenden Präsidentschaftswahlen in den USA, die seit der ersten Amtszeit Donald Trumps 2016–2020 alle vier Jahre in Europa für tiefe Verunsicherung sorgen. Bleiben die USA weiterhin der Verteidigung Europas verpflichtet, egal wer im Weißen Haus sitzt? Donald Trump hat bereits in seiner ersten Amtszeit eine starke Abneigung gegenüber dem transatlantischen Bündnis an den Tag gelegt und machte Anfang des Jahres 2024 Schlagzeilen mit seiner Aussage, als Präsident würde er nur diejenigen Bündnispartner verteidigen, die das 2%-Verteidigungsausgabenziel erfüllen. Solche Bedingungen an die kollektive Verteidigungsverpflichtung der Nato zu knüpfen kann die Glaubwürdigkeit der erweiterten Abschreckung schwächen, die die USA ihren Bündnispartnern bietet und im Wesentlichen die Basis der Artikel 5‑Sicherheitsgarantie der Nato darstellt. Andererseits haben Deutschland und die USA am Rande des Gipfels angekündigt, dass ab 2026 in Deutschland bodengestützte amerikanische Mittelstreckenwaffen stationiert werden. Das ist ein Signal von langfristigem amerikanischem Commitment in Europa.

Aufgrund der politischen Unsicherheitsfaktoren war der Fokus des Gipfeltreffens stark auf technische Fortschritte gerichtet. Statt Versprechen bezüglich der zeitlichen Perspektive des ukrainischen Nato-Beitritts, über die Beschreibung des „unumkehrbaren Pfads“ (irreversible path) der Ukraine zur Nato hinaus, wurden im separaten „Pledge of Long-Term Security Assistance for Ukraine“ am Ende der Abschlusserklärung aus Washington Punkte mit konkreten Maßnahmen zur Unterstützung der Ukraine dargelegt. Diese beinhalten eine Zusage, 2025 der Ukraine Unterstützung im Mindestmaß von ca. €40 Milliarden zu gewähren und ein Monitoringsystem innerhalb der Nato zu etablieren, wodurch die Proportionalität der Unterstützung im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung der Mitgliedstaaten bewertet wird. Zwei weitere wichtige Ankündigungen waren die Initiativen NATO Security Assistance and Training for Ukraine (NSATU) in Wiesbaden, Deutschland, durch die die Nato die Koordinierung der militärischen Unterstützung und Logistik für die Ukraine übernimmt, sowie das NATO-Ukraine Joint Analysis, Training and Education Centre (JATEC) in Bydgoszcz, Polen. Durch die Übernahme einer größeren Koordinierungsrolle soll die Nato-Integration der Ukraine technisch voranschreiten, auch wenn zurzeit politisch keine Einigung über eine konkrete Beitrittsperspektive erreicht werden kann.

Die neue Nordflanke der Nato

Zu Recht hat die Nato-Perspektive der Ukraine und ihre weitere Unterstützung durch das Bündnis die meiste Aufmerksamkeit beim Gipfeltreffen erhalten. Auch aus der Perspektive der neuesten Mitgliedländer Finnland und Schweden ist das Schicksal der Ukraine eine äußerste Priorität. Beide haben sich klar dafür geäußert, dass die Ukraine in das Bündnis aufgenommen wird. Das Prinzip der offenen Tür der Nato hat für Finnland und Schweden einen zügigen Beitritt in einer brenzligen Lage ermöglicht, weshalb die neuen Mitglieder selbstverständlich das Prinzip stark befürworten. Womöglich wäre der Beitritt Finnland und Schwedens auch gar nicht erst möglich gewesen, hätte die Ukraine nicht gegen den russischen Angriff standgehalten.

Gleichzeitig finden innerhalb der Nato große Änderungen und Entwicklungen statt, die von technischerer Natur sind und deshalb weniger mediale Aufmerksamkeit erhalten – außer in Finnland, wo die Frage der Zuordnung innerhalb der Nato-Befehlsstruktur ein heißes Thema in den Medien geworden ist. Es ist zwar entschieden worden, dass alle nordischen Länder unter dem Joint Force Command (JFC) Norfolk zusammenkommen, sobald das JFC Norfolk die nötige Kapazität aufgebaut hat. Die Zuordnung der nordischen Länder zum JFC Norfolk, das die transatlantische Verbindung über die Seewege herstellt, wertet die Nordflanke innerhalb der Verteidigungsplanung und in den neuen regionalen Verteidigungsplänen der Nato auf. Gleichzeitig sind die genaueren Details des Arrangements noch unklar – die baltischen Staaten und Deutschland haben sich der Idee gegenüber skeptisch gezeigt, dass die Trennlinie zwischen den JFCs Norfolk und Brunssum durch die Ostsee verlaufen würde. Die jüngste der vielen schlechten Lösungsvorschlägen beinhaltete die Idee, dass die strategisch gelegenen Ostseeinseln Åland, Gotland und Bornholm unter Brunssum seien, während Festland-Finnland, ‑Schweden und ‑Dänemark zum JFC Norfolk gehören würden. Allein schon aufgrund der Verpflichtung Finnlands, die autonome und demilitarisierte Åland-Inselgruppe zu verteidigen, ist das ein denkbar  schwierig umsetzbarer Vorschlag.

Dank der engen, langjährigen Verteidigungszusammenarbeit zwischen den nordischen Ländern entwickelt sich die Nordflanke der Nato momentan sehr dynamisch. Im Rahmen der minilateralen Verteidigungszusammenarbeit NORDEFCO (Nordic Defence Cooperation) haben die nordischen Länder im April 2024 eine gemeinsame NORDEFCO Vision 2030 veröffentlicht, die das durch den Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens erhöhte Ambitionsniveau darlegt. Später im Jahr 2024 soll darauf ein gemeinsames militärisches Konzept folgen, das die Verteidigungsintegration an der Nordflanke weiter voranbringt – und das Bündnis stärker macht. Deshalb ist es wichtig, dass die nordische Zusammenarbeit nicht durch die Nato-Befehlsstruktur behindert wird.

Die Nato-Politik Finnlands nimmt Gestalt an

Selbst bei zwei so Nato-kompatiblen Ländern wie Finnland und Schweden, die durch enge Zusammenarbeit mit dem Bündnis über Jahrzehnte bereits vor dem Beitritt Interoperabilität auf einem hohen Niveau erreicht hatten, ist der Integrationsprozess als Vollmitglied dennoch kein einfaches Plug-In. Insbesondere Finnland hat ein sehr spezielles Verteidigungssystem, das auf Wehrpflicht und einer großen Reserve basiert und stark auf nationale Landesverteidigung ausgerichtet ist. Die Nato-Mitgliedschaft hat dabei unter anderem rechtliche Fragen über den Einsatz von Reservist:innen aufgeworfen. Andererseits mangelt es an Berufsoffizieren, die in die Nato-Strukturen entsandt werden können.

Wenn Finnland noch beim ersten Gipfeltreffen als Vollmitglied in Vilnius hauptsächlich ein Anliegen auf der Agenda hatte, und zwar Schwedens schnellstmöglichen Beitritt, war dieses Jahr die Kennenlern-Phase mit dem Bündnis offensichtlich vorbei. Im Laufe des ersten Jahres als Bündnismitglied hat Finnlands Nato-Politik bereits einen wichtigen Wandel durchlaufen: die Einschätzung lautete gleich nach dem Beitritt, dass Nato-Truppenpräsenz á la Baltikum nicht in Finnland notwendig sei, aufgrund der eigenen Truppenstärke (280 000 im Kriegsfall und 870 000 Gesamtreserve). Jetzt sind Finnlands Ziele in der Nato aber an die sich weiter verschlechternde Sicherheitslage angepasst worden. Dementsprechend wurde es in der Abschlusserklärung des Washingtoner Gipfels angekündigt, dass in Finnland das neunte sogenannte Forward Land Force-Kontingent der Nato etabliert wird. Darüber hinaus soll in Finnland ein Land Component Command, ein Landstreitkräftekommando, für die gesamte nordische Region etabliert werden. Ein weiterer wichtiger Schritt für Finnland war die am Rande des Gipfels unterzeichnete Absichtserklärung zwischen Finnland, Kanada und den USA über Zusammenarbeit im Bereich der Eisbrecher, der sogenannte „ICE Pact“. Zusammen mit Deutschland und vier weiteren regionalen Bündnispartnern (Schweden, Dänemark, Norwegen und Polen) hat Finnland außerdem Kooperation im Bereich der Seeminen vereinbart – ein Gebiet, in dem Finnland sowohl kriegsführungstechnisch als auch industriell besondere Expertise aufweist.

Für die Implementierung der neuen regionalen Verteidigungspläne der Nato, die bereits im Frühjahr im Großmanöver Steadfast Defender auch im neuen Bündnisgebiet in Finnland und Schweden geübt wurden, ist Schwedens Beitritt von essenzieller Bedeutung. Ähnlich wie Deutschland für Kontinentaleuropa, stellt Schweden ebenfalls eine Drehscheibe in Nordeuropa dar und fungiert als Bindeglied zwischen dem Hohen Norden und der südlichen Ostsee. Für Nato-Logistik und Stationierung von Gerät sowie Truppenbewegungen wird Schweden deshalb eine wichtige Rolle spielen. Im typisch schwedischen Stil haben die schwedischen Verteidigungskräfte zwar bereits im Jahr 2022 angefangen, sich Gedanken über Schwedens Beitrag und Ambitionsniveau zu machen, aber letztendlich konnte auch Schwedens Integrationsprozess erst nach dem Beitritt vollauf beginnen. Im Bereich der Verteidigungsplanung finden viele Prozesse im Geheimen statt, denn die Lage ist ernst. Finnland und Schweden haben dabei die Möglichkeiten der Nato, ihre Mitglieder effektiv vor Angriffen zu verteidigen, wesentlich verbessert – wie auch in der Gipfel-Abschlusserklärung in Washington anerkannt wird: „The historic accession of Finland and Sweden makes them safer and our Alliance stronger, including in the High North and the Baltic Sea.“

Ein Beitrag von:

Minna Ålander

Research Fellow, Finnish Institute of International Affairs & Non-resident Fellow, CEPA

Minna Ålander ist Research Fellow beim Finnish Institute of International Affairs (FIIA) in Helsinki und Non-resident Fellow beim Center for European Policy Analysis (CEPA) in Washington, D.C Ihre Forschungsschwerpunkte sind die NATO, Sicherheit in Nordeuropa, nordische Verteidigungszusammenarbeit, arktische Sicherheit sowie die deutsche und finnische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Zuvor arbeitete Minna Ålander bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Sie hat einen gemeinsamen Master-Abschluss in Internationalen Beziehungen von der Freien Universität Berlin, der Humboldt-Universität zu Berlin und der Universität Potsdam.

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