Deutsche Atlantische Gesellschaft e.V.

Russland: Kriegsziele, Kriegswille und Kriegsfähigkeit

Ausgabe 50: Dr. Christina Catherine Krause

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Die Zeit der Ambivalenz ist vorbei. Die sicherheitspolitische Lage klar. Seit dem 24. Februar 2022 wissen wir, dass Russland nicht Teil der europäischen Sicherheitsarchitektur sein will. Dieser Weg der Integration Russlands wurde lange im Rahmen von multinationalen Organisationen wie UN, OSZE und G8 wie auch durch umfangreiche bilaterale Initiativen verfolgt. Der Ausgleich sicherheitspolitischer Interessen wurde mit der NATO-Russland-Grundakte sowie dem regelmäßig tagenden NATO-Russland-Rat – beide von 1997 – intensiv gesucht. Die Achtung von Souveränität, Unabhängigkeit und territorialer Unversehrtheit aller Staaten war ein Kernbestand der Grundakte. Konfliktvermeidung und Rüstungskontrollen sowie ein koordiniertes Vorgehen bei globalen sicherheitspolitischen Herausforderungen standen zudem im Vordergrund. Alle Formen der Zusammenarbeit vom Weltraum bis zur Arktis, die Sicherheit, Nachhaltigkeit, Anpassungsfähigkeit, Innovationskraft und letztlich Wohlstand für die Bevölkerungen kreieren sollten, wurden am 24. Februar 2022 zerstört. Bereits eine Woche zuvor, am 17. Februar 2022, hatte Außenminister Lawrow, das Ende der Gespräche im NATO-Russland-Rat erklärt. Mittlerweile ist klar: Russland überzieht nicht nur die Ukraine mit einem brutalen verbrecherischen Krieg, es bedroht auch EU und NATO.

Offiziell gab die Russische Föderation im vergangenen Jahr 5,86-Prozent des Bruttoinlandsproduktes, ca. 109,5 Mrd. US-Dollar, für sein Militär aus. 2024 ist der Ansatz auf über 6‑Prozent des BIP, etwa ein Drittel des Staatshaushaltes, gestiegen. Da ein Teil des Haushaltes geheim ist, müssten die reellen Ausgaben allerdings um einiges höher liegen. Aus staatlichen Statistiken geht zudem hervor, dass Russland 2024 über 1,32 Millionen Soldaten – und damit nach China, Indien und den USA – über die viertstärkste Truppe der Welt verfügt. Neben der Bereitstellung der Finanzen und der Vorhaltung des großen Personalkörpers läuft die Kriegswirtschaft mittlerweile – trotz Sanktionen – auf Hochtouren. Denn die russische Wirtschaft hat aktuell nur ein Ziel: dem Krieg zum Sieg zu verhelfen. Dafür wurden schon vor zwanzig Jahren die Weichen gestellt, als der militärisch-industrielle Komplex wieder unter die Kontrolle des Staates gestellt wurde.

Bereits vor dem 24. Februar 2022 gab es für die Kriegsziele und den Kriegswillen viele Anzeichen. So hat Präsident Putin kein Hehl daraus gemacht, dass er den sowjetischen Einflussraum für die Russische Föderation beansprucht. Beispielsweise in seiner Rede von 2007 bei der Münchner Sicherheitskonferenz hat er den Machtanspruch Russlands formuliert, der Unipolaren Welt unter US-Führung den Kampf erklärt und die NATO-Osterweiterung kritisiert. Dass Vladimir Putin nicht zulässt, dass sich Georgien oder die Ukraine näher an EU und NATO binden und eigene strategischen Ziele verfolgen, haben der Georgienkrieg von 2008, die Ereignisse um den ukrainischen „Euromaidan“ von 2013 und 2014, die Annexion der Krim sowie der 24. Februar 2022 gezeigt. Der Wille Putins zu Umsturz, Destabilisierung und politischer Einflussnahme in souveränen Staaten wird auch in der Republik Moldau deutlich: hier gab es nach dem 24. Februar 2022 zwei Versuche, die demokratisch gewählte Regierung durch ein Marionetten-Régime von Moskaus Gnaden zu ersetzen – erfolglos. An den Umsturzversuchen beteiligt waren Staatsangehörige aus Russland, Montenegro, Serbien und Belarus. Seither erlebt der kleine Staat am Rande der EU eine massive und umfassende hybride Kriegsführung durch Russland. Der Würgegriff Moskaus hat außerdem einen Demokratisierungsprozess in Belarus verhindert.

International baut Russland seinen Einfluss ebenfalls weiter aus. Der Aggressionskrieg in der Ukraine wird zwar von der überragenden Mehrheit der UN-Staaten verurteilt, aber die Sanktionsumgehungen gelingen durch den Schulterschluss mit China, Iran und Nordkorea, durch die Zusammenarbeit im Rahmen der BRICS sowie der „Shanghai Organisation für Zusammenarbeit“ (SOZ). Außerdem hat Russland seit dem Februar 2022 seinen Einfluss in Westafrika ausgebaut. Hier zeigt sich die Wagner-Miliz – nunmehr das sogenannte Afrikakorps – als gefügiges Instrument. In Lateinamerika verfängt das Narrativ Russlands: der Westen/ die NATO werden als Aggressoren gesehen.

Im Westen gehen Angriffe und gezielte Tötungen gegen Oppositionelle – wie in London und Berlin – die massive Zunahme von Desinformation, Manipulation, Spionage, Sabotage und Cyberangriffen auf das Konto des Kremls. Finanziell und politisch werden Extremisten unterstützt und eine neue Elite herangezogen, die dafür bezahlt wird, im Sinne Moskaus zu agieren. Seit dem vollumfassenden Angriffskrieg auf die Ukraine haben die Übergriffe nochmals zugenommen. Russland gefährdet mit seinem aggressiven Handeln so auch die innere Sicherheit Deutschlands. Thomas Haldenwang, Präsident des Verfassungsschutzes, nannte Berlin bereits 2020 (und seither wiederholt) Spionagehauptstadt und warnte vor den Aktivitäten Russlands. Ausweisungen von vermeintlichen Agenten stellen nur die Spitze des Eisberges dar. Zuletzt verdeutlichten die Festnahme zweier Deutschrussen, die Anschläge vorbereitet haben sollen, der Brandanschlag auf das Berliner Rüstungsunternehmen Diehl sowie ein vereitelter Mordanschlag auf den Vorstandsvorsitzenden von Rheinmetall, Armin Papperger, die Gefahrenlage.

Als ehemaligem KGB-Agenten wird Präsident Putin eine starke Verbindung zu den russischen Geheimdiensten nachgesagt – zum Militär ist die Verbindung weniger innig. Aktuell erfolgen, neben militärischen Reformen, Erneuerungsprozesse auch in den drei großen Diensten der Russischen Föderation: dem Inlandsgeheimdienst, FSB, dem militärischen Geheimdienst, GRU und dem Auslandsgeheimdienst, SVR. Die Grenzen verschwimmen dabei immer mehr. Russland ist kriegswillig und investiert stark in seine Kriegsfähigkeit. Seit dem 24. Februar 2024 wird daher auch eine Zeitenwende für die deutschen Nachrichtendienste gefordert – bislang ohne Erfolg.

Aus der Bedrohung durch Russland sind folgende Schlüsse zu ziehen:

Die Unterstützung der Ukraine (finanziell, humanitär und militärisch) ist erforderlich und dringend. Entlang der Bedürfnisse (Munition) und Fähigkeitslücken (u.a. in der Luftverteidigung) müssen EU und NATO-Staaten für raschen und zuverlässigen Nachschub sorgen. Ferner gilt ein großes Augenmerk auf Moldau sowie die Lagen in Georgien und Belarus.

Die Zeitenwende der NATO hat – vor allem in den Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes – bereits 2014 angefangen. In den Staaten der NATO-Ostflanke ist die Sorge vor einem Angriff Russlands groß. Mit den Beschlüssen von Madrid, Vilnius und Washington D.C. wurden verteidigungspolitische Ziele gesetzt und Pläne geschaffen, die nun umgesetzt werden müssen. Dazu gehören nicht nur das Erreichen und Beibehalten des Mindestziels von zwei Prozent des BIP für Verteidigungsausgaben, sondern auch umfassende personelle, strukturelle wie infrastrukturelle Reformen. Äußere- und innere Sicherheit müssen dabei gemeinsam geschützt werden.

Die Wahlen in den USA im November werden nicht ohne Auswirkung auf die NATO sein. Die USA verfügen über Schlüsselfähigkeiten, deren Erwerb nicht einfach oder sogar erstrebenswert erscheint. Mit der Stationierung von weitreichenden US-Präzisionswaffen ab 2026 wird in  Deutschland eine Fähigkeitslücke geschlossen. Dies kann nur begrüßt werden. Insgesamt wird das US-Engagement in Europa jedoch zugunsten des Indopazifiks abnehmen. Durch engere Kooperation, Koordination und Lastenteilung müssen die Europäer daher selbständiger werden. Das bedeutet nicht weniger, sondern mehr transatlantisch zu denken und handeln.

Russland wird bis auf weiteres seine Kriegsziele verfolgen und auf Kriegswillen und Kriegsfähigkeit setzen. Eine baldige Rückkehr Russlands zur regelbasierten internationalen Ordnung ist kaum zu erwarten. Angesichts der vielfältigen Bedrohungen durch Moskau muss mehr und nachhaltig in Deutschlands Verteidigungsfähigkeit investiert werden.

Ein Beitrag von:

Dr. Christina Catherine Krause

Leiterin der Abteilung internationale Politik und Sicherheit der Konrad-Adenauer-Stiftung
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Dr. Nicolas Fescharek

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