Deutsche Atlantische Gesellschaft e.V.

„Die Zukunft der NATO hängt wesentlich davon ab, dass Deutschland der strategischen Herausforderung unserer Zeit gerecht wird“

Mit diesem Appell eröffnete Botschafter Boris Ruge, Beigeordneter Generalsekretär der NATO für politische Angelegenheiten und Sicherheitspolitik, den NATO Talk 2025 im Hotel Adlon Kempinski Berlin. In seiner Keynote forderte er mehr strategische Weitsicht und europäische Eigenverantwortung. 

Mit freundlicher Genehmigung des Autors veröffentlichen wir an dieser Stelle die Keynote-Rede. Es gilt das gesprochene Wort.


Lieber Christian Schmidt,
Lieber Heiner Brauß,
Lieber Rolf Wagner,
Sehr geehrte Damen und Herren,

Sie haben eben den NATO-Generalsekretär, Mark Rutte, gehört. Und ich könnte mich natürlich jetzt auf den Standpunkt stellen: Roma locuta, causa finita. Mit anderen Worten: der Chef hat gesprochen, die Sache ist erledigt. Aber tatsächlich schulde ich der Deutschen Atlantischen Gesellschaft einen Vortrag, und zwar schon deswegen, weil ich in den Jahren meiner DAG-Mitgliedschaft stets durch Abwesenheit geglänzt habe.

Als erstes daher herzlichen Dank für die Ehre, heute zu Ihnen sprechen zu dürfen.

Vorweg folgende Anmerkung: Seit ich 1989 in den Auswärtigen Dienst eingetreten bin, sind  Sicherheitspolitik und transatlantische Beziehungen das Hauptthema meiner Laufbahn. Ich bin jetzt als Beigeordneter Generalsekretär das dritte Mal für die NATO tätig. Und diese Tätigkeit im Internationalen Stab ist für mich nicht bloß eine „Verwendung“ (wie man in der deutschen Verwaltung sagt) sondern Herzenssache.

Meine Abteilung PASP (Political Affairs & Security Policy) ist mit ihren 100 Mitarbeitern eine NATO im Kleinen. Die Arbeit mit diesen Kolleginnen und Kollegen aus mehr als 25 Nationen macht große Freude.

Noch eine Anmerkung zum Tod von Klaus Scharioth. Er war natürlich als „Director Private Office“ die rechte Hand von Generalsekretär Manfred Wörner. Und als Politischer Direktor und Staatssekretär des AA war er für mich Vorbild und Mentor. Mein Mitgefühl gilt seiner Familie.

Wenn man heute über die sicherheitspolitische Lage Deutschlands und Europas spricht, muss Ausgangspunkt die Feststellung sein: die Lage ist ernst.

Bemerkenswert ist, dass viele Menschen in Deutschland genau das erfasst haben. Das ist an Umfragewerten deutlich abzulesen. Die Zustimmung zur NATO liegt in diesem Jahr bei einem Rekordwert von 73% der Befragten.

Lange Zeit wurde die NATO in Deutschland nicht gar so hoch gehandelt. Die deutsche Politik war zwar Verfechterin des Multilateralismus, aber damit waren v.a. die Vereinten Nationen und die Europäische Union gemeint. Die NATO war bei uns ein bischen das „Schmuddel-Kind“ des Multilateralismus. Das ist glücklicherweise heute nicht mehr der Fall.

Die DAG spielt eine wichtige Rolle in der Kommunikation dessen, wofür die NATO steht. Die heutige Veranstaltung ist nur ein Beispiel von vielen. Für diesen Beitrag sind wir Ihnen zu Dank verpflichtet.

Bevor wir uns der gegenwärtigen strategischen Lage zuwenden, ist es ratsam, einen Schritt zurückzugehen und sich mit der Vorgeschichte zu befassen, v.a. mit Russland und der deutschen Sicht auf Russland.

Es ist kaum überraschend, dass nach den Schrecken des von Nazi-Deutschland ausgelösten Weltkriegs und nach der friedlichen, von der Sowjetunion mit ermöglichten Vereinigung Deutschlands im Jahre 1990 die große Mehrzahl unserer Landsleute den Wunsch nach einem normalen, konstruktiven Verhältnis zu Russland hatten.

Dieser Wunsch war nicht nur verständlich. Er war anständig und ehrenwert. Allerdings blendeten viele aus, dass Russland durchaus nicht deckungsgleich ist mit der Sowjetunion, und dass die Opfer des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges nicht nur Russen sondern auch Ukrainer und Weißrussen und andere Nationalitäten umfasste, und natürlich auch zahllose Bürger derjenigen Staaten, die das Unglück hatten, geographisch zwischen Hitler-Deutschland und der Sowjetunion Stalins zu liegen.

Erschwerend kam hinzu, dass die russische Politik von den 2000ern an einen zunehmend problematischen Kurs einschlug und dass der Wunsch nach konstruktiven Beziehungen in Moskau immer weniger einen Gegenpart fand.

Anders gesagt: Der zunehmend aggressive und imperiale Charakter der russischen Politik unter Wladimir Putin wurde zu wenig und zu spät wahrgenommen.

Die Wegmarken sind bekannt: Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz von 2007, der Angriff auf Georgien 2008, die erste Invasion der Ukraine 2014, schließlich die »fullscale invasion« 2022.

Als jemand, der sich lange mit dem Mittleren Osten beschäftigt hat, würde ich hinzufügen den Einsatz der russischen Luftwaffe in Syrien ab 2015, der reichlich Anschauungsmaterial für die russische Form der Kriegsführung bot, inklusive systematischer Angriffe auf Krankenhäuser und andere humanitäre Einrichtungen in Oppositionsgebieten unter völliger Missachtung des humanitären Völkerrechts.

Nun wird häufig eingewandt, dass der Westen, v.a. die NATO, russische sicherheitspolitische Interessen nicht ausreichend beachtet habe und dass insbesondere die NATO-Erweiterung für Russland inakzeptabel gewesen sei. Und richtig ist natürlich, dass Sicherheitspolitik stets auch Perzeptionen der anderen Seite einbeziehen muss.

Lange Zeit hatte Moskau allerdings keine Einwände gegen die NATO-Erweiterung. Russland akzeptierte 1990 in der Charta von Paris und 1997 in der NATO-Russland-Grundakte das Prinzip, dass Staaten das Recht haben, „ihre sicherheitspolitischen Dispositionen frei zu treffen“ bzw. „die Mittel zur Gewährleistung ihrer eigenen Sicherheit selbst zu wählen.“

Und natürlich ging die NATO-Erweiterung, deren erster Schritt 1999 erfolgte, einher mit einem Wandel der NATO in Richtung kooperative Sicherheit und vor allem mit dem Angebot einer privilegierten Partnerschaft zwischen der NATO und Russland. Die Basis dafür war die bereits genannte NATO-Russland-Grundakte von 1997 und die Rom-Erklärung von 2002.  

Diese Partnerschaft ging weit über die Angebote hinaus, die das Bündnis anderen Drittstaaten machte. Soll heißen: Es gab ab den späten 90ern eine wirklich bemerkenswerte partnerschaftliche und konstruktive Zusammenarbeit zwischen der NATO und Russland.

Und auch nach der ersten russischen Invasion der Ukraine im Jahre 2014 war die Reaktion der NATO eine ausgesprochen moderate:

Die praktische Zusammenarbeit mit Russland wurde suspendiert, aber der Dialog im NATO-Russland-Rat lief weiter. Beim Gipfel von Wales im Jahr 2014 einigten sich die Mitglieder der Allianz zwar auf eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf 2% über einen Zeitraum von zehn Jahren. Tatsächlich ließen sich zahlreiche Bündnispartner aber viel Zeit mit der Einlösung dieser Zusagen, auch und gerade Deutschland.

Gleichzeitig versuchten Deutschland und Frankreich im sogenannten Normandie-Format Lösungen für den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine zu finden.

Und der 2019 gewählte ukrainische Präsident Selenskyj trat sein Amt mit der erklärten Zielsetzung an, den Krieg in der Ost-Ukraine zu einem Ende zu bringen.

Ungeachtet all dessen brach Putin 2022 den größten Krieg in Europa seit 1945 vom Zaun. Trotz aller Bemühungen, die Invasion abzuwenden, inklusive zahlreicher hochrangiger Besuche in Moskau und einer letzten Sitzung des NATO-Russland-Rats noch im Januar 2022.

Mit anderen Worten:

  • Es war Russland, das ohne Grund einen Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Ukraine initiierte und damit die elementarsten Normen der VN-Charta verletzte.
  • Es war Russland, das die Konfrontation mit dem Westen wählte.
  • Es war Russland, das sich bewusst gegen die privilegierte Partnerschaft mit der NATO entschied.

Und es waren die russische Aggression und der Versuch Moskaus, die sicherheitspolitische Ausrichtung benachbarter Staaten zu diktieren, die Finnland und Schweden dazu bewegten, Mitglieder der Allianz zu werden (im Falle Schwedens nach mehr als 200 Jahren der Neutralität).

Man kommt nicht umhin zu konstatieren:

Wunschdenken in Bezug auf Russland, nicht zuletzt hier in Deutschland, stand einer realistischen Sicherheitspolitik im Wege und führte zu schwerwiegenden Versäumnissen, die bis heute nachwirken.

Nur vor dem Hintergrund des erneuten russischen Angriffs auf die Ukraine ist zu verstehen, warum die NATO im Strategischen Konzept von 2022 Russland zur Hauptbedrohung erklärte (während Russland im Strategischen Konzept von 2010 noch Partner war). Zitat:

„Die Russische Föderation ist die größte und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Verbündeten und für Frieden und Stabilität im euro-atlantischen Raum. Sie versucht, über Zwang, Subversion, Aggression und Annexion Einflussbereiche zu schaffen und unmittelbare Kontrolle zu erlangen.“

Ich hoffe, Sie sehen mir nach, dass ich etwas ausgeholt habe.

Das war mir aus drei Gründen wichtig:

- Erstens ist ohne den Blick zurück die aktuelle strategische Lage nicht zu verstehen.

- Zweitens geht es darum, einem falschen Narrativ entgegenzutreten, wonach die NATO für Russlands Krieg gegen die Ukraine verantwortlich sei und wonach der Westen grundlos einen Rüstungswettlauf mit Russland begonnen habe.

- Drittens kommt es darauf an, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und es in der Zukunft besser zu machen. Das bedeutet vor allem, die sicherheitspolitische Realität zur Kenntnis zu nehmen, in der wir uns befinden.

Das führt uns zum Hier und Jetzt und zur strategischen Lage, der wir uns gegenübersehen.

Putins imperialer Krieg gegen die Ukraine hat bereits Hunderttausende das Leben gekostet, aber ein Ende ist nicht absehbar. Russland versucht weiterhin, die Ukraine in einem Abnutzungskrieg niederzuringen. Russland unterscheidet dabei nicht zwischen zivilen und militärischen Zielen. Es nimmt auch keinerlei Rücksicht auf die eigenen Soldaten, die Woche um Woche zu Tausenden für geringfügige Geländegewinne geopfert werden.

Russlands Kriegsziele sind unverändert die Eroberung großer Teile der Ukraine aber vor allem die Sicherstellung russischer Dominanz über die Ukraine. Putin hat sämtliche Versuche von Präsident Trump konterkariert, einen Waffenstillstand oder gar eine Beilegung des Konflikts zu vereinbaren.

Der russische Staat, Russlands Wirtschaft und Gesellschaft sind heute komplett darauf ausgerichtet, den Krieg zu gewinnen und die Existenz der Ukraine als unabhängiger und souveräner Staat zu beenden.

Aber damit nicht genug: Moskau baut zielstrebig seine Rüstungsindustrie und seine Streitkräfte auf, um Macht zu projizieren, auch über die Ukraine hinaus. Dazu kommt eine aggressive Rhetorik gegenüber der NATO, einschließlich der Drohung mit dem Einsatz von Nuklearwaffen. Teil des Bildes ist schließlich eine umfassende hybride Kampagne Russlands gegen NATO-Staaten, mit dem Ziel die Unterstützung der Ukraine zu unterminieren, innenpolitische Spannungen zu verschärfen und die Allianz auseinanderzudividieren.

Beim Haager Gipfel im Juni dieses Jahres haben die Staats- und Regierungschefs festgehalten, dass Russland noch auf lange Zeit eine Bedrohung der euro-atlantischen Sicherheit darstellen wird.

Anders gesagt: Auch wenn der Krieg in der Ukraine enden sollte, auch wenn es eine neue Führung in Moskau gäbe, würde die Bedrohung durch Russland andauern.

Die zweite im Strategischen Konzept genannte Bedrohung, der Terrorismus, wird derzeit häufig übergangen. Der Terrorismus bleibt aber eine akute Bedrohung und ist, wie wir aus Erfahrung wissen, ein Phänomen, das in Zyklen auftritt und dessen Auswirkungen keinesfalls zu unterschätzen sind.

China ist im Strategischen Konzept von 2022 nicht als Bedrohung sondern als „Herausforderung“ eingestuft: Dort heisst es, Zitat:

„Die von der Volksrepublik China erklärten Ziele und ihre Politik des Zwangs stellen unsere Interessen, unsere Sicherheit und unsere Werte vor Herausforderungen.“ 

In der Erklärung des Washingtoner Gipfels vom Juli 2024 wird China als „entscheidender Befähiger von Russlands Krieg gegen die Ukraine“ bezeichnet.

Verglichen mit 2022 hat die Herausforderung durch China keinesfalls abgenommen. Dabei geht es auch um den Aufbau der chinesischen Streitkräfte, v.a. der Marine, der Luftwaffe und der sogen. Raketenstreitkräfte, und zwar in einem Umfang und einem Tempo, wie es die Welt mindestens seit 1945 nicht erlebt hat.

Für die NATO ist zunächst einmal zur Kenntnis zu nehmen, dass China in den vergangenen Jahrzehnten einen historisch einmaligen Aufstieg durchlaufen hat. Chinas wirtschaftliche, technologische, militärische und politische Machtstellung ist eine Tatsache.

Die NATO wird weiterhin ihre Interessen gegenüber China zu wahren suchen. Aber das 2022 gemachte Angebot des Dialogs mit Peking gilt weiterhin, auf der Grundlage gegenseitigen Respekts.

Für die Vereinigten Staaten bedeutet der Machtzuwachs Chinas, dass Washington dem Indo-Pazifik mehr Aufmerksamkeit schenken und Ressourcen dorthin verlagern muss.

Unsere Sicherheit und unsere Interessen werden auch bedroht durch Konflikte und Instabilität in Nah-/Mittelost, dem Maghreb und in der Sahel-Region. Die NATO hat darauf 2024 mit einem „Aktionsplan für die Südliche Nachbarschaft“ reagiert.

Im Norden ist die Arktis zu einem Schauplatz geopolitischer Rivalität geworden. Die althergebrachte Feststellung „High North, low tension“ hat ihre Geltung verloren. Deswegen muss die NATO sich jetzt intensiv mit dieser Region befassen.

Neben Land, See, Luft und Cyber entwickelt sich auch der Weltraum zu einer militärischen Domäne, und zwar einer, in der China und Russland uns den Rang ablaufen könnten.

Gleichzeitig hat die Bedeutung von Nuklearwaffen zugenommen, nicht zuletzt wegen Modernisierung und Aufbau des russischen Atom-Arsenals und der enormen Investitionen Pekings, die letztlich darauf zielen, China zu einer Nuklearmacht auf Augenhöhe mit den USA und Russland zu machen.

Wie geht die NATO mit dieser Lage um? Die Antwort findet sich in der Erklärung des Gipfels von Den Haag. Ein kurzer Text von nur einer Seite, der es aber in sich hat.

Der erste Absatz der Erklärung enthält ein „unverbrüchliches Bekenntnis zur kollektiven Verteidigung, wie es in Art. 5 des Nordatlantikvertrags niedergelegt ist – dass ein Angriff auf einen ein Angriff auf alle ist.“

Angesichts einer angespannten Sicherheitslage und angesichts von Fragen über die künftige Richtung der amerikanischen Politik war dies ein wichtiges Signal, dass die Allianz zusammensteht.

Was den Gipfel zu einem historischen Ereignis machte, waren allerdings nicht diese Worte sondern war vielmehr die Einigung auf ein neues Ausgabenziel.

„Historisch“ ist natürlich ein inflationär genutztes Adjektiv. Diplomaten und Politiker sprechen selten von „gescheiterten“ Gipfeltreffen.

Die Einigung auf ein neues Ziel von zusammengenommen 5% des BSP für Sicherheit und Verteidigung ist aber tatsächlich historisch und transformativ.

Mark Rutte hat das als das Erreichen einer seit Jahrzehnten von den USA geforderten, aber nie eingelösten „Equalization“, also eines Ausgleichs, bezeichnet.

Man könnte auch von einer „Rekalibrierung“ sprechen, die dafür sorgt, dass über einen Zeitraum von 10 Jahren Europäer und Kanadier vergleichbar stark in die eigene Sicherheit und Verteidigung investieren, wie es die USA über das gesamte Bestehen der NATO hinweg getan haben.

Wie die Nationen das Jahr für Jahr umsetzen, ist ihre eigene, souveräne Entscheidung. Aber alle Nationen haben sich neben den Fähigkeitszielen aus dem Verteidigungsplanungsprozess nunmehr auch auf diese Ausgabenziele verpflichtet. Es gibt keine „Opt-outs“, keine Ausnahmen.

Und anders als im Falle des 2014er Gipfels von Wales schreitet bei vielen Alliierten bereits jetzt die Umsetzung voran. Das gilt nicht nur für Polen und die baltischen Staaten. Gerade Deutschland ist hier Vorbild und Taktgeber für andere Alliierte.

Damit haben die Staats- und Regierungschefs im Haag ein starkes Signal der Entschlossenheit an Moskau gesandt.

Vielleicht noch wichtiger: Die Staats- und Regierungschefs haben gezeigt, dass sie in der Lage waren, gemeinsam eine Richtungsentscheidung zu treffen. Und zwar eine, die nicht nur eine gerechte Lastenteilung beinhaltet sondern auch sicherstellt, dass die USA ihr Engagement in der Allianz aufrechterhalten.

Neben Verteidigungsausgaben ging es beim Haager Gipfel auch um die Stärkung der Rüstungsindustrie in Europa und Nordamerika, ohne die wir unsere Streitkräfte nicht ausreichend ausstatten können. Auch dies ein Hauptthema, aber eines, zu dem ich als Nichtexperte nicht gar so viel beitragen kann.

Ich will stattdessen das dritte Hauptthema des Gipfels hervorheben, nämlich die Ukraine.

In der Gipfelerklärung findet sich folgende Passage, Zitat:

„Die Verbündeten bekräftigen ihre dauerhaften einzelstaatlichen Zusagen zur Unterstützung der Ukraine, deren Sicherheit zu unserer Sicherheit beiträgt, und werden zu diesem Zweck direkte Beiträge für die Verteidigung der Ukraine und ihre Verteidigungsindustrie bei der Berechnung der Verteidigungsausgaben der Verbündeten einkalkulieren.“

Die deutsche Fassung bewegt sich vielleicht nicht auf dem allerhöchsten sprachlichen Niveau, aber hier werden mehrere wichtige Grundsätze festgehalten:

  • Die Sicherheit der Ukraine ist auf das Engste mit der Sicherheit der Allianz verbunden.
  • Der Beitrag der Ukraine zur Gewährleistung unserer Sicherheit wird anerkannt.
  • Ausgaben für die Verteidigung der Ukraine und für die Rüstungsindustrie der Ukraine sind anrechenbar auf die entsprechenden Ausgaben der Verbündeten unter dem neuen Haager Ausgabenziel.

Dieser Aspekt des Gipfels wurde in seiner Bedeutung vielerorts nicht gleich erkannt, ist aber außerordentlich wichtig.

Es geht darum, im Hier und Jetzt der Ukraine in ihrem Abwehrkampf beizustehen. Und es geht darum, ihr für die Zeit nach einem Waffenstillstand oder einer Beendigung des Krieges die nötige Unterstützung zu gewähren, damit ihre Streitkräfte künftig Russland abschrecken und sich notfalls erneut verteidigen können.

Natürlich gibt es auch die Planungen der „Koalition der Willigen“ und Gespräche über Sicherheitsgarantien. Aber letztlich kommt es auf die Stärke der ukrainischen Streitkräfte an.

Auch bei der militärischen Unterstützung der Ukraine zeigt die Bundesregierung Führung, u.a. durch die umfassende Finanzierung von Luftverteidigungssystemen sowie von dringend benötigtem US-Gerät im Rahmen der „Prioritized Ukraine Requirements List“ (PURL). Diese Unterstützungsleistungen sind überlebenswichtig für die Ukraine. Sie finden im Bündnis hohe Anerkennung.

Noch eine weitere Anmerkung zu Den Haag: Am Rande des Gipfels gab Premierminister Starmer bekannt, dass Großbritannien F‑35 Flugzeuge beschaffen werde, um in die nukleare Teilhabe der NATO einzusteigen. Die britische Regierung bezeichnete dies als bedeutendste Verstärkung der britischen „nuclear posture“ seit Jahrzehnten. Großbritannien fügt damit seinen seegestützten nuklearen Fähigkeiten eine weitere luftgestützte Kategorie hinzu.

Das ist ein Hinweis darauf, dass das Thema der nuklearen Abschreckung an Aktualität gewonnen hat. Wir mögen das bedauern, aber wir kommen nicht umhin uns mit dem Nuklear-Thema zu befassen. Dazu gehören aus Sicht der NATO natürlich auch Mechanismen der Rüstungskontrolle, zumindest im Sinne der Risikoverminderung und der Sicherstellung strategischer Stabilität.

Es ist in der NATO Konsens, dass die EU im Bereich Sicherheit und Verteidigung eine Rolle spielen kann und muss.

Die Europäische Kommission und der Europäische Auswärtige Dienst haben kürzlich mit der „Defence Readiness Roadmap 2030“ ein Verteidigungs-Programm vorgelegt.

Unzweifelhaft hat die EU eine wichtige Rolle bei der Generierung von Ressourcen für die Streitkräfte der EU-Mitgliedstaaten und für die Verteidigung der Ukraine.

Die EU wird mit ihrem umfassenden Instrumentarium bei der Stärkung der europäischen Rüstungsindustrie eine Schlüsselrolle spielen und wird dies auch in Bereichen wie der „militärischen Mobilität“ tun.

Klar ist aber auch: Die vereinbarte Arbeitsteilung zwischen EU und NATO, wonach die NATO der alleinige Rahmen für kollektive Verteidigung ist, muss bestehen bleiben. Entsprechend muss die Allianz auch weiterhin auch das ausschlaggebende Forum für die Verteidigungsplanung sein.

Denn ohne die USA, die Türkei, Großbritannien, Norwegen und die übrigen „non-EU Allies“ bringt EU-Europa schlicht nicht genügend militärische Fähigkeiten auf die Waagschale.

Was jedoch gebraucht wird, ist eine NATO, in der Europäer und Kanadier bereit und in der Lage sind, einen großen Teil der Last für die konventionelle Verteidigung Europas zu übernehmen. Diesen Weg haben wir mit dem Haager Gipfel eingeschlagen.

Darüber hinaus hat jetzt eine Diskussion über den sogenannten „europäischen Pfeiler der NATO“ Fahrt aufgenommen. Diesen Begriff gibt es schon seit Jahrzehnten, auch in Dokumenten der NATO.

Wir sind weit davon entfernt, Einigkeit darüber zu haben, wohin genau die Reise gehen soll. Aber auch europäische Verbündete, die nicht der EU angehören, denken jetzt darüber nach, wie ein „europäischer Pfeiler“ beschaffen sein könnte.

In der französischen „Nationalen Strategischen Überprüfung“, der „Revue Nationale Strategique“, vom Juli dieses Jahres findet sich dazu folgende Aussage:

»Frankreich … wird eine treibende Kraft für eine starke und glaubwürdige europäische Säule des Bündnisses sein (sprich: der NATO). Die Stärkung desselben mithilfe der europäischen Institutionen und der europäischen Staaten ist unerlässlich, um die Auswirkungen eines geringeren amerikanischen Engagements abzufedern und gleichzeitig die Sicherheit des Kontinents zu wahren.«

Und beim Treffen der NATO-Verteidigungsminister vor wenigen Wochen brachte Secretary Hegseth den Begriff einer „European-led NATO“ in die Debatte ein, meines Wissens das erste Mal, dass eine US-Regierung diesen Begriff verwendet.

Gemeinsam ist diesen verschiedenen Aussagen die Erkenntnis, dass Europa mehr Verantwortung übernehmen muss. Aber keinesfalls im Sinne einer Verengung auf die EU, und ohne in irgendeiner Weise die NATO als transatlantisches Bündnis in Frage zu stellen.

Was bedeutet das alles für Deutschland?

Wir sind, nicht zuletzt durch die Versäumnisse der Vergangenheit in Zugzwang und unter Zeitdruck. Der Nachholbedarf im Bereich der Bundeswehr ist enorm.

Gleichzeitig gilt: Deutschland hat es in der Hand die Herausforderungen zu bewältigen.

Die Bundesregierung hat schon im Vorfeld des Haager Gipfels eine Führungsrolle eingenommen. Seit Jahren ist Deutschland bereits der wichtigste europäische Unterstützer der Ukraine.

Und die Bevölkerung in Deutschland, ich sagte es eingangs, hat in ihrer Mehrheit verstanden, was die Stunde geschlagen hat, und dass Sicherheit und Verteidigung hohe Priorität eingeräumt werden muss.

Klar ist auch, dass die Transformation der NATO ohne deutsche Führung nicht gelingen kann. 

Als internationaler Beamter darf man sich selten etwas wünschen. Und schon gar nicht von seinen Arbeitgebern, den Mitgliedstaaten des Bündnisses.

Aber wenn ich eine Wunschliste für Deutschland aufstellen dürfte, wäre sie wie folgt:

  • Die komplexe sicherheitspolitische Lage ohne Scheuklappen zur Kenntnis nehmen und reflektieren;
  • Im Dialog mit der Bevölkerung das Bewusstsein für Krisen- und Konfliktszenarien schärfen (wofür Schweden und Finnland Vorbild sein können);
  • die Verteidigungsausgaben weiterhin kontinuierlich erhöhen;
  • die Bundeswehr so schnell wie möglich zum Rückgrat der konventionellen Verteidigung in Mitteleuropa ausbauen;
  • die Kapazität der deutschen (und europäischen) Rüstungsindustrie ausweiten;
  • die notwendigen Anstrengungen zu unternehmen, um die deutsche Wirtschaft und unsere technologische Basis zu verstärken, damit wir nicht (noch weiter) zurückfallen.
  • mit Blick auf mögliche Krisen- und Konfliktszenarien die Handlungsfähigkeit des Staates sicherstellen (wobei der jetzt ins Leben gerufene Nationale Sicherheitsrat eine wichtige Rolle spielen kann).

Ohne Übertreibung ist festzuhalten: Die Zukunft der NATO hängt wesentlich davon ab, dass Deutschland der strategischen Herausforderung unserer Zeit gerecht wird.

Noch einmal herzlichen Dank der DAG für die Einladung.

Und vielen Dank für Ihre Geduld und Ihre Aufmerksamkeit.

Ein Beitrag von:

Botschafter Boris Ruge

Beigeordneter Generalsekretär für politische Angelegenheiten und Sicherheitspolitik, NATO

Boris Ruge ist seit 2023 Beigeordneter Generalsekretär der NATO für politische Angelegenheiten und Sicherheitspolitik. Nach einem Studium der Geschichte an der Universität zu Köln und der University of North Carolina at Chapel Hill sowie einem Diplom in internationalen Beziehungen am Bologna Center der Johns Hopkins University trat er 1989 in den Auswärtigen Dienst ein. Sein Schwerpunkt liegt auf Sicherheits- und Stabilitätspolitik.

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