Der neue Koalitionsvertrag formuliert in Bezug auf die Zukunft Europas ambitionierte Ziele. Die Rede ist von einem „verfassunggebenden Konvent“, welcher die EU zu einem “föderalen europäischen Bundesstaat“ weiterentwickeln soll; zudem soll die Einstimmigkeitsregel im EU-Ministerrat in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) durch Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit ersetzt werden.
Eine Bekräftigung des EU-Projektes ist in der Tat essentiell – denn die EU bleibt, gemeinsam mit der NATO, die beste Chance, den Frieden in Europa zu bewahren. Doch zur Lösung für die aktuellen Herausforderungen der EU insbesondere in Osteuropa taugen diese Ankündigungen nicht viel. Ein EU-Verteidigungsgipfel im März 2022, die geplante europäische Interventionsfähigkeit im Rahmen des Strategic Compass und Schritte hin zu mehr europäischen Fähigkeiten seit 2017 zeigen zwar in die richtige Richtung. Doch wie EU-Ratspräsident Charles Michel unlängst wieder feststellte, wird noch viel Zeit verstreichen, bis es eine europäische Armee gibt, und das hat damit zu tun, dass die oben genannten Maßnahmen das fundamentale Problem der EU nicht lösen: Sie ist, solange sie kein Staat ist, in ihren Außenbeziehungen zu leicht auseinander zu dividieren, denn zu leicht ist es für den türkischen Präsidenten, die marokkanische Führung oder auch Putin und Lukaschenko, mit zynisch missbrauchten Flüchtlingen die EU in ein orchestriertes Chaos zu schicken. In ihrer jetzigen Form bleibt die GASP weit unter ihren Möglichkeiten. Denn die Differenzen der nationalen und strategischen Kulturen Europas sind viel zu groß, als dass seine Staaten im Konsens Außenpolitik machen könnten.
Die Beispiele sind vielfältig. Während die polnische Regierung angesichts der belarussisch-polnischen Flüchtlingskrise im Herbst 2021 – einem Konflikt ohne Waffen und ohne aufeinander schießende Gegner – sofort von einem „hybriden Krieg“ sprach, tut man sich in vielen anderen EU-Mitgliedstaaten aus guten historischen Gründen schwer mit diesem Vokabular. Dies zeigt, dass schon die Sprache der Verteidigungspolitik von Land zu Land höchst unterschiedlich benutzt wird. Nur ein wahrer EU-Föderalstaat mit klaren politischen Hierarchien könnte dieser Kakophonie der strategischen Kulturen, diesem Aufeinanderprallen von gesinnungsethischen und verantwortungsethischen Außenpolitiken, langfristig ein Ende bereiten. Doch die Krise, die notwendig wäre, damit alle 27 Mitgliedstaaten der EU bereit wären, in einem föderalen Staat aufzugehen, will niemand sich auch nur vorstellen, und sie steht zurzeit auch nicht zu erwarten. Der Koalitionsvertrag bewegt sich daher mit der oben genannten Forderung nach einem „föderalen europäischen Bundesstaat“ durchaus im Bereich der politischen Science-Fiction.
Nun ist die NATO zwar ebenso wie die GASP ein Konstrukt, das auf Konsens beruht. Aber in Ersterer gibt es einen unstrittigen politisch-materiellen Anführer. Den anderen Mitgliedstaaten fällt die Aufgabe zu, dafür zu sorgen, dass die politische Einheit des NATO-Bündnisses als das erkannt wird, was sie ist: Das Rückgrat des Westens. Und deswegen ist es kein politischer Luxus, den sich Deutschland in der jetzigen historischen Phase leistet, wenn es das 2 % Ziel der NATO erfüllt oder sich an der „verstärkten Vornepräsenz“ der NATO in Estland, Litauen, Lettland und Polen beteiligt. Im Gegenteil ist politische und militärische Einheit in der NATO das größte Kapital, welches Europa in seinen Außenbeziehungen hat, solange seine Mitgliedstaaten weiterhin so uneins über die finalité der EU sind.
Denn es gilt zu verstehen, dass die Herausforderung, vor die Putin Europa stellt, vor allem eine psychologischpolitische, und nicht nur eine militärische ist. Nehmen wir das Baltikum: In der Gegend um den sogenannten Suwalki-Korridor, das dünne Landstück, welches das Baltikum mit Polen verbindet und im Westen von der russischen Exklave Kaliningrad und im Osten von Belarus eingezwängt ist, hat sich Putin einen „signifikanten RaumZeit-Kräfte-Vorteil gegenüber Verstärkungskräften der NATO“ verschafft, wie Heiner Brauß es in einer kürzlich bei der Deutschen Atlantischen Gesellschaft erschienenen Publikation ausdrückt. Präsident Putin könnte einen Teil des Baltikums besetzen, um russische Staatsbürger zu schützen (so geschehen 2008 in Georgien und 2014 in der Ukraine) und dies mit Cyber-Attacken und nuklearen Drohungen flankieren, um die USA zum Aufgeben und die NATO zur Untätigkeit zu veranlassen. Ohne einen langen Krieg könnte er so einen immensen strategischen Erfolg erzielen: Die Aushebelung von Artikel 5 der NATO und die offizielle Entzauberung von Artikel 42.7 der EU, welcher die EU-Mitgliedstaaten zwar verpflichtet, im Falle eines „bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats” Unterstützung zu leisten, die militärische Dimension dieser Unterstützung aber nicht spezifiziert. Die Folge wäre eine massive psychologische Destabilisierung des europäischen Projektes, weit schlimmer als der Brexit. Deswegen gilt es auch in Deutschland zu verstehen, dass die NATO kein Luxus ist und das 2%-Ziel kein Prestige-Projekt der Eliten. Vielmehr ist es die Bedingung zur Handlungsfähigkeit einer Allianz, die sich solange vor allem auf gegenseitige Schutzzusagen stützen muss, wie es eben keinen „europäischen Föderalstaat“ gibt.
Annalena Baerbock sollte sich in ihrer neuen Rolle als Außenministern daher durchaus dafür einsetzen, dass die Handlungsfähigkeit der EU gestärkt wird, denn die EU hat nichts an ihrer Zentralität für den Frieden in Europa eingebüßt. Sie sollte dabei aber der Versuchung widerstehen, die EU rhetorisch zu überladen und die Hoffnung nähren, ein europäischer Föderalstaat könne nun das Problem lösen. Es ist unschön, das auszusprechen, aber ein „verfassungsgebender Konvent“, würde in der jetzigen Situation, in der Ungarn sich vom gemeinsamen Projekt verabschiedet hat und Polen mit dem Gedanken eines faktischen „Polexits“ flirtet, die EU sehr starken Spannungen aussetzen. Vielmehr sollte sich die Außenministerin darauf konzentrieren, eine funktionierende europäische Staatenfront zusammenzubringen, die Sanktionen gegen Moskau und Minsk gemeinsam implementiert, auch militärische Hilfe für den ukrainischen Widerstand in Betracht zieht und gleichzeitig mehr tut, um den dringend benötigten sicherheitspolitischen Dialog mit Russland wieder aufleben zu lassen.
Die Koalitionäre sollten anerkennen, dass sich an der politischen Uneinigkeit der EU-Außenpolitik so schnell nichts ändern wird, weil einige EU-Staaten schlicht dagegen sind: Da es paradoxalerweise Einstimmigkeit braucht, um die Einstimmigkeit abzuschaffen, ist das Mehrheitsprinzip in der EU-Außenpolitik nach den Worten Josep Borrells in naher Zukunft nicht wahrscheinlich. Daher gilt es, in den EU-Außenbeziehungen nicht so sehr auf Supranationalität zu setzen, sondern auf die zwischenstaatliche Ebene: Im Bündnis mit den USA – zwischenstaatlich und im Rahmen der EU – und in kluger Abwägung polnischer, französischer und vieler weiterer Interessen muss das politische Führungsproblem der EU zumindest soweit überbrückt werden, dass die EU in dieser westlich-russischen Zuspitzung nicht noch tiefer gespalten wird. Das ist im Kern die Frage, die Putin mit seinen hybriden Taktiken an Europa stellt: Was ist Eure Union wert, wenn es hart auf hart kommt? War die EU am Ende nur dazu da, den Wohlstand zu mehren? Diese provokanten Fragen reflexhaft mit dem „europäischen Föderalstaat“ zu beantworten wird nicht reichen.