Deutsche Atlantische Gesellschaft e.V.

Ausgabe 11: Werner Sonne

Atombomben für Polen?

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Völlig überraschend kam es zwar nicht, aber jetzt ist es auch ganz offiziell: Polen möchte Atombomben auf seinem Territorium. Jaroslaw Kaczynski, der Vize-Regierungschef und als Vorsitzender der regierenden nationalkonservativen PIS-Partei der eigentliche starke Mann in der polnischen Politik, sagte es, in der WELT AM SONNTAG ganz besonders an die Adresse der Deutschen gerichtet, so: „Wenn die Amerikaner uns bitten würden, US-Atomwaffen in Polen einzulagern, so wären wir dafür aufgeschlossen. Es würde die Abschreckung gegenüber Moskau deutlich verstärken“.

Doch was würde das bedeuten? Sollte die NATO sich das wirklich wünschen? Der eigentliche Kern des Artikels 5, des Beistandsversprechens der Allianz, ist die nukleare Abschreckung durch die Amerikaner. Das weiß man natürlich auch in Warschau ganz genau. Das in den Zeiten eines bislang als unvorstellbar geglaubten Krieges in Europa zu betonen, macht deutlich, wie brisant dieser polnische Wunsch in Wahrheit ist. Denn die Stationierung zusätzlicher amerikanischer Atomsprengköpfe in der direkten Nähe der russischen Enklave Kaliningrad und den neuen besten Freunden Moskaus in Belarus würde nicht nur eine abschreckende Wirkung entfalten, sondern zu einer Proliferation von Atomwaffen führen und die nukleare Eskalationsschraube ein Stück weiter nach oben drehen. Bisher hat die NATO diese Waffen bewusst weiter entfernt im Westen gelagert, um klar zu signalisieren, dass sie nicht in einer frühen Phase eines Krieges eingesetzt würden und nicht unmittelbar Moskau oder Petersburg erreichen können. Bei einer ‚Vornestationierung‘ in Polen wäre dies anders, zumindest würde dies in Moskau als offensiver Akt und als nukleare Kriegsführungsoption verstanden. Und das würde vermutlich Konsequenzen haben: Die Stationierung von weiteren nuklearfähigen Iskander in Kaliningrad und auch in Belarus wie auch von Kampfflugzeug-Geschwadern, die im Kriegsfall als allererstes die NATO-Atomwaffen und ihre Trägerwaffen, die Kommandozentralen und Führungseinrichtungen angreifen würden – sofort.

Eine Vornestationierung würde die Glaubwürdigkeit der Abschreckung also nicht erhöhen. Im Gegenteil, es würde auf russischer Seite zur Aufrüstung führen, und im Krieg Polen sofort zum Ziel von massiven russischen Schlägen machen. Vornestationierung hätte also einen dramatischen Destabilisierungseffekt und würde die Sicherheit Polens effektiv vermindern, nicht erhöhen.

Sicherlich: Man kann durchaus darauf verweisen, dass es Putins Russland ist, welches das Spiel mit dem nuklearen Feuer angeheizt hat. Und das nicht erst seit dem Krieg gegen die Ukraine. Seit Jahren schon vergeht kein ZapadGroßmanöver ohne nukleare Einlagen und ohne den tatsächlichen Abschuss von nuklearwaffenfähigen Raketen. Und Wladimir Putin hat sich noch am Wochenende vor der Invasion der Ukraine demonstrativ sozusagen zum Oberbefehlshaber eines solchen Manövers gemacht, bei dem die atomare Komponente ganz besonders betont wurde. Die Botschaft war schon dabei unüberhörbar: Russland ist zum Einsatz von Nuklearwaffen bereit und in der Lage. Als dann der Krieg begann, wurde auch noch die atomare Bereitschaftsstufe für die Streitkräfte erhöht.

Dazu hatte Russland schon Jahre zuvor den historischen INF-Abrüstungsvertrag für Mittelstreckenraketen in der Praxis beendet. Die Entwicklung und 2017 die Stationierung der SSC-8-Raketen mit über 2000 Kilometern Reichweite war der vorsätzlich eingeleitete Bruch dieses Vertrages, aus dem die Amerikaner als Reaktion dann formal ausstiegen. Auch die 

Stationierung von Iskander-Waffensystemen in Kaliningrad mit einer Reichweite bis vor die Tore von Berlin war eine überdeutliche atomare Drohgebärde.

In Russland gibt es also längst wieder eine atomare Bedrohung durch landgestützte Mittelstreckenraketen, die ganz Europa erreichen können. Auf Seiten der NATO gibt es bislang auf dem Kontinent in Europa dagegen keine einzige Rakete, auch keine mit konventionellen Sprengköpfen.

Die russische Nukleardoktrin schließt einen Einsatz von Atomwaffen zur Erzwingung von politischen und militärischen Zielen nicht aus. Auch wenn die meisten Experten derzeit den Gebrauch von Atomwaffen im Ukraine-Krieg für unwahrscheinlich halten, sind dies die Fakten.

Und wer die Bilder von abgeschlachteten Zivilisten durch Putins Soldaten in der Ukraine sieht, die man ebenfalls vor kurzem noch für unvorstellbar gehalten hat, der kann die Ängste verstehen, die es gerade in den osteuropäischen Nachbarstaaten auch vor der atomaren Drohung aus Moskau gibt. Polens jahrelanges Drängen auf US- Atomwaffen auf dem eigenen Territorium muss man jetzt erst recht verstehen. Haben nicht diejenigen recht, die immer schon gesagt haben, Wladimir Putin verstehe nur eine klare Sprache der militärischen Stärke? Zeigt sich nicht gerade jetzt, wie sehr man dies in der Vergangenheit versäumt hat? Und wie brutal und rücksichtslos Putin vorgeht?

Und dennoch: Die NATO sollte dem nicht nachgeben. Seit dem ersten Abwurf von Atomwaffen in Hiroshima und Nagasaki ist es bisher gelungen, auch in den gefährlichsten Zeiten des Kalten Krieges eine erneuten Atomschlag zu verhindern, wohl wissend, welche Gefahr auch ein begrenzter nuklearer Einsatz haben könnte.

Die Gefahr einer nuklearen Eskalation im Kriegsfall muss unbedingt verhindert werden. Denn das würde das Heranrücken von Atomwaffen auf beiden Seiten in Osteuropa ohne Zweifel bedeuten. Und das könnte auch den Appetit bei weiteren potentiellen Atommächten vor allem im Mittleren Osten deutlich anheizen, nun ebenfalls endgültig nach Atomwaffen zu streben. Kandidaten dafür sind zahlreich.

Damit keine Missverständnisse entstehen: Die nukleare Abschreckung muss ohne Wenn und Aber erhalten bleiben, ebenso wie die nukleare Teilhabe. Wer keine Atomwaffen hat, das bekommt die Ukraine gerade besonders schmerzlich nach der Aufgabe ihres riesigen Arsenals nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion zu spüren, der ist erpressbar. Dem muss die Allianz weiter ein unübersehbares Stoppschild entgegensetzen. Hier kommt die deutsche Rolle ins Spiel. Das Herumeiern um die Ersetzung des deutschen Tornado-Trägerwaffensystems, vor allem bei den Sozialdemokraten in der Großen Koalition, für die auf deutschem Boden stationierten vermutlich 20 US-Atomwaffen war ein gewichtiger Vorwand für die Polen, diese Bomben doch lieber in ihr Land zu holen.

Erst durch Putins Ukraine-Krieg hat der SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz mit der Entscheidung für die F‑35 endgültig klare Verhältnisse geschaffen. Die Entscheidung für dieses modernste Modell, das dazu auch in vielen anderen NATO-Staaten eingeführt wird, schreibt die deutsche Teilhabe an der nuklearen Abschreckung der Allianz für viele Jahre fest. Das ist auch ein wichtiges Signal in die Richtung der übrigen NATO-Partner für die Glaubwürdigkeit des deutschen Beitrags zur nuklearen Abschreckung im Bündnis. Dazu gehört im Übrigen auch die Modernisierung der B‑61Atombomben im Eifelstädtchen Büchel, die bereits vollzogen wurde. Sie sind weit zielgenauer als das bisherige Modell.

Bei einem Verzicht auf die Stationierung der von Polen erhofften Atomwaffen entfiele auch die Sorge vor einem Bruch der Übereinkunft durch den Westen. In der NATO-Russland-Grundakte war dieser Verzicht auf die Stationierung von Atomwaffen in Osteuropa festgeschrieben worden. Kritiker wie Polens Jaroslaw Kaczynski haben ohne Zweifel recht, wenn sie sagen: „Die Nato-Grundakte ist ein totes Dokument. Russland hat schon 2008 in Georgien damit begonnen, sie zu verletzen und hat es seitdem immer wieder getan“.

Die Allianz rüstet an ihrer Ostflanke mit konventionellen Streitkräften deutlich auf. Wladimir Putin hat mit seinem Überfall auf die Ukraine dafür gesorgt, dass die NATO dies entschlossen tut. Ein nukleares Muskelspiel jedoch sollte daraus nicht werden. Letztlich werden ohnehin nur die Amerikaner entscheiden, wo sie ihre Bomben für den nuklearen Schutzschirm für ihre Verbündeten lagern wollen. „Die Initiative müsste von den Amerikanern ausgehen“, weiß auch Polens Kaczynski.

Derzeit sieht es nicht danach aus, dass sie den polnischen Wünschen nachgeben werden. Präsident Joe Biden, innenpolitisch weiter auf wackligem Grund, dürfte dafür kaum eine politische Mehrheit finden.

Ein Beitrag von:

Werner Sonne

Journalist und Autor

Werner Sonne begann seine Karriere 1964 als Zeitungsredakteur und Reporter beim Kölner Stadtanzeiger. Im Anschluss daran arbeitete er für United Press International (UPI) in Bonn, bevor er zwischen 1968 und 1981 dreizehn Jahre lang als Korrespondent für den WDR in Bonn und Washington tätig war. Im Jahr 1982 wurde Sonne Stellvertretender Chefredakteur der Landesprogramme im WDR-Fernsehen in Köln. Nach 1984 war er zwanzig Jahre lang als Korrespondent der ARD in Warschau, Bonn, Washington und zuletzt in Berlin tätig. Von 2004 bis 2012 war er Berliner Studioleiter des ARD-Morgenmagazins.

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