Deutsche Atlantische Gesellschaft e.V.

Mit 21 an der Front – Ein Erfahrungsbericht

Ausgabe 45: Malte Lauterbach

Die Veröffentlichung dieses Essays erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Bundesministeriums der Verteidigung. Die Einsendung erfolgte im Rahmen des Nachwuchspreises zum Thema „Was bedeutet die NATO für mich – heute und in der Zukunft?“ anlässlich des 70. Jahrestages des Beitritts der Bundesrepublik Deutschland zur NATO.

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Kyiv, Winter 2024: Gegen 03:00 Uhr rauschen Shahed-Drohnen über die Stadt, der Einschlag kappt Stromleitungen – Heizung, Licht und Mobilfunk fallen binnen Minuten aus. Im Hotel springt ein Dieselgenerator an; das monotone Brummen liefert gerade genug Energie für Notbeleuchtung und eine dürftige Internet­verbindung, über die Meldungen weiterer Angriffe einlaufen. In diesem Moment wird spürbar, dass Sicherheit mehr ist als ein abstrakter Begriff: Sie entscheidet, ob Krankenhäuser arbeiten, ob Nachrichten­ströme offenbleiben, ob Menschen die Nacht heil überstehen. Für mich, Jahrgang 2003 und seit zwei Jahren als Reporter in Konfliktgebieten unterwegs, steht die NATO deshalb nicht für vergangene Weltordnungen, sondern für ein kollektives Versprechen, solche Grundfunktionen zu schützen – ein Versprechen, das wir kritisch prüfen und aktiv mitgestalten müssen.

Als ich im Juli 2023 an einem polnischen Checkpoint nahe der ukrainischen Grenze auf eine Genehmigung wartete, reichten wenige Worte eines kroatischen Offiziers, um mich daran zu erinnern, dass Artikel 5 mehr ist als Paragrafensprache. Die kroatische Einheit rotierte dort im Rahmen der „Enhanced Forward Presence“, und ihr schlichtes Vorhandensein veränderte die Risikokalkulation der russischen Seite: Ein Angriff auf einen Soldaten hätte die gesamte Allianz auf den Plan gerufen.

Ein Jahr später verfolgte ich auf einer jordanischen Luftwaffenbasis mit US‑Kontingent, wie der Abschuss einer ballistischen Rakete aus dem Jemen Alarm auslöste. Nach wenigen Minuten lagen Lagebilder der NATO-Koalition vor, die das Gefahrengebiet für alle zivilen Schiffe markierten. Für mich zeigt sich hier ein doppelter Kernnutzen: kollektive Abschreckung, die Eskalationen unwahrscheinlicher macht, und ein Echtzeit-Informationsnetz, das Journalisten wie Soldaten dieselbe, geprüfte Datengrundlage bietet. Zugleich ist die NATO eine Werteplattform: Presse- und Meinungsfreiheit sind im Bündnis kodifiziert und werden eingefordert. Dass ich als 22-Jähriger Zugang zu hochrangigen Briefings habe und kritische Fragen stellen kann, ist nur möglich, weil Transparenz zur Funktionslogik der Allianz gehört. Positiv betrachte ich – zur europäischen Verteidigung zurückkehrend – die Abschreckung an der Ostflanke. Seit 2014 hat das „Baltic Air Policing“ keinen einzigen grenzüberschreitenden Vorfall in Estland, Lettland oder Litauen eskalieren lassen. Kampfflugzeuge aus Deutschland, Spanien und anderen Partnern reagieren binnen Minuten auf Luftraumverletzungen – ein sichtbares Signal, das auch die Ukraine politisch entlastet.

Denn häufig heben russische Militärflugzeuge ohne Flugplan, Transponder‑Code und Funkkontakt von Kaliningrad oder St. Petersburg ab, woraufhin die auf den baltischen Basen Šiauliai und Ämari rund um die Uhr alarmbereiten NATO‑Jets binnen Minuten starten, das Ziel visuell identifizieren und bis zum Verlassen des überwachten Luftraums begleiten. 2023 mussten die Alliierten dafür über 300‑mal aufsteigen; die meisten Einsätze über der Ostsee. Russland testet damit Reaktionszeiten, sammelt Aufklärung und demonstriert Präsenz.

Die größte Stärke der NATO ist ihre Standardisierung

Bereits der US-Navy Admiral Rickover wusste, dass die Kunst des Krieges die Kunst des logistisch Machbaren bedeutet. So lieferten während der russischen Winteroffensive 2023 alliierte A400M-Transporter medizinisches Gerät für die Ukraine. Weil Trägerfahrzeuge, Containergrößen und Schnittstellen normiert sind, konnte ukrainisches Personal das Material ohne Umschlag einsetzen, sodass Güter nicht manuell umgeladen werden müssen. So entschieden Stunden, nicht Tage über Überlebenschancen Verwundeter.

Diese Beispiele zeigen, dass die NATO nicht nur Sicherheit verspricht, sondern täglich liefert: an den Grenzen des Bündnisraums, in internationalen Koalitionen und auf den Nachschubwegen, die Leben retten. Die Stärke der NATO ist aber zugleich ihre Schwäche: Jede Entscheidung erfordert Einstimmigkeit. Als Russland im Sommer 2022 den Raum Odessa – und damit auch den Bündnispartner Rumänien – indirekt mit Marschflugkörpern bedrohte, dauerte es Monate, bis sich alle Mitglieder auf eine kombinierte Luftverteidigungsr­otation einigten; in dieser Zeit blieb die Hafen­infrastruktur ungeschützt.

Zweites Problem: Burden Sharing. Zwar hat sich bei der vielkritisierten Lastenteilung seit dem Washington‑Gipfel 2024 spürbar etwas getan: Nach NATO‑Angaben erreichen inzwischen 22 bis 23 der 32 Bündnispartner das Zwei‑Prozent‑Ziel – 2014 waren es erst drei Staaten. Gleichwohl stammen weiter rund zwei Drittel der gesamten Verteidigungsausgaben aus den USA, während größere Volkswirtschaften wie Kanada, Italien und Spanien unter der Marke bleiben.

Drittens: Strategische Kommunikation bleibt durch das Einstimmigkeitsprinzip gehemmt: Jede offizielle NATO‑Verlautbarung muss konsensual freigegeben werden, was selbst in Krisen oft Stunden dauert und Reaktionsfenster für Desinformation öffnet. Im Herbst 2024 verbreitete sich im Westjordanland auf arabischen Kanälen das Gerücht, die NATO liefere „Bunkerbrecher“ an Israel. Binnen Stunden radikalisierten sich lokale Proteste, obwohl das Bündnis gar nicht beteiligt war. Ohne eine offensivere Informationsstrategie, die Fehlnarrative früh kontert, droht die Allianz, den digitalen Raum zu verlieren.

Vom Skeptiker zur Rahmennation

Deutschland hat mit der Zeitenwende und den Sondervermögen die Voraussetzung geschaffen, von der Rolle des „größten Skeptikers“ zum verlässlichen Rahmennations­partner aufzusteigen. Bereits heute führt die Bundeswehr die „Enhanced Forward Presence“ in Litauen, betreibt moderne Luftraumüberwachung für Deutschland und die NATO und stellte Kernmodule der Patriot-Verteidigung in der Slowakei. Der Bundestag entscheidet in der Regel offen und nachvollziehbar über Mandate, diese Transparenz wirkt bündnisbindend auf Partner mit stärker exekutiv geprägten Strukturen. Diplomatisch kann Berlin Brücken schlagen: zwischen einflussreichen Strömungen in Washington, die inzwischen vor allem auf einen raschen Waffenstillstand in der Ukraine drängen, und süd‑ bzw. osteuropäischen Staaten, die aus ihrer Front‑ und Bedrohungslage heraus auf dauerhafte Abschreckungsdominanz bestehen.

Kurz: Deutschlands Gewicht liegt nicht nur im Haushalt, sondern in seiner Funktion als logistischer Hub im Herzen Europas und im Zusammendenken von Abschreckung, Diplomatie und auch Rüstungskontrolle, wie in den aktuellen Verhandlungen mit dem Iran.

Wir wagen einen kurzen Blick in die Zukunft: Bis 2035 wird die Abschreckung multidomain sein. Cyber- und Weltraumfähigkeiten ergänzen konventionelle Kräfte; Künstliche Intelligenz wertet Sensordaten in Echtzeit aus. Deutschland könnte als “Digital Framework Nation” das Betriebssystem dieser Vernetzung stellen: sichere Cloud-Knoten, quantenresistente Verschlüsselung, ein gemeinsamer Datenraum für Lage­bilder. Die Ukraine dürfte nach erfüllter Reformagenda und anhaltender Unterstützung Beitrittskandidat sein; ihre Front­erfahrung würde das Bündnis taktisch bereichern. Gleichzeitig muss die NATO ihre Resilienz nach innen stärken: Energie- und Lieferketten­sicherheit, zivile Krisen­vorsorge und ein robustes Desinformations­abwehrnetz zählen künftig ebenso zur Einsatzbereitschaft wie Kampf­panzer. Meine Generation – digital aufgewachsen und sicherheitspolitisch sozialisiert im Schatten mehrerer Kriege – wird entscheiden, ob dieses erweiterte Bündnis agil bleibt oder an seiner Größe erstarrt. Verantwortung übernehmen heißt: Technologien entwickeln, Narrative setzen, Beiträge leisten.

NATO-Standards retten Leben – dieses Wissen verpflichtet

Zurück zur Kherson-Front, Sommer 2023: Artillerie nähert sich, Splitter peitschen über trockenes Ackerland, während Sanitäter ein mobiles ROLE-2E-Feldlazarett räumen. Verwundete werden auf NATO-standardisierte Containertragen verlagert – Staub, Blut, doch jede Palette passt millimetergenau in gepanzerte Sanitätsfahrzeuge und Transporthubschrauber. Mi-17 und EH-101 kreisen niedrig über dem Boden, um den Evakuierungskorridor freizuhalten. ROLE-2E-Module bündeln Operationssaal, Intensivstation und Labor in zwei Containern; ihr Aufbau folgt Normen, die die NATO-Staaten gemeinsam festgelegt haben. Container für Container entfaltet sich zu Operationssaal, Intensivstation und Labor, alles im NATO‑Standardmaß, sodass jede Trage und jede Palette millimetergenau einrasten. So entsteht in weniger als einer Stunde ein vollständiger chirurgischer Knotenpunkt, der lebensrettende Eingriffe ermöglicht und die Patienten stabilisiert.

Genau dieselbe Logik hielt im Januar 2024 das Dieselaggregat in unserem Kiewer Hotel am Laufen; Technik, Verfahren und Solidarität, unsichtbar verknüpft durch das Bündnis. Hier, am Dnepr, begreifen wir: Sicherheit ist nicht bloß Diplomatie; sie entscheidet, ob ein Verwundeter Sauerstoff erhält oder ein Bunker Licht hat, während draußen Drohnen kreisen.

Dieses Wissen verpflichtet. Wenn wir wollen, dass die NATO 2035 noch trägt, müssen wir sie heute stärken, mit sachkundigen Debatten statt Symbolpolitik, mit Engagement in Reserve‑, Zivil- und Cyberverteidigung, mit entschlossenem Entkräften von Desinformation.

Sicherheit bleibt formbar, aber nur, solange wir sie formen.

Ein Beitrag von:

Malte Lauterbach

Journalist
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