Immer wieder gelingt es dem Generalmajor a.D. Millotat – von 2002 bis 2003 Befehlshaber im Mainzer Wehrbereich II – für sein „Forum Mainz“ der Deutschen Atlantischen Gesellschaft hervorragende Kenner der sicherheitspolitischen Situation nach Mainz zu holen – und das seit 2013 im regelmäßigen Rhythmus von drei Monaten. Am 13. September war es der ehemalige Wehrbeauftragte (2015 bis 2020) Dr. Hans-Peter Bartels, der dem großen Kreis der Zuhörer – aktive Soldaten, Reservisten und sicherheitspolitisch interessierte Bürger – im Filmsaal der Kurmainz-Kaserne in Mainz-Hechtsheim mit dem Thema „Was muss die Bundeswehr heute können?“ einen ebenso interessanten wie fordernden Abend bereitete.
Hochkarätige Experten in Mainz: Das Forum Mainz der Deutschen Atlantischen Gesellschaft
Im Dezember 2014 wurde Dr. Bartels zum Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages gewählt und übernahm das Amt im Mai 2015, wodurch er aus dem Bundestag ausschied und auch das Mandat als Vorsitzender des Verteidigungsausschusses abgab. Nach einer Amtszeit (eine einmalige Wiederwahl wäre möglich gewesen) entschied sich die SPD-Fraktion gegen ihn. Bartels, der sich für eine Stärkung der Bundeswehr und eine Erhöhung des Wehretats eingesetzt und sich damit in seiner Partei nicht nur Freunde gemacht hatte, gab das Amt an Eva Högl ab. Inzwischen ist der 62jährige Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik GSP, die 1952 gegründet wurde und damit die älteste sicherheitspolitische Bildungsinstitution Deutschlands ist.
Nach der Auffassung von Dr. Bartels hat das Thema „Was muss die Bundeswehr heute können“ spätestens mit der Kanzler-Ankündigung von der „Zeitenwende“ wenige Tage nach Putins Angriff auf die Ukraine neue Aktualität gewonnen. Dabei wird oft übersehen, dass der Angriff faktisch schon mit der Annektierung der Krim-Halbinsel durch Russland 2014 begonnen hat. Im „Zwei-Plus-vier-Vertrag“ von 1990 sei als erster Schritt im vertrauenspolitischen Bereich eine Obergrenze der Soldaten auf dem Gebiet der vergrößerten Bundesrepublik von 370.000 Soldaten (= Bundeswehr und Nationale Volksarmee) festgehalten worden. Für andere Länder habe es keine solchen Begrenzungen gegeben.
Die Herausforderungen der Bundeswehr: Ein Blick auf die sicherheitspolitische Lage
Heute frage man sich oft: Was wäre, wenn die Ukraine ihre Atomwaffen behalten hätte, statt sie freiwillig im russischen Sicherheitsinteresse abzugeben? Nach dem „Budapester Memorandum“ haben außer der Ukraine noch Weißrussland und Kasachstan ihre Nuklearwaffen ab- bzw. an Russland zurückgegeben.
Im Zusammenhang mit der NATO-Russland-Grundakte von 1997 müsse festgestellt werden: Nicht die NATO hat sich ausgebreitet, sondern souveräne Staaten des früheren Warschauer Pakts haben sich im Interesse der eigenen Sicherheit dem westlichen Verteidigungsbündnis angeschlossen. Eingehalten werde auch der Grundsatz, dass keine größeren Kampfverbände der NATO in den baltischen Staaten dauerhaft stationiert werden. Lange – bis zum Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar 2022 – habe der Westen an das Prinzip „Wandel durch Annäherung“ geglaubt. Bis zum letzten Moment habe Bundeskanzler Scholz versucht, einen Krieg zu verhindern. Inzwischen sei es den Deutschen klargeworden: Wir brauchen Panzer, die schießen und U‑Boote, die tauchen.
In der Realität müsse man aber feststellen: Zumindest das erste Jahr der Zeitenwende ist vergeudet worden. Erst die Ablösung der Ministerin Lambrecht durch Pistorius habe das Tempo nicht nur des Denkens sondern auch des Handelns erhöht. Gehe es aber um die schnelle Reaktionsfähigkeit der Bundeswehr, stehe den Deutschen noch einiges bevor. Dabei gehe es in anderen NATO-Ländern noch turbulenter zu als bei uns – so ist nach dem Brexit in den letzten vier Jahren bei den Briten der vierte Premierminister im Amt. Nach 33 Jahren der personellen und materiellen Abrüstung seit der Wiedervereinigung stehe der Verteidigungsminister vor schwierigen Aufgaben.
1994 habe die Zahl der Soldaten bei der Bundeswehr noch 370.000 betragen. Unmittelbar vor der Aussetzung der Wehrpflicht 2011 verfügte die Bundeswehr noch über 220.000 Soldaten. Derzeit liege die Sollstärke bei rund 200.000, aber 20.000 Stellen seien nicht besetzt. Seit der Wiedervereinigung sei mit jeder Reform der Bundeswehr die Kopfstärke geschrumpft. Standorte wurden geschlossen und Verbände aufgelöst. Bis 2014 sei das Bewusstsein für diese Misere jedoch sehr begrenzt gewesen. Verantwortliche der Bundeswehr haben immer gemeldet: Wir bekommen das hin! Tatsächlich schrumpfte in der Luftwaffe die Zahl der Tornados von 400 auf 80. Die Schweiz hat im Gegensatz zu Deutschland ihre 300 Leopard-Panzer nicht verkauft sondern nur teilweise eingemottet.
Finanzielle und personelle Herausforderungen für die Bundeswehr
Zusammenfassend könne man sagen: Eine vollständige Armee wurde in ihrem Einsatzspektrum reduziert auf kleinere Auslandseinsätze, von denen viele nicht besonders erfolgreich waren. Die Marine wurde weniger stark gerupft und konnte über den gesamten Zeitraum hinweg auf dem Papier mit 15 Fregatten planen. Um in der veränderten Sicherheitslage schnell reagieren zu können, muss nun Deutschland viel Geld schnell ausgeben. Die Verabschiedung des 100-Mrd-Sondervermögens erleichtere die Situation. Aber künftig gehe es eben nicht mehr um kleinere Auslandsmissionen, sondern darum, dass zum Schutz des Landes die gesamte Bundeswehr in der Lage sein müsse, geschlossen eingesetzt zu werden.
Zum Zeitpunkt von Putins Einmarsch in die Ukraine sei das nicht denkbar gewesen; die Bundeswehr habe ziemlich „blank“ dagestanden. Man dürfe sich aber nicht in dem Glauben bewegen, dass mit dem Sondervermögen alles geregelt sei. Wenn die Bundeswehr tatsächlich bis zum Ende des Jahrzehnts alles realisieren will, was sie der NATO versprochen hat, müsse das Sondervermögen (außerhalb des Wehretats) mindestens verdoppelt werden, zumal Betriebskostensteigerung und Inflation eingerechnet werden müssen. Laufende Projekte werden jetzt aus dem regulären Verteidigungshaushalt ins Sondervermögen geschoben (für 2024 sind im eingefrorenen Einzelplan 14 nur noch 3 Milliarden Euro für Beschaffung veranschlagt). Um das auszugleichen und um die vom Kanzler zugesagte Marke von 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erreichen, müsse der Wehretat auf jährlich 80 Mrd. Euro angehoben werden.
Bartels sieht es als vernünftig an, dass nicht mit einem neuen Kampfflugzeug geplant werde, dessen Entwicklung Jahrzehnte wie beim Eurofighter gedauert hätte. Stattdessen würden F‑35-Kampfflugzeuge in den USA gekauft, die kurzfristiger lieferbar sind. Deutschland müsse in die Lage versetzt werden, Raketen bereits außerhalb der Atmosphäre abzufangen. Dies bedeute, dass Deutschland nicht mehr atomar erpresst werden kann. Israel und die USA haben gezeigt, dass dies realisierbar ist. Was die Personallage angehe, müsse die Struktur hin zur kollektiven Verteidigung geändert werden. Gleichzeitig müssen aus der Truppe Positionen „ausgekämmt“ werden, für die nicht unbedingt Soldaten gebraucht werden.
Die Zukunft der NATO und die Rolle Deutschlands in der europäischen Verteidigung«
Was die Finanzen angeht, werde es nicht ohne harte Auseinandersetzungen gehen – der neue Haushalt werde im Herbst des Jahres beraten. Man dürfe sich die Finanzen nicht „schönrechnen“. Beispiel: Bis 2005 waren die kompletten Pensionen der Soldaten Teil des Haushalts des Innenministeriums. Beschlossen sei bereits die Stationierung einer deutschen Brigade in Litauen. Es erhöhe die Sicherheit nicht nur der baltischen, sondern aller osteuropäischen Staaten, wenn dort NATO-Soldaten stationiert sind. In der nahen Zukunft müsse erreicht werden, dass ein politisch geeintes Europa sich auch gemeinsam verteidigen kann. Die Zusammenarbeit mit den Niederlanden funktioniere bereits, was Hoffnung mache, dass es auch mit anderen europäischen Staaten funktioniert. Denkbar sei, dass bis zur Ebene der Brigaden national und darüber international strukturiert wird, was beim Lufttransport schon heute funktioniert. Allerdings werde es bis 2025 kaum möglich sein, aus der Bundeswehr die stärkste Armee Europas zu machen. Aber die Tendenz müsse stimmen.
In der nachfolgenden lebhaften Diskussion ging es im Wesentlichen darum, dass es insgesamt nicht an Soldaten in der NATO fehlt (schon jetzt haben die NATO-Staaten sehr viel mehr Soldaten als Russland). Aber insgesamt muss die Organisation verbessert und auf schnelle Reaktion getrimmt werden. Einmal mehr bewährte sich die Tradition im Forum Mainz, dass nach dem Vortrag genügend Zeit bleibt für spannende Diskussionen und danach noch für persönliche Gespräche im kleinen Kreis.
General Millotat kündigte für den 7. November als Redner den Generalleutnant a. D. Jürgen Knappe an. Knappe ist den Mainzern bekannt als Stellvertretender Kommandeur des Wehrbereichskommandos II von 2009 bis 2011. Zum 3‑Sterne-General befördert diente er von Februar 2018 bis März 2022 als Befehlshaber des Multinationalen Kommandos Operative Führung in Ulm.
Autor: M. Sauer.