Deutsche Atlantische Gesellschaft e.V.

75 JAHRE NATO – Zerreißprobe für das Transatlantische Bündnis am Beginn einer neuen Weltordnung?

Rede von General a.D. Dr. h.c. Klaus Naumann vom 20. Juni 2024 vor dem Bonner Forum der Deutschen Atlantischen Gesellschaft

Rede vom 20. Juni 2024 vor dem Bonner Forum der Deutschen Atlatischen Gesellschaft
Ich danke für die Einladung. Ich freue mich, wieder einmal in Bonn zu sein, so viele Bekannte von einst wiederzusehen, in der Stadt zu sein, in der ich fast 15 meiner 41 Berufsjahre verbrachte und hier zu sprechen, nur wenige Schritte entfernt von unserer ersten Bonner Wohnung am Langen Grabenweg .

Ich bin gebeten worden, Ihnen die internationale Lage vorzutragen und möchte das so nüchtern wie man das als parteiungebundener Bürger Deutschlands tun kann, keineswegs pessimistisch, aber schonungslos realistisch. Ich lasse die üblichen Allgemeinplätze wie Welt im Umbruch und Europa am Rande eines Krieges weg und beginne nach einem kurzen Rückblick auf die NATO mit einer Einschätzung der generellen Lageentwicklung, gehe dann auf das ein, was uns Alle Tag für Tag an den Fernsehschirmen bedrückt, die bestehenden Konflikte, füge einen Blick auf die große Ungewissheit China an und ende mit dem Blick auf die Herausforderungen für die NATO und für Deutschland.

Der Rückblick

Deutschland hat der NATO viel zu verdanken. Schutz im Kalten Krieg bis 1989, Sicherheit während der Gestaltung der Einheit Deutschlands ab 1990 und Schutz vor Gefahr und Instabilität in den überwiegend unruhigen Jahren von 2001 bis heute.

Erinnern wir im Heute globaler Unsicherheit noch einmal das Damals, gehen wir zurück ins Deutschland des Jahres 1949: Noch immer in weiten Teilen zerstört, aber mitten im Wiederaufbau, überbevölkert durch die Aufnahme von Millionen von Flüchtlingen aus den 1945 verlorenen Gebieten, besetzt von den vier Siegermächten des Zweiten Weltkriegs, unbewaffnet, aber in Wirklichkeit bereits geteilt, weil die Trennlinie zwischen Ost und West mitten durch Deutschland lief und an ihr eine Sowjetunion lauerte, die ihren Machtbereich bereits bis zur Elbe ausgedehnt hatte und bereit war, ihn bis zum Atlantik zu erweitern. In dieser Lage entstand vor 75 Jahren die NATO als Bündnis zur Verhinderung neuer Kriege in Europa und zum Schutz vor sowjetischer Expansion, es entstanden aber auch, die Teilung Deutschlands zementierend, die Bundesrepublik Deutschland im Westen und die Deutsche Demokratische Republik im Osten.

Ein formales Schutzversprechen für die neue Bundesrepublik Deutschland gab es nicht, es galt Besatzungsrecht. Nach Art. 6 des NATO-Vertrags hätte lediglich ein Angriff auf die Streitkräfte von NATO-Partnern im besetzten Deutschland den Bündnisfall ausgelöst, nicht aber ein Angriff auf Deutschland an sich.

Ich habe von den 75 Jahre NATO 41 als Soldat der Bundeswehr erlebt. Ich möchte deshalb ergänzend den erlebten Weg Deutschlands in den Westen, das Ringen um Vorneverteidigung zum Schutz des westdeutschen Territoriums in einem Krieg beschreiben und vor allem ausführen, wie auch durch das 

Zusammenwirken in der NATO das Wunder der Versöhnung mit den Kriegsgegnern im Zweiten Weltkrieg geschehen konnte, als Deutschland im Mai 1955, also gerade einmal zehn Jahre nach dem Ende dieses mörderischen Krieges mit Millionen von Toten auf beiden Seiten Bündnismitglied wurde. Soldaten der früheren Wehrmacht, die vor etwas mehr als zehn Jahren den neuen Kameraden möglicherweise im Kampf als Feinde gegenübergestanden hatten und die in dieser völlig neuartigen Organisation nun große Probleme hatten, sich in den Sprachen Englisch und Französisch zu verständigen, hatten nun Vertrauen aufzubauen. Sie wurden allerdings mit Respekt vor ihrer Leistung im Krieg aufgenommen, ein deutlicher Gegensatz zu ihren deutschen Mitbürgern, damals wie heute. Nicht zuletzt in der NATO wurde so das Vertrauen gesät, das es dann 1990 möglich machte, dass Deutschland im Einvernehmen mit allen Gegnern im Zweiten Weltkrieg und mit Zustimmung aller Nachbarn zum mächtigsten Staat Europas wurde.

Die globale Entwicklung

Die Welt steht heute am Beginn der Entwicklung einer neuen Weltordnung. Ob sie weiterhin eine regelbasierte Ordnung und ob sie wirklich multipolar sein wird, ist offen. Kein Versuch in der Geschichte, neue Ordnungen zu schaffen ist ohne Gewalt abgelaufen. Man sollte deshalb nicht überrascht sein, dass das vergangene Jahr das blutigste seit 1994 war, weitere Konflikte werden folgen. Sie werden anhaltende, gleichzeitige und an verschiedenen Orten stattfindende, oft kriegerische Konflikte sein.

Für Europa kommt hinzu, dass die Zeit kooperativer Sicherheit vorbei ist, weil deren Voraussetzung, gegenseitiges Vertrauen, durch Putin für lange Zeit zerstört ist. Dennoch wird allgemein, vor allem aber in Deutschland, noch nicht verstanden, dass dies bedeutet, sich nun auf konfrontative Sicherheit einzustellen.

Ein Kennzeichen der beginnenden Entwicklung einer neuen Weltordnung ist die Auflehnung des globalen Südens gegen den von den USA geführten Westen und damit verbunden gegen unsere freiheitliche, demokratische Ordnung, geschützt durch die Macht des Rechts und nicht durch das Recht des Stärkeren. Diese Entwicklung, gerade unterstrichen durch das Ergebnis der BürgenstockKonferenz, dürfte anhalten und sie wird durch die autokratischen Mächte, vor allem China und Russland geschürt und genutzt werden, weil sie in darin eine Chance sehen, ihre Einflusszonen auszuweiten, auch weil sie irrtümlich glauben, der Abstieg der USA werde anhalten und sie könnten das Recht des Stärkeren nutzen. Es ist deshalb sogar mit neuen bewaffneten Konflikten zu rechnen.

Mit dieser Lage müssen in unserer westlichen Welt Regierungsorganisationen fertig werden, die, mit Ausnahme der USA, auf die Bewältigung einer, manchmal auch zweier gleichzeitiger Krisen ausgerichtet sind, nicht aber auf die in Zukunft wohl wahrscheinliche Gleichzeitigkeit mehrerer Krisen, die, obwohl regional, nahezu alle in ihren Auswirkungen, insbesondere auf Handel und Wirtschaft, globaler Natur sein dürften. Die jüngste Entwicklung im Roten Meer, ‑zugleich ein Beispiel für asymmetrische und hybride Kriegführung, die, obwohl regional ausgeführt, wirtschaftlich globale Folgen hat -, kann als Beleg für diese Aussage dienen.

Viele dieser Krisen werden ohne zunächst erkennbare Anwendung unmittelbarer Gewalt geführt werden und sie beginnen vielfach durch mediale Beeinflussung lange vor ihrer Erkennbarkeit durch tradierte Politik. Dem folgt das weite Spektrum hybrider Kriegsführung von Terrorismus über Cyberangriffe bis hin zu Eingriffen in Wirtschaft und Finanzen. So gesehen, befindet sich die Welt möglicherweise seit Jahren in einem Weltkrieg, ohne dessen Beginn erkannt zu haben oder diese Dimension wahrzunehmen.

Zusätzlich erweisen sich unsere auf Reaktion ausgerichteten und international auf Einstimmigkeit angewiesenen Regierungs- und internationalen Organisationen als wenig geeignet, der Schnelligkeit und Vielzahl der Informationen aus den sozialen Netzwerken gerecht zu werden.

Des Weiteren ist das bevorzugt genutzte, weil oft als einzig anwendbar gesehene Instrument der Sanktionen dringlich zu verbessern. Es fehlt an Überwachung, an der Bereitschaft gegen Sanktionsbrecher vorzugehen und Drittstaaten zu sanktionieren, die durch Umgehungshandel profitieren.

Die Herausforderung schlechthin wird jedoch sein, der Gleichzeitigkeit und Globalität mehrerer Krisen gerecht zu werden, angepasste Regierungsformen und ‑organisationen zu entwickeln und im Handeln vielfach statt Reaktion auf Prävention und möglicherweise auch Prä-emption, eventuell auch unter Einschluss von Gewaltanwendung, umzustellen. In Ländern wie Deutschland, wo man irrtümlich glaubt, internationale Konflikte ließen sich nur im Rahmen kodifizierten Rechts regeln, wird das eine gewaltige Herausforderung. Ob und wo das Bewusstsein für diese grundlegenden Veränderungen bereits vorhanden ist, ist mir nicht bekannt. Ich nehme aber an, man zögert überall Änderungen anzupacken, nicht zuletzt, weil das Jahr 2024 Wahlen in mehr als 70 Ländern dieser Welt bringen wird und davon 4,2 Milliarden Menschen, also etwas mehr als 50 % der Bevölkerung unserer Welt betroffen sein werden. Wahlen in freien Gesellschaften gewinnt man im Allgemeinen nicht mit der Aufforderung grundlegenden Wandel zu wählen, das bequeme „weiter so“ wird vielfach, ich meine fälschlicherweise, als Schlüssel zum Erfolg gesehen.

Zumindest die westliche Welt wird deshalb mit einer unruhigen globalen Situation mit dafür ungeeigneten Instrumenten fertig werden müssen. Hinzukommen könnte der sich beschleunigende Klimawandel mit der Gefahr zunehmender Naturkatastrophen, die oftmals die Ärmsten treffen könnten, die wiederum am stärksten von ungebremsten Bevölkerungswachstum, das gilt vor allem für Afrika, geschwächt sein dürften. Ressourcenmangel, Hunger und Wassermangel werden Kennzeichen des kommenden Jahrzehnts sein. Folgen könnten sein, dass Migration vor allem für Europa zum kaum lösbaren Problem werden wird, dass das Einschleusen von Flüchtlingen als Waffe genutzt werden könnte und Staaten durch Ressourcenmangel gelähmt werden. Zudem dürften in den ärmsten Ländern, aus der Not geboren, zunehmend Autokraten dominieren, aber auch in unserer westlichen Welt könnte die Tendenz zu illiberalen Regierungsformen zunehmen. Für das Europa der EU könnte das weitere Spaltung, zunehmenden Einfluss nationalistischer Kräfte und damit wachsenden Einfluss Chinas und Russlands bedeuten, den sie gewiss gewinnen werden, wenn in Europa die Geschlossenheit, gemeinsam zu handeln verloren geht. Jeder von uns sollte gerade in diesen Tagen an die Warnung des früheren französischen Staatspräsidenten Mitterrand denken, der vor dem Europaparlament 1995 sagte. „Le nationalisme, c‘est la guerre“, Nationalismus heißt Krieg. Er fügte später an: „Krieg ist nicht nur Vergangenheit, er kann auch unsere Zukunft sein“. Heute stehen wir fast vor dieser Zukunft. Die Wahlen zum europäischen Parlament vor knapp zwei Wochen mit ihrem erkennbaren Erstarken nationalistischer Kräfte sollten alle Demokraten als Warnschuss begreifen. Als unmittelbare Folge dieser Wahl ist von einer Schwächung Europas durch fehlende Geschlossenheit auszugehen, denn es könnte wertvolle Zeit vergehen, bis Rat und Kommission zu neuer Führung finden.

All diese Entwicklungen treten jedoch in ihrer Gewichtung in den Hintergrund vor der Entscheidung, die am 5. November 2024 in den USA getroffen werden wird. Die Präsidentschaftswahl im unverändert mächtigsten Land der Welt hat mehr als alle vorangegangenen Wahlen wahrhaft globale Bedeutung.

Das Ergebnis am 5. November wird nicht nur darüber entscheiden, ob die USA langfristig die einzige globale Macht dieser Welt bleiben werden, sie könnte kurzfristig die internationale Lage in allen gegenwärtigen wie künftigen Konflikten dramatisch verändern. Mehr als irgendwo sonst könnte diese Wahl Europas Sicherheit beeinflussen. Sollte Trump gewinnen, dann wird er zwar nicht aus der NATO austreten, weil er dazu eine nicht erreichbare Zwei Drittel-Mehrheit im Kongress bräuchte, aber er 

wird das amerikanische Engagement und vor allem die unersetzbare atomare Garantie, die letztlich sicherheitsentscheidend ist, davon abhängig machen, ob Europa, und hier vor allem Deutschland, das schon heute zu niedrig angesetzte 2 % Ziel von 2014, das vergangenes Jahr beim NATO-Gipfel in Vilnius als Untergrenze bestätigt wurde, tatsächlich auch in 2025 und dann dauerhaft erreicht. Auch eine zweite Administration Biden wird Derartiges fordern und zusätzlich werden beide den Schwerpunkt der USA nicht in Europa, sondern in Asien sehen.

Der Unterschied könnte aber sein, dass das amerikanische Schutzversprechen bei Trump so wanken könnte, dass Putin versucht sein könnte, seine im Dezember 2021 klar formulierten Ziele in die Tat umzusetzen. Deutschland wie Europa müssen sich deshalb auf ein Jahrzehnt voll latenter Kriegsgefahr einstellen. Vergessen wir nicht, bereits ein begrenzter Erfolg im Baltikum könnte das Ende der NATO wie der EU bedeuten, würde Russland zur Vormacht in Europa machen und aller Voraussicht nach innenpolitische Verwerfungen Richtung Illiberalismus in nahezu allen europäischen Staaten, auch in Deutschland, auslösen. Das Ziel einer Pufferzone vor Russland wäre damit für Putin erreichbar.

Das ist der Kern der politischen Herausforderung, vor der der so genannte Westen 2024 und 2025 stehen wird. Aber es ist eine Herausforderung, die der Westen bewältigen kann. Der Westen hat das Potenzial sein Scheitern zu verhindern, vorausgesetzt, er bleibt geschlossen und im freien Europa erkennen die Politiker und, geführt von ihnen, die Bevölkerungen endlich die Gefahr und handeln entschlossen. Europa kann so auch bei einer Wahl Trump zuversichtlich zu sein, schließlich entspricht Russlands Wirtschaftskraft gerade mal der Italiens. Zudem, bei Nachdenken wird man auch in den USA erkennen, dass der Verlust Europas das Ende amerikanischer Weltherrschaft bedeutet, denn die globale Seemacht USA muss beide Gegenküsten, also Asien wie Europa, kontrollieren können.

Was gegenwärtig allerdings bedenklich stimmt ist die fehlende Führungskraft in Europa und vor allem in Deutschland. Die drohende Instabilität in Frankreich und die nicht mehr von einer Mehrheit unterstützte Regierung in Berlin unterstreichen diesen Befund.

Es stehen Europa und damit Deutschland somit mehr als unruhige Monate bis zum Ende des Jahres bevor. Ich hoffe noch immer, dass in Berlin die Gefahr endlich erkannt und dementsprechend wenigstens im Bereich Sicherheit parteiübergreifend gehandelt wird.

Die bestehenden Konflikte

Vor diesem Hintergrund sind die beiden Konflikte zu betrachten, die Europa ganz unmittelbar berühren: Der Ukraine Krieg, der nun schon mehr als zwei Jahre dauert, und der blutige Konflikt im Nahen Osten seit dem 7. Oktober 2023.

Beide Konflikte sind durch das Einwirken der USA, Russlands und Chinas miteinander verknüpft und doch sehr unterschiedlich. Gemeinsam ist, dass mit ihnen die Gestaltungskraft des freien demokratischen Westens herausgefordert wird und Russland, gemeinsam mit China die Möglichkeit gegeben wird, zu versuchen, den so genannten globalen Süden hinter sich zu einen. Dies zu verhindern ist die strategische politische Herausforderung schlechthin, für den Westen in Gänze, besonders aber für Europa.

Dann erst kommen die operativen Fragen: Was zur Beendigung, zumindest zur Eingrenzung dieser Konflikte zu tun ist, wo Deutschland und Europa in diesen Konflikten stehen und ob, oder wenigstens welche, Lösungen zu erkennen sind.

In beiden Konflikten haben die Gegenspieler des Westens zwar das gemeinsame langfristige Ziel, den Westen, vor allem die USA zu schwächen, aber kurzfristig doch sehr unterschiedliche Zielsetzungen. 

Im Falle Ukraine ist es das mittelfristige russische Bestreben eine Einflusszone vor Russland zu errichten, Europa zu schwächen und, wenn möglich die USA aus Europa zu vertreiben, also das Ende der NATO herbeizuführen.

Im Falle Nahost nutzen Russland wie China den Konflikt, um ihren Einfluss in der Region zu mehren, vielleicht sogar eine Achse China- Russland- Iran und Nordkorea herzustellen. Lokaler Hauptakteur dort ist der Iran. Er stützt die Hamas, deren Ziel es ist, den Gründungsmythos Israels zu zerstören, dass es einen sicheren Platz namens Israel für alle Juden geben könne und zu verhindern, dass Israel einen Ausgleich mit den dem Hegemoniestreben des Iran im Wege stehenden sunnitischen Staaten am Golf und mit Ägypten findet. Gleichzeitig will Iran verhindern, dass die USA wieder in dieser Region gestaltend wirken können. So gesehen ist der von der Hamas, möglicherweise aus Teherans Sicht zu früh gestartete, Konflikt Teil des Ringens um den globalen Süden und damit um die Vormacht in der Welt.

Wo steht Deutschland in diesen Konflikten?

Deutschland ist neben den USA der Unterstützer der Ukraine schlechthin und verurteilt eindeutig Russlands hegemoniale Ambitionen.

Der Ukraine ist es 2023 nicht gelungen, ihre Offensive zum Erfolg zu führen, aber sie ist insgesamt auch nicht völlig gescheitert, denn es gab geringe Geländegewinne, den russischen Streitkräfte wurden sehr schwere Verluste zugefügt und vor allem ist die russische Kontrolle des Schwarzen Meers gebrochen geworden. Man kann trotz der derzeitigen personellen und materiellen Überlegenheit der Russen von einem Patt sprechen, das in den kommenden Monaten allerdings erneut schwere Opfer der ukrainischen Zivilbevölkerung, starke Beschädigungen der überlebenswichtigen Infrastruktur der Ukraine und militärisch einen für beide Seiten verlustreichen Stellungskrieg nach sich ziehen dürfte. Angesichts der größeren Ressourcen, vor allem bei Personal und Material, und der insgesamt zunehmend schwächelnden Unterstützung der Ukraine durch die westlichen Staaten könnte sich die Waage trotz der gewaltigen Verluste Russlands an Personal und Material zunehmend zu Gunsten Russlands zu neigen, vor allem, wenn die USA, ab Sommer vom Wahlkampf gelähmt, als der Unterstützer schlechthin ausfallen sollten. Russland hat zwar erfolgreich seine Industrie auf Kriegswirtschaft umgestellt und wird damit wohl in der Lage sein, die gewaltigen Verluste in der Ukraine in circa fünf Jahren auszugleichen. Eine komplette Besetzung der Ukraine dürfte Putin allerdings selbst dann wohl kaum gelingen, denn er hat eine bis 2022 nichtexistierende ukrainische Identität geschaffen. Sie würde bei einer Besetzung über den Donbass hinaus, vorausgesetzt Russland hätte die Kräfte dazu, voraussichtlich zu einem langanhaltenden, am Ende kaum zu gewinnenden Guerilla Krieg in der Ukraine führen. Aber die Ukraine ist für Putin Schlüssel zu seinen imperialen Ambitionen und wäre bei Erfolg wohl der Anfang eines Kampfes um Europa. Alle in Deutschland und in Europa, die das aus verständlicher Sehnsucht nach Frieden übersehen, verkennen, dass in der Ukraine die Zukunft Europas entschieden werden könnte. Deutschland, Europa, ja der Westen müssen der Ukraine helfen, diesen Krieg zu gewinnen, nur so wird Putin zum Einlenken und zum Abrücken von seinen imperialen Träumen vom Dezember 2021 gezwungen. Tun wir das nicht, dann könnte Russland nach Ausgleich seiner beträchtlichen Verluste etwa ab 2029/30 in der Lage sein, einen neuen, größeren Angriff in Europa zu starten, dessen Zwischenziel die Rückeroberung der baltischen Staaten und nach Eingliederung von Belarus vermutlich auch Moldawiens wären.

Russland ging somit zwar militärisch und vor allem politisch geschwächt in das Jahr 2024, aber Putin wird seine Ziele nicht aufgeben. Deshalb müssen Europa ebenso wie die NATO so schnell wie möglich ihre Verteidigungsfähigkeit wiederherstellen, sich nicht von Putins Drohungen mit Atomwaffen beeindrucken lassen und zu deren Abwehr die eigene nukleare Abschreckungsfähigkeit erhalten.

Zu Verhandlungen und damit zu einem Einfrieren des derzeitigen Zustandes dürfte Putin nicht wirklich bereit sein. Entsprechende Signale wie jüngst dienen vor allem dem Ziel, den Westen noch mehr zu spalten. Auch die Ukraine ist nicht verhandlungsbereit, denn das Ziel, das widerrechtlich besetzte Gebiet zurückzuerobern, wird bestehen bleiben und muss das auch, sogar aus Sicht des Westens, denn jede Anerkennung von Russland geraubten Gebietes wäre das Ende des zentralen Elements der bestehenden europäischen Friedensordnung, keine Grenzen mit Gewalt zu verändern. Putin setzt daher auf Zeit und hofft auf ein Zerbrechen der Unterstützung der Ukraine und insbesondere auf Wahlergebnisse in den USA, aber auch in Großbritannien und nun wohl auch in Frankreich, die ein Ende der westlichen Unterstützung der Ukraine bringen könnte. Deutschland, das ebenso wie die USA entscheidenden Anteil daran hat, dass die Ukraine in den vergangenen zwei Jahren nicht verloren hat, aber, nicht zuletzt durch oft zögerliche Unterstützung, auch nicht gewinnen konnte, muss sich im Laufe der nächsten Monate erneut kritisch fragen, welches politische Ziel erreichbar ist. Die oft gestellte Frage, ob man nicht doch endlich weitreichende Präzisionswaffen liefern soll, ist zwar unverändert richtig, ersetzt aber nicht ein klar definiertes politisches Ziel. Lassen Sie mich deutlich sagen, die Lieferung des Taurus hätte den Krieg nicht beendet, hätte möglicherweise aber ukrainische Verluste geringer gehalten. So bedauerlich die zögerliche Haltung des Bundeskanzlers, seine oftmals fragwürdige Argumentation und vor allem die unverständlichen Auflagen für die Ukraine auch sein mögen, entscheidend ist jedoch, dass der Westen letztlich keine Strategie hat. Unterstützung so lang wie möglich ist keine Strategie. Das Ziel muss doch sein, den Konflikt zu beenden, die völlige Zerstörung der Ukraine zu verhindern, Russland einzudämmen und den Menschen in der Ukraine die Hoffnung auf eine bessere, vor allem freie Zukunft zu geben. Von diesem Ziel ausgehend sind Wege zu suchen. Ein Anfang könnte darin liegen, den Russen deutlich zu machen, dass Putins Krieg Russland politisch aus drei Gründen bereits jetzt und unabänderlich zum Verlierer gemacht hat:

Russlands Angriff hat

  1. eine nie zuvor existierende geeinte Ukraine erzeugt, die in den Westen Europas will, hat
  2. durch die Mitgliedschaft Finnlands und Schwedens die NATO gestärkt und hat Russland einen seiner beiden Zugänge zum Atlantik, den durch die Ostsee, weitgehend genommen. Vor allem aber, hat damit
  3. Russland Vertrauen verspielt, das es mehr denn je braucht, um Kooperation wiederherzustellen. Ohne Kooperation mit dem Westen wird Russland zum einflusslosen Rohstofflieferanten Chinas und muss das Ziel begraben, jemals durch eine Führungsrolle im globalen Süden Augenhöhe mit den USA und China erreichen zu können.

Zu Verhandlungen könnte es frühestens nach den US-Wahlen, vielleicht schon je nach Ergebnis, Ende 2024 kommen. In jedem Fall wäre das Ergebnis aber immer nur ein Zwischenschritt. Doch schon bei Zwischenschritten stellt sich die Frage nach der Zukunft der Ukraine in der EU wie in der NATO und dann natürlich auch, ob ein denkbarer Waffenstillstand der militärischen Absicherung bedürfe. Europa bleibt somit auch nach 2024 durch anhaltenden, günstigstenfalls pausierenden Krieg gebunden.

Zusätzlich muss Deutschland von der Formel Abschied zu nehmen, Sicherheit gäbe es nur mit Russland. Diese Formel beruhte auf dem Vertrauen in den Partner Russland, das aber hat Putin für lange Zeit zerstört. Nun gilt es Sicherheit vor Russland zu erreichen und die gibt es nur gegen Russland. Dieses Ziel ist aber bis auf weiteres gegen die Nuklearmacht Russland nur mit den USA als Verbündetem Europas zu erreichen. Sie zu sichern, muss daher strategische und politische Priorität Europas, allen voran Deutschlands, bleiben.

Im Konfliktfall Nahost darf man auf westlicher Seite bei allem Bestreben, das Leiden der Palästinenser zu verringern und trotz nicht unberechtigter Kritik an der militärischen Operationsführung Israels den Ausgangspunkt nicht aus den Augen verlieren: Einen Frieden mit Hamas wird es nicht geben, ja kann 

es nicht geben, solange das Ziel der Hamas die Auslöschung Israels bleibt. Alle bestehenden Forderungen nach dauerhaftem Waffenstillstand übersehen diesen zentralen Punkt und lassen auch außer Acht, dass die so genannte arabische Welt kein echtes Interesse hat, einen Palästinenser Staat entstehen zu lassen. Interesse an einem Palästinenser Staat hat allenfalls der Iran, denn damit hätte Iran einen Verbündeten, den man nutzen könnte, Israel zu binden und die sunnitischen Staaten am Persischen Golf zu schwächen. Der Ruf nach einer Zweistaatenlösung ist nichts anderes als ein politisches Placebo. Voraussetzung einer Zweistaatenlösung ist Vertrauen in eine palästinensische Regierung. Dieses Vertrauen aber hat die Hamas am 7. Oktober für eine lange Zeit zerstört und die unfähige Autonomiebehörde in Ramallah hat nichts getan, wenigstens ein bisschen Vertrauen zu wecken.

Ein erreichbares politisches Ziel zur Beendigung dieses Krieges ist derzeit nicht zu erkennen, denn es mag vielleicht gelingen, die Hamas militärisch zu besiegen, aber der Anspruch der Hamas, der einzige wirksame Vertreter Palästinas zu sein und Israel vernichten zu wollen, wurde am 7.Oktober sogar noch gestärkt und ist nicht auszulöschen. Zudem ist zu bedenken, dass das Interesse der Regierung Netanjahu an einer Beendigung der Kampfhandlungen begrenzt ist, denn dann würden die Fragen nach der Schuld für das anfängliche Versagen Israels ebenso auf die Tagesordnung gesetzt werden wie teilweise berechtigte Kritik an der Operationsführung Israels, vor allem aber das Festhalten Netanjahus am Schutz der Siedler im Westjordanland, das eine Zwei – Staatenlösung nahezu unmöglich macht. Israel wird deshalb vermutlich noch einige Zeit weiterkämpfen, zugleich aber versuchen, den Konflikt auf Gaza begrenzt zu halten. Das kann es aber nur, solange die USA an ihrer Unterstützung festhalten. Bis auf weiteres ist deshalb in Nahost von einem nahezu eingefrorenen Konflikt mit beträchtlichen militärischen Verlusten Israels, kaum erträglichen Verlusten unter der palästinensischen Bevölkerung und weltweit abnehmender Unterstützung Israels auszugehen. Hamas dürfte im Krieg der Bilder somit eine Schuldumkehr erreichen: Die Verbrechen der Hamas vom 7. Oktober treten in den Hintergrund und die Bilder vom Bombenkrieg in Gaza dominieren, ja können sogar die Legitimität Israels Infragestellen. Ganz deutlich sah man das erst vor wenigen Tagen als die vier Geiseln aus dem Haus eines Journalisten befreit wurden und niemand erwähnte, dass die zahlreichen palästinensischen Toten vor allem darauf zurückzuführen sind, dass die Hamas die Geiseln noch immer festhält.

Das Fehlen einer politischen Lösung wird den Druck auf die USA und auf Deutschland, das im gespaltenen Europa nahezu der einzige Unterstützer Israels geworden ist, erhöhen. Beide Staaten werden damit in den Augen des globalen Südens zunehmend unglaubwürdig werden, weil ihnen vorgeworfen werden wird, menschliches Leben und die Herrschaft des Rechts nur zu achten, wenn es um westliches Leben und westliche Prinzipien geht. Das ist Wasser auf die Mühlen Putins und Xis, sich als wahre Freunde der Länder des globalen Südens darzustellen.

Es wird vermutlich bei Nadelstichen wie im Roten Meer bleiben, allerdings nicht zu einer Ausweitung des Krieges kommen. Der Handlanger des Iran im Libanon, die Hisbollah, ist nach dem sehr verlustreichen Einsatz ihrer Kämpfer in Syrien noch nicht kriegsbereit und Iran selbst ist das auch nicht, nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen und wegen fehlender innerer Stabilität. Im Übrigen hat der iranische Raketenangriff auf Israel zwar den seit vielen Jahren anhaltenden Schattenkrieg auf die Ebene eines offenen Konflikts gehoben, aber die Abwehrfähigkeit Israels, vor allem die erstaunliche, arabische Staaten einschließende, internationale Kooperation in der Abwehr dieses Angriffs und der weit wirksamere als berichtete Gegenschlag Israels haben die Gefahr einer direkten Konfrontation verringert. Allerdings wird diese Lage Iran anspornen, sein Atomwaffenprogramm sogar zu beschleunigen, weil Teheran weiß, dass Atomwaffenstaaten kaum sanktionierbar sind.

Es könnte dennoch sein, dass internationaler Druck auf Israel bei einem Freilassen aller Geiseln durch die Hamas einen Waffenstillstand erzwingt, dessen Folge in Israel vermutlich das Ende der Ära Netanyahu sein dürfte und damit erzwingen wird, endlich über eine politische Lösung aus israelischer Sicht nachzudenken, also die Frage zu beantworten, was mit den Palästinensern geschehen soll.

Eine schnelle Zwei-Staatenlösung ist dennoch wenig wahrscheinlich, denn ein Kriterium eines jeden Staates, dass Staatsgebiet, fehlt. Niemand wird die mehr als 700.000 konfliktbereiten Siedler vertreiben wollen und können und ohne diesen Schritt gibt es de facto kein Staatsgebiet Palästina. Zum anderen, wie bereits gesagt, hat die Hamas am 7. Oktober 2023 die wesentliche Voraussetzung eines Palästinenserstaates selbst zerstört: Das Vertrauen, dass ein solcher Staat ein verlässlicher Nachbar sein würde.

Die Zweistaatenlösung wird also als Wunschlösung auf der Agenda von Verhandlungen bleiben, es wird aber zunächst nur Zwischenlösungen geben wie einen entmilitarisierten, international überwachten Gazastreifen, das Beibehalten der Scheinautonomie im Westjordanland und den Beginn langer Verhandlungen.

Trotz anfänglicher Widerstände gegen alle Formen von Zwischenlösungen in der arabisch-sunnitischen Welt, in der Türkei und vor allem im Iran könnten sie Voraussetzung für die weitere Annäherung der arabischen Staaten am Golf an Israel sein. Für diese durch die Abraham Accords, also Kooperation mit den Golfstaaten im Gegenzug zur Anerkennung Israels, eingeleitete Entwicklung wird es vielleicht eine Pause geben, aber keinen Abbruch. Der Nutzen guter Beziehungen zu Israel dient den arabischen Staaten in ihrem Bemühen, von Öl und Gas unabhängiger zu werden. Israelische Technik ist dafür unverzichtbar und für die arabischen Staaten Voraussetzung zur Eindämmung iranischen Machtstrebens am Golf.

Eine solche Entwicklung wäre auch im Interesse Europas und sollte von Deutschland wie der EU gefördert werden, denn sie könnte Stabilität vor Europas Toren bringen und zugleich neo-osmanischen Träumen der Türkei Grenzen setzen. Offen bleibt dabei allerdings, ob und wie man verhindern kann, dass Iran Atomwaffenstaat wird. Iran kann dieses Ziel in sehr kurzer Zeit erreichen, noch ist allerdings ein überwachtes Einfrieren als virtuelle Atommacht bei wirtschaftlichen Zugeständnissen nicht ausgeschlossen. Gelänge dies nicht, dürfte ein atomares Wettrüsten am Golf, in Ägypten und in der Türkei mit dramatischen Konsequenzen für Europa folgen, den Irans Raketen können heute bereits fast ganz Europa erreichen.

Soweit der Blick auf die beiden brennenden Konflikte dieser Tage, doch nicht genug damit, weitere Konflikte zeichnen sich ab.

Ein besonders schwerer könnte entstehen, wenn China fürchten müsste, Taiwan könne die Unabhängigkeit erreichen wollen. Das Wahlergebnis vom 13. Januar ist zunächst als Beruhigung zu sehen. Taiwan dürfte den bisherigen Kurs fortsetzen, also keine Unabhängigkeit erklären, aber die Eigenständigkeit Taiwans fördern. Damit gäbe es zunächst keinen Kriegsgrund für Peking, das insgesamt allerdings weder wirtschaftlich noch militärisch gegenwärtig und bis auf weiteres in der Lage ist, einen schnellen Erfolg gegenüber Taiwan zu erzielen, sofern Taiwan weiterhin auf die Unterstützung Japans, Südkoreas und vor allem der USA rechnen kann. Die aber scheint gewiss, da nur mit Taiwan die strategische Linie Japan – Taiwan – Philippinen gehalten werden kann. Nur mit ihr kann China im südchinesischen Meer eingedämmt, ein Ausgreifen in den Pazifik wie den indischen Ozean verhindert werden und die chinesische Kontrolle der Straße von Malakka ausgeschlossen werden. Dies wiederum ist für die USA strategische Bedingung für die Sicherheit ihrer pazifischen Küste. Im Falle der Straße von Taiwan ist Kontrolle sogar für die Weltwirtschaft entscheidend (90% aller Container) und im Falle der Straße von Malakka für Europa (44% des Welthandels) überlebenswichtig.

Derzeit ist also mit demonstrativen Gesten Pekings, nicht aber mit einem auf Eroberung zielenden Angriff auf Taiwan zu rechnen. Zu einem derartigen Schritt ist Peking vermutlich frühestens in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts in der Lage, eher später. Zusätzlich ist zu bedenken, dass China sehr vorsichtig handelt und stets langfristig denkt. China braucht eine intakte Chip Industrie in Taiwan und die katastrophale demographische Entwicklung Chinas dürfte im Denken Pekings eine weit stärkere Rolle spielen als in den Lagebeurteilungen des Westens.

Europa muss die Entwicklung in Asien weit stärker als bislang im Auge behalten. Es darf nicht nur China sehen, sondern muss auch das bevölkerungsreichste Land der Welt, Indien, und den größten muslimischen Staat der Welt, Indonesien, bedenken. Europa muss wirtschaftlich wie militärisch seine Präsenz im asiatisch-pazifischen Raum verstärken und sichtbar machen. Dies gilt insbesondere auch für Deutschland, dass sich nicht mit Worten begnügen darf, das wegen seiner großen Abhängigkeit von China aber nur sehr eingeschränkt handeln kann. Dennoch muss Deutschland in einer Krise in Asien, in der existenzielle Risiken für die USA entstehen könnten, solidarisch sein, im äußersten Fall auch militärisch, wenngleich sehr begrenzt. Jedermann bei uns muss wissen, dass Unterstützung der USA in europäischen Krisen nur zu erreichen ist, wenn Europa auch in Krisen, in denen strategische Interessen der USA in Gefahr sind, Solidarität mit den USA zeigt. Nur dann ist im Gegenzug die Solidarität der USA zu erwarten, die wiederum Grundlage aller Sicherheit durch die NATO ist. Mehr als für alle anderen Staaten der NATO ist dies für Deutschland von existenzieller Bedeutung, denn Deutschland ist das einzige NATO-Land, dass verbindlich auf Herstellung und Besitz von Atomwaffen verzichtet hat.

Weitere Konflikte allerdings eher regionaler Dimension könnten im unruhigen Gebiet des Kaukasus, im West-Balkan und natürlich in Afrika entstehen. Sie werden Aufmerksamkeit und Kräfte binden, aber kaum die globalen Auswirkungen zeitigen wie die genannten drei Konfliktherde. Soweit der Blick auf die aktuellen Krisen in einer aus den Fugen geratenen Welt.

Folgerungen für Deutschland und Europa

Europa wie Deutschland bleiben somit durch beide Konflikte gebunden, vor allem die bleiben in Sicherheitsfragen abhängig von den USA. Sie müssen die amerikanische Bindung an Europa festigen. Dazu muss Europa seine Peripherie im Süden, Südosten und zunehmend auch im Norden schützen und so viel eigenständige Sicherheit vor Russland wie möglich suchen. Dies ist der einzig sichere Schutz vor den Ungewissheiten der Wahl in den USA im November 2024. Das Einhalten der Zusagen gegenüber der NATO ist dafür der erste, allerdings unumgängliche und vom Wahlergebnis in den USA unabhängige Schritt. Vor allem aber die im Bewusstsein der Deutschen in der Politik bereits versandende Zeitenwende muss endlich vollzogen werden. Wie Deutschland diese Verpflichtung erfüllen kann, gleichzeitig das heutige Verhältnis von investiven zu konsumtiven Ausgaben im Bundeshaushalt einhalten und dann auch noch die Schuldenbremse beachten kann, ist eine der großen ungelösten politischen Fragen des Jahres 2024. Sie muss gelöst werden in einer Wohlfühl- Gesellschaft, die neu lernen muss, dass es ein Leben ohne Risiko nicht gibt. Dazu müssen die Deutschen verstehen, was Zeitenwende wirklich heißt. Es geht es nicht nur um den Wiederaufbau der ab 2000 verantwortungslos abgebauten Bundeswehr und die Wiederherstellung einer leistungsfähigen, nachhaltig produzierenden Rüstungsindustrie, sondern es geht um eine grundsätzliche Wende des Denkens in Deutschland. Die Deutschen haben verlernt, was den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg möglich gemacht hat: Die Bereitschaft, Lasten zu tragen, Opfer zu bringen, Risiko auf sich zu nehmen, der Mut und die Kraft Neues zu gestalten, ist verloren gegangen, erstickt von einer VollkaskoMentalität, in der die Menschen verlernt haben, dass Gemeinwohl Vorrang vor dem Einzelwohl hat. Wir haben uns einlullen lassen von einer Politik, die uns glauben machte, die drei Säulen unseres Wohlstands, billige Energie von Russen, ergiebige Absatzmärkte in China und billige Sicherheit durch die USA, würden beständig sein. Das ist vorbei. Wandel durch Handel war ein Trugschluss, Schlafwandeln statt Handeln war ein Fehler. Der seit Jahren geforderte Ruck muss endlich durch unsere Gesellschaft gehen, doch dazu ist Führung gefordert, Führung von vorne, nicht bequem aus der Meute, angepasst an Meinungsumfragen. Das ist der Kern der Zeitenwende. Wir stehen vor der dringenden Notwendigkeit, uns auf raue Winde einzustellen, dazu könnte auch eine erneute Präsidentschaft Trump zählen. Darüber zu sprechen reicht einfach nicht, es muss gehandelt werden. Im Bereich Sicherheit heißt das, dass Deutschland wie Europa verstehen müssen, was mit den schon heute unzureichend zu nennenden 2% als Untergrenze zu erreichen ist: Wieder verteidigungsbereit werden, an nuklearer Teilhabe festzuhalten und Abschied von den nicht realisierbaren Gedankenspielen einer Russlands Atommacht ausgleichenden, eigenständigen europäischen Atommacht und der Fata Morgana einer europäischen Armee zu nehmen.

Verteidigungsbereit heißt im gesamten NATO- Gebiet und seiner Peripherie europäische Komponenten der NATO in allen fünf Dimensionen moderne Kriegführung : Land, Luft, See, Weltraum und Cyber einsatzbereit zu machen. Peripherie heißt auch den eisfrei werdenden Arktischen Ozean zu bedenken und in der Lage zu sein zum globalen Schutz der freien Seewege beizutragen. Zusätzlich müssen europäische Streitkräfte zu Hilfe in Katastrophen weltweit bereit sein, vor allem aber müssen sie vermehrt auch die Konflikte im Auge behalten, in denen die USA europäische Unterstützung erwarten. Für die Planung einer künftigen Bundeswehr heißt das, noch einmal intensiv über eine Verstärkung der Marine, die Fähigkeit zur Kriegführung mit und gegen Drohnen und die deutlichere Ausformung von Cyber und AI-Fähigkeiten nachzudenken.

Die unumgänglichen Konsequenzen für das politische Handeln Deutschlands müssen jetzt konzipiert werden, damit Deutschland bei den anstehenden internationalen Orientierungen, also am besten bereits beim NATO-Gipfel in Washington, spätestens aber im Vorfeld des Entstehens einer künftigen US-Regierung handlungsfähig ist.

Dazu gilt es eine entscheidende Voraussetzung im Inneren und möglichst parteiübergreifend zu schaffen: Staat und Gesellschaft müssen begreifen, dass eine verteidigungsbereite Bundeswehr und eine zum Handeln auch in der Konfrontation entschlossene und zum Schutz von Recht und Demokratie bereite Gesellschaft Voraussetzung für den Erhalt des Friedens in Europa und der dafür unersetzlichen transatlantischen Bindung sind.

Wir müssen gemeinsam endlich erkennen, dass das bequeme „Weiter so“ keine Lösung ist und vor allem, dass wir keine Zeit haben. Jetzt ist Handeln geboten, entschlossenes Handeln, auch wenn das Risiko bedeutet, dann kann man auch die Menschen für entschiedenes Eintreten und für Verantwortung für unsere Freiheit gewinnen. Wir müssen wieder lernen, dass Freiheit niemals Freiheit von allen Bindungen bedeutet, sondern die Verantwortung voraussetzt für den Erhalt von Freiheit einzutreten, dass es keine Rechte gibt, ohne auch Pflichten zu übernehmen. Meine Generation hat versucht, das zu leben, heute können wir Al nur noch mahnen, das Vermächtnis von fast 60 Jahren in den 75 Jahren Erfolg in der NATO zu wahren: Frieden und das größte Glück in unserer Geschichte der letzten Jahrhunderte, die deutsche Einheit und Deutschlands unwiderrufliche Verankerung im freien, demokratischen Westen.

Diese 75 Jahre waren nicht immer einfach, aber eine Leitlinie galt immer: Angst ist ein schlechter Ratgeber. Sie erzeugt die Neigung, jedes Risiko zu vermeiden und Zögerlichkeit. Dies als Besonnenheit zu verkaufen, um damit den Frieden zu sichern, dürfte bei einem Gegenspieler wie Putin nur dazu führen, die Tür zum nächsten, größeren Krieg weit aufzumachen.

Europa bleibt nicht viel Zeit. Wir alle müssen uns besinnen, dass nur in Sicherheit Wohlstand zu erhalten und Frieden und Freiheit zu garantieren sind. Denken Sie daran, was für Willy Brandt Voraussetzung war als er vom Frieden sprach: Sicherheit ist nicht alles, aber ohne Sicherheit ist alles nichts. Für Deutschland hieß das beim NATO-Beitritt 1955: Ein Angriff auf einen von uns, ist ein Angriff auf alle von uns. Diese Formel hat uns die längste Friedenszeit unserer Geschichte gebracht. Sie gilt unverändert, aber wirken kann sie nur, wenn wir alle, vor allem unsere Jugend, bereit sind, auch künftig Risiken zu teilen, Lasten gemeinsam zu tragen und zusammen die Vision von haltbarem Frieden in der transatlantischen Welt zu verwirklichen.

Zu Gast:

General a.D. Dr. h.c. Klaus Naumann

Vorsitzender, NATO-Militärausschuss (1996 – 1999); Generalinspekteur der Bundeswehr (1991 –1996)

Dr. h.c. Klaus Naumann, General a.D., geboren 1939 in München, trat 1958 in die Bundeswehr ein und stieg nach Verwendungen in der Truppe, Verwendungen im Verteidigungsministerium und in der NATO Ende 1991 von der Position des Kommandierenden Generals des I. Korps in Münster zum Generalinspekteur der Bundeswehr auf.

In seine Amtszeit bis Februar 1996 fielen die Reorganisation und Reduzierung der Bundeswehr, die Auflösung und Teilintegration der Nationalen Volksarmee der früheren DDR, die innere Umstellung der Bundeswehr von Heimatverteidigung auf Einsätze im Rahmen von UN und NATO und die ersten Auslandseinsätze der Bundeswehr in Kambodscha, Somalia, Georgien, im Irak und auf dem Balkan.

Von Februar 1996 bis Mai 1999 war Naumann als Vorsitzender des Militärausschusses der oberste Soldat der NATO. In dieser Zeit wurde die bis Herbst 2010 gültige Strategie der NATO erarbeitet, es begann die Partnerschaft für den Frieden und die Zusammenarbeit mit Russland, die NATO nahm Polen, die Tschechische Republik und Ungarn und es begannen die Operationen in Bosnien und der Luftkrieg im Kosovo im März 1999. Nach seiner Versetzung in den Ruhestand im Mai 1999 übernahm er eine Reihe ehrenamtlicher Aufgaben. In Deutschland war dies vor allem die Präsidentschaft der Clausewitz-Gesellschaft, der Deutsch-Britischen Offiziervereinigung und die Vize-Präsidentschaft der Deutschen Atlantischen Gesellschaft. International wurde Naumann unter anderem vom IISS London in dessen Beirat, vom ICRC in Genf als International Advisor und von Kofi Annan in das so genannte Brahimi Panel der Vereinten Nationen berufen. Er war dann Mitglied der Internationalen Kommission zu Intervention und staatlicher Souveränität ( ICISS ), die im Dezember 2001 ihren Bericht „The Responsibilty to Protect“ vorlegte. Ab Mitte Oktober 2008 war er Mitglied der International Commission on Nuclear Non-Proliferation and Disarmament. Er ist im Vorstand der deutschen Atlantischen Gesellschaft, Mitglied des Kuratoriums der Gesellschaft für Sicherheitspolitik und war von 2005 an 14 Jahre Mitglied des Senats der Deutschen Nationalstiftung.

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Michael Simon

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