Deutsche Atlantische Gesellschaft e.V.
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Sonderausgabe des Munich Security Report

Wir möchten auf die Sonderausgabe des Munich Security Reports der MSC hinweisen, der, Dreißig Jahre nach der deutschen Vereinigung und sechs Jahre nach den Reden des „Münchner Konsenses“, einen Überblick über die strategische Lage der deutschen Außenpolitik zu geben versucht:

MSC_Germany_Report_10-2020_De

Zusammenfassung (S. 11 – 15)

»30 Jahre nach der Deutschen Einheit ist die Bundesrepublik Deutschland mit enormen Herausforderungen konfrontiert. Europas Sicherheit ist bedroht, Europas Demokratien sind in der Defensive.

Kontext

Wir befinden uns inmitten einer weltpolitischen Zeitenwende, in der sich außenpolitische Gewissheiten der Bundesrepublik auflösen. Kennzeichnend für das neue Umfeld sind die Schwächung einer über Jahrzehnte aufgebauten internationalen Ordnung, der Aufstieg Chinas und die Rückkehr zu einer Machtpolitik, die sich über internationale Normen hinwegsetzt. Dazu kommen einschneidende Folgen des Klimawandels und ein rapider technologischer Umbruch.

Diese Tendenzen werden verschärft durch eine allmähliche Reorientierung der Vereinigten Staaten, die weiter zurückreicht als 2016. Washingtons relative Machtposition hat nachgegeben. Die USA sind heute weniger in der Lage, Garant der internationalen Ordnung zu sein, und weniger bereit, überproportionale Beiträge zu leisten. Unter Präsident Trump sehen sie den Erhalt der regelbasierten Ordnung und ihrer Institutionen auch nicht länger als Priorität.

Viele dieser Herausforderungen sind nicht neu. Seit Jahren versuchen die europäischen Demokratien, Antworten auf sie zu finden. Bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 artikulierten führende Vertreter der Bundesrepublik das, was später als „Münchner Konsens“ bezeichnet wurde: Deutschland sei bereit, international „mehr Verantwortung“ zu übernehmen und wolle sich „früher, entschiedener und substanzieller“ engagieren.

Sechs Jahre später lässt sich feststellen: Deutschland hat sein außen- und sicherheitspolitisches Engagement in vielen Bereichen verstärkt. Es hat an internationalen Brennpunkten – zum Beispiel im Fall des russisch-ukrainischen Konflikts – eine Führungsrolle übernommen. Es hat seine Ausgaben für Verteidigung seit 2014 um etwa 40 Prozent erhöht. Es beteiligt sich an militärischen Operationen im Rahmen von VN, EU und NATO und ist mit

militärischen Kräften an der Ostflanke des Bündnisses präsent. Es hat 2020 gemeinsam mit Frankreich ein beispielloses Wiederaufbau-Paket vorgeschlagen und die Weichen dafür gestellt, dass die EU gestärkt aus der CoronaKrise hervorgehen kann.

Und doch bleibt das deutsche Engagement nicht nur hinter den Erwartungen zurück, die die wichtigsten Partner an Deutschland herantragen. Es entspricht auch nicht den Anforderungen, die sich aus dem strategischen Umfeld ergeben. Deutsche Außenpolitik verändert sich – aber die Welt um uns herum verändert sich schneller.

Seit 2014 hat sich die Erosion der regelbasierten Ordnung weiter beschleunigt. Deutschland hatte sich wie kaum ein anderes Land in der maßgeblich von den USA garantierten Ordnung eingerichtet und von dieser profitiert. Entsprechend ist die Bundesrepublik nun disproportional von deren Erosionserscheinungen betroffen. Das bisherige „Geschäftsmodell“ Deutschlands ist obsolet – wirtschafts- wie sicherheitspolitisch. Graduelle Anpassungen können keine Abhilfe schaffen.

Deutschland steht absehbar vor einer schicksalhaften Entscheidung: Es kann sich entschlossen für den „europäischen Imperativ“, für eine Stärkung Europas einsetzen, um so deutsche und europäische Interessen wirksam zu verteidigen. Oder Deutschland verzichtet auf die Gestaltung des Wandels, belässt es beim status quo und stellt sich darauf ein, dass EU-Europa zu einem „Anhängsel Eurasiens“ mutiert, das von anderen Mächten dominiert wird.

Die hier beschriebenen Gefahren werden von vielen Beobachtern wahrgenommen. Auch in der deutschen Politik wird immer wieder konstatiert, dass wir eine weltpolitische Zeitenwende erlebten und Europa sein Schicksal in die eigene Hand nehmen müsse. Was bislang fehlt, ist ein von der politischen Klasse getragener Wille zu einer neuen deutschen Außenpolitik, die ein „souveränes Europa“ erst möglich macht. Die Bausteine dafür lassen sich jedoch unschwer identifizieren.

Aufgaben

Die erste Aufgabe besteht in der Stärkung der EU und der Verbesserung ihrer Handlungsfähigkeit. Dafür muss Deutschland von einer Status-quo-Macht zu einer „enabling power“, einer „Möglich-Macher-Macht“ werden. Nur wenn Deutschland sich der Führungsrolle stellt, die ihm als größter Mitgliedstaat der Union zukommt, wird Europa in der Lage sein, souverän zu handeln und

europäische Interessen wirksam zu verteidigen. Selbstverständlich kann Deutschland eine solche Führungsrolle nur in enger Abstimmung mit den EU-Partnern einnehmen – an erster Stelle mit Frankreich.

Eine deutsche Führungsrolle ist Voraussetzung für Europas Handlungsfähigkeit in allen Bereichen der Außen- und Sicherheitspolitik. Das gilt für den Umgang mit globalen Gefährdungen wie Erderwärmung, Migration oder Pandemien. Es gilt auch für den Wettbewerb im Bereich der Künstlichen Intelligenz und anderer strategischer Technologien.

Der Erhalt enger Beziehungen zum Kernverbündeten USA und einer amerikanischen Sicherheitsrolle in Europa wird ebenfalls davon abhängen, dass die EU sich stärker und überzeugender einbringt. Berlin sollte sich für eine europäische Engagement-Strategie gegenüber den USA einsetzen, welche die gemeinsamen Interessen herausstellt und über alle verfügbaren Kanäle kommuniziert, nicht nur mit der Regierung in Washington, sondern ebenso mit dem Kongress, mit den Bundesstaaten, mit der Wirtschaft und mit der Zivilgesellschaft der Vereinigten Staaten.

Die Stärkung der politischen Handlungsfähigkeit der EU ist ebenso Voraussetzung für eine glaubwürdige europäische Politik gegenüber Russland und China. Angesichts des rasanten Aufstiegs und der inneren Verhärtung Chinas sowie der dynamischen Entwicklung im asiatisch-pazifischen Raum bedarf es dringend einer gemeinsamen Asien-Politik der EU.

Russland stellt die europäische Sicherheitsordnung in Frage. Alle Versuche der letzten Jahre, mit Moskau in einen partnerschaftlichen Dialog einzutreten, sind gescheitert. Kanäle für den Dialog müssen offengehalten werden, aber kurzfristig geht es um die Stärkung von Verteidigung und Abschreckung sowie den Aufbau von Resilienz.

Mit Blick auf die Nachbarregionen Europas, insbesondere auf Afrika und den Nahen Osten, gilt es, auf Stabilisierung hinzuwirken und Entwicklungspotentiale zu öffnen.

Aufstellung

Um Europa handlungsfähig zu machen, muss Deutschland zunächst auf nationaler Ebene seine strategischen Interessen definieren und seinen außenpolitischen Apparat inklusive der Entscheidungsprozesse modernisieren.

Das beginnt mit der Weiterentwicklung der „strategischen Kultur“. Notwendig erscheint ein von der Bundesregierung regelmäßig vorzulegendes nationales Strategie-Dokument, wie es bei allen wichtigen Verbündeten und Partnern üblich ist. Ein solches Papier und Zwischenberichte auf jährlicher Basis könnten Gegenstand von Debatten im Bundestag sein und dazu beitragen, in der Öffentlichkeit größeres Bewusstsein für die wichtigsten internationalen Themen zu schaffen. Unabhängig davon sollte der Bundestag wie von vielen Abgeordneten vorgeschlagen – häufiger über grundsätzliche Fragen der Außenpolitik debattieren.

Der Apparat der Bundesregierung in der Außen- und Sicherheitspolitik hat sich seit den 1960er Jahren kaum weiterentwickelt, obgleich die Welt um uns herum immer komplexer und Reaktionszeiten immer kürzer geworden sind. Eine Verbesserung unseres Apparats, ob durch die systematischere Nutzung und den Ausbau des Bundessicherheitsrats oder die Schaffung neuer Koordinierungsstrukturen, erscheint notwendig. Eine solche Neuaufstellung wird in einer Koalition immer auch als Machtfrage gesehen werden. Bei genauer Betrachtung wäre sie jedoch keineswegs ein Nullsummenspiel für die beteiligten Ressorts und Koalitionspartner. Der Blick auf unsere wichtigsten Partner und Verbündeten macht deutlich: Starke Ressorts und effektive Koordinierung sind keine Gegensätze.

Außen- und Sicherheitspolitik in Zeiten großer Turbulenz muss durch ausreichende Ressourcen unterlegt sein. Das gilt für Diplomatie, Entwicklungszusammenarbeit und Verteidigung gleichermaßen. Im langfristigen Vergleich ist der Anteil der Ausgaben für „Internationales“ im Bundeshaushalt erheblich gesunken und der heutigen Lage nicht mehr angemessen. Durch die Verringerung der amerikanischen Militärpräsenz in Europa – ein Trend, der wohl unabhängig vom Ausgang der US-Wahlen anhalten wird wachsen die Anforderungen zusätzlich. Deutschland wird nicht umhinkommen, mehr Ressourcen zu mobilisieren, wenn Europa außenpolitisch – und verteidigungspolitisch – handlungsfähig werden soll.

Handlungsfähigkeit nach außen erfordert Standfestigkeit im Inneren: Die Covid-19-Pandemie hat in dramatischer Weise deutlich gemacht, wie wichtig das Thema Resilienz ist. Gemeinsam mit den Partnern in der EU muss die Bundesregierung prüfen, ob wir zum Beispiel bei der CyberSicherheit ausreichend gewappnet sind.

Gute Außenpolitik und die Mobilisierung entsprechender Ressourcen ist auf die Akzeptanz, besser noch die Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger angewiesen. Dass diese einen Begriff davon haben, wie schwerwiegend die internationalen Herausforderungen sind, lässt sich an einer neuen, eigens für diesen Report durchgeführten Umfrage deutlich ablesen: 75 Prozent der Befragten gehen davon aus, dass es in den nächsten Jahren mehr Krisen und Konflikte geben wird.

Die Deutschen bleiben, das zeigt unsere Umfrage, weltoffen und multilateral eingestellt. Sie lassen sich durchaus überzeugen, außenpolitisch mehr zu tun, wenn die Politik gute Argumente dafür liefert. Bei der Bewältigung der Corona-Krise hat Deutschland Führung gezeigt und Europa zusammengehalten. Jetzt ist es Zeit, die Weichen für eine deutsche Außenpolitik zu stellen, die dazu beiträgt, Europa in allen Bereichen der Außen- und Sicherheitspolitik zu einem handlungsfähigen und respektierten Akteur in der Welt zu machen.

Die Zeitenwende erfordert nicht weniger als Wendezeiten in der deutschen Außenpolitik.«
- Munich Security Conference

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