Deutsche Atlantische Gesellschaft e.V.

Aktive Nuklearpolitik statt politischer Illusionen

Ausgabe 40: Dr. Karl-Heinz Kamp

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Es ist mittlerweile eine Binsenweisheit, dass der Krieg Russlands gegen die Ukraine die Grundfesten europäischer und transatlantischer Sicherheit erschüttert hat und lang gepflegte Glaubenssätze zur Disposition stellt. Nicht ganz so verbreitet ist aber bislang die Einsicht, dass dies auch den heiklen Bereich der nuklearen Abschreckung betrifft, in dem Moskaus atomare Drohungen den Abschied von bequemen Lebenslügen erfordern.

Der Traum von der nuklearwaffenfreien Welt, vom ehemaligen US-Präsidenten Obama formuliert und von den Vereinten Nationen mittlerweile zum Programm erhoben, hat sich als das herausgestellt, was es schon immer war – eine Illusion ohne jede Aussicht auf Erfolg. Auch die Hoffnung, man könnte den nuklearen Geist, wenn schon nicht in die Flasche zurück, dann doch zumindest durch internationale Verträge und wechselseitige Verpflichtungen unter Kontrolle bringen, ist zumindest mit Blick auf Russland zerstoben.

Stattdessen ist die Idee der nuklearen Abschreckung, lange Zeit eher ein strategisches Gedankenspiel für Experten, auf einmal wieder sehr real geworden. Sie ist der einzige Weg, Russlands Machtstreben und seine Aggressivität gegenüber Nachbarn in die Schranken zu weisen – allerdings ohne, dass eine Erfolgsgarantie gleich mitgeliefert wird. Diese Einsicht betrifft auch Staaten wie Deutschland, die aus guten Gründen nicht über eigene Kernwaffen verfügen und ihre Abschreckungs-Bedürfnisse an die USA als Führungsmacht der NATO delegiert haben. Sie haben ein vitales Interesse am Erhalt eines glaubwürdigen amerikanischen Atomschirms und müssen hierzu im Rahmen der NATO ihren Beitrag leisten. Das gilt insbesondere für Deutschland, das aufgrund seiner Größe und seiner geostrategischen Lage eine zentrale Rolle im Atlantischen Bündnis einnimmt.

Die nuklearen Dilemmas

Sich mit der Notwendigkeit nuklearer Abschreckung zu befassen, heißt aber auch, die Schwächen und Widersprüche dieses Konzepts anzuerkennen. Zunächst muss man, damit Atomwaffen einen Gegner abschrecken können, glaubhaft vermitteln, dass man sie überhaupt besitzt. Vermeintliche Geheimwaffen, die nie jemand gesehen hat, haben in der Regel keinen Abschreckungseffekt. Neben der belegbaren Existenz von Kernwaffen muss darüber hinaus auch deren Einsatz glaubwürdig und plausibel sein. 

Das erfordert, neben technischen Gegebenheiten wie etwa ausreichende Trägersysteme (Flugzeuge, Raketen) auch politische und planerische Voraussetzungen, die zeigen, dass ein Kernwaffeneinsatz ernsthaft erwogen wird. Die häufig vorgenommene Einordnung von Kernwaffen als »politische Waffen«, die nie eingesetzt werden dürften, ist ein Selbstbetrug. Kernwaffen müssen militärisch einsetzbar sein, damit sie ihren politischen Zweck der Abschreckung erfüllen können.

Diese beiden Voraussetzungen markieren das Grunddilemma nuklearer Abschreckung: Der Einsatz von Kernwaffen muss trotz all seiner Schrecken plausibel sein, um das Risikokalkül eines potentiellen Aggressors so zu verändern, dass er von eventuellen Angriffsplänen ablässt. Oder anders formuliert: man muss Atomwaffen einsetzen können, um sie nicht einsetzen zu müssen. Dieses Dilemma ist so alt, wie die Idee nuklearer Abschreckung selbst und ist in der Vergangenheit immer wieder heftig debattiert worden.

Damit aber noch nicht genug – noch widersprüchlicher wird es mit Blick auf das auch für Deutschland geltende Konzept der „erweiterten Abschreckung“, in dem eine Nuklearmacht USA eine nukleare Schutzverpflichtung für ihre nicht-nuklearen Verbündeten übernimmt.

Eine solche Verpflichtung ist nämlich leichter gesagt als getan. Bereits im Kalten Krieg war es insbesondere die Frage der Glaubwürdigkeit der erweiterten Abschreckung gegenüber dem potentiellen Angreifer, welche die Gemüter erregte. Wie plausibel wäre es gewesen, dass Washington auf einen sowjetischen Angriff auf Norwegen, Deutschland oder die Türkei mit Kernwaffen reagiert hätte, wenn es dadurch selbst einem möglichen nuklearen Vergeltungsschlag durch Moskau ausgesetzt gewesen wäre? Sind die USA wirklich bereit, so wurde schon damals gefragt, New York oder Los Angeles zu riskieren, um West-Berlin oder Oslo zu retten? Wäre die Antwort darauf ein „nein“, so wäre die ganze Idee eines nuklearen Sicherheitsschirms wertlos.

Dieses Dilemma ist damals wie heute unauflöslich. Letztendliche Gewissheit über die Ernsthaftigkeit des amerikanischen Sicherheitsversprechens hätten die europäischen Verbündeten wohl erst nach einem womöglich nuklearen Angriff auf ihr Territorium – ein Szenario, dass es in jedem Fall zu verhindern gilt.

Ungeachtet dieser nur schwer zu akzeptierenden aber letztlich unauflöslichen Widersprüche ist die nukleare Abschreckung und insbesondere die erweiterte nukleare Abschreckung durch den amerikanischen Atomschirm für Deutschland ohne Alternative. Die immer wiederkehrende Mär einer gemeinsamen europäischen Nuklearstreitmacht im Rahmen der Europäischen Union hat keinerlei Chance auf Realisierung. Gerade nach seit dem 24. Februar 2022 ist die Vorstellung eines sicherheitspolitisch autonomen Europas endgültig vom Tisch. Insbesondere die Osteuropäer wollen ein solches rein europäisches Konstrukt nicht und fragen heute zu Recht, wo dieses Europa denn ohne die USA angesichts Moskaus Angriffskrieg geblieben wäre. Stattdessen liegt die Zukunft in der engen funktionalen Kooperation von NATO und EU, wobei die nukleare Abschreckung eindeutig über die NATO und damit vor allem von den USA bereitgestellt wird.

Deutschlands nukleare Zukunft gestalten 

Wenn Kernwaffen eine Konstante in der internationalen Sicherheitspolitik darstellen und wenn nukleare Abschreckung trotz all ihrer Widersprüche ein Kernelement deutscher, europäischer und transatlantischer Sicherheitsvorsorge bleibt, dann ist es zwingend, dass sich auch die deutsche Politik wieder mit nuklearstrategischen Fragen befasst. Dazu gehört nicht nur, dass man die nuklearen Realitäten der internationalen Politik zur Kenntnis nimmt und die Notwendigkeit der nuklearen Abschreckung als ein wesentliches Element deutscher Sicherheitspolitik begreift. Wichtig ist darüber hinaus, den neuen nuklearen Realismus dauerhaft in den Köpfen der politischen Eliten zu verankern.

Notwendig ist deshalb das, was in der NATO seit Längerem als „Rising the nuclear IQ“ bezeichnet wird – also die Förderung des nuklearen Wissens oder des nuklearen Intelligenzquotienten zumindest unter politischen Entscheidungsträgern und denjenigen, die im engeren oder weiteren Umfang mit sicherheitspolitischen Themen befasst sind. Das beginnt mit der Ausbildung an den Universitäten und setzt sich fort in Regierung, Verwaltung und Parlament. Hier kommt den militärischen und politischen Akademien und Fortbildungs-Institutionen in Deutschland eine besondere Verantwortung zu.

Neben der nationalen Debatte muss Deutschland auch die Nukleardebatte in der NATO vorantreiben. Ein solcher Diskussionsbedarf im Bündnis ist offensichtlich. Wenn der Ukraine-Krieg die europäische Sicherheitsordnung zerstört, Russland als Partner der NATO dauerhaft disqualifiziert und einen gewaltigen sicherheitspolitischen Reformbedarf hervorbringt, dann kann die Nuklearstrategie davon nicht ausgenommen bleiben. Dabei ist ein solcher Strategieprozess beileibe keine leichte Aufgabe, zumal die NATO nach der Aufnahme Schwedens und Finnlands auf 32 Mitgliedsstaaten angewachsen ist, die teilweise unterschiedliche politische und geostrategische Interessen verfolgen. 

Noch schwieriger wird es, weil mindestens zwei explosive Themen angegangen werden müssen: Zum einen die Frage, ob eine neue nukleare „Nachrüstung“ erforderlich ist, um das Nuklearpotential der NATO an die neue Bedrohung durch ein aggressives und unberechenbares Russland anzupassen. Zum anderen steht die Frage der Stationierungsorte der amerikanischen Atomwaffen in Europa im Raum. Müssten diese Atombomben nicht von ihren bisherigen Stationierungsorten in Deutschland, Belgien und den Niederlanden weiter östlich nach Polen oder ins Baltikum verlegt werden, wie es etwa die polnische Regierung schon lange fordert? Die Antworten auf diese Fragen müssen nicht zwingend ein „ja“ sein, sie schlicht zu ignorieren ist aber auch keine Option.

Dies sind nur einige Schritte, mit denen Deutschland die nukleare Realität mitgestalten kann. Weitere Optionen ergeben sich, je nachdem wie sich die Situation in Russland oder im Nahen und Mittleren Osten weiterentwickelt. Würde etwa der Iran Nuklearmacht, bestünde die Gefahr, dass Saudi Arabien ebenfalls nach Kernwaffen streben würde. Das könnte die internationale Abschreckungsgeometrie völlig verändern.

Eine aktive deutsche Nuklearpolitik erfordert vor allem, dass Deutschland den eingeschlagenen Weg der Zeitenwende auch im Nuklearbereich weitergeht und nicht wieder in sicherheitspolitische Lethargie zurückfällt, sobald akute Krisen halbwegs unter Kontrolle scheinen.

Ein Beitrag von:

Dr. rer. pol. Karl-Heinz Kamp

Ehemaliger Beauftragter des Politischen Direktors, BMVg

Dr. Karl-Heinz Kamp wurde am 21. Juni 1957 in Bonn geboren. Er studierte von 1980 bis 1985 Geschichte und Sozialwissenschaften an der Universität Bonn. Nach einem sicherheitspolitischen Stipendium arbeitete er von 1989 bis 2003 bei der Konrad-Adenauer-Stiftung als Abteilungsleiter und promovierte 1992 an der Universität der Bundeswehr Hamburg. Von 2007 bis 2013 war er Research Director am NATO Defense College in Rom und von 2015 bis 2019 Präsident der BAKS, bevor er 2019 (bis 2023) zum Beauftragten des Politischen Direktors im Bundesministerium der Verteidigung ernannt wurde. Dr. Kamp ist Mitglied der Deutschen Atlantischen Gesellschaft.

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