Seit Jahren steckt die NATO in einem Dilemma: Einerseits möchte sie eine Politik der offenen Tür beibehalten, andererseits schreckt sie vor einer Provokation Russlands zurück und eröffnet ehemaligen Republiken der Sowjetunion keine konkrete Mitgliedschaftsperspektive.
Denn schon die Grundsatzdokumente der OSZE, die das Ende des Kalten Krieges besiegelt haben, enthalten einen Widerspruch: Das Prinzip der Bündnisfreiheit steht der Unteilbarkeit der Sicherheit gegenüber. Mit anderen Worten: Jedes Land kann seine Bündnisse und außenpolitische Orientierung frei und ohne Einschränkungen wählen, jedoch mit Rücksicht auf die Sicherheitsbedenken der Nachbarn.
Dies lässt einen großen Raum für Interpretation und eröffnet Tür für Konflikte. Russland hat mit Verweis auf das eigene Sicherheitsinteresse jahrelang die (bereits geschehene wie potentielle) NATO-Osterweiterung beklagt, und sie sogar als Rechtfertigung für den Beginn der Invasion der Ukraine genutzt. Dabei denkt der Kreml in Einflusssphären und verkennt, dass die NATO-Erweiterung keinen Automatismus und keinen US-Expansionismus beinhaltet. Vielmehr folgt sie dem aktiven Beitrittsgesuch von entsprechenden Staaten, falls es im Konsens angenommen wird.
Mit dem Beginn der russischen Invasion der Ukraine ist die nach 1989 entstandene Sicherheitsordnung stark erschüttert worden. Krieg ist in das Bewusstsein der Europäer zurückgekehrt. Die repräsentative Bevölkerungsumfrage „Security Radar“ der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt, dass Menschen Angst vor neuen Kriegen haben und eine Militärkonfrontation zwischen Russland und dem Westen für wahrscheinlich halten. Die Umfrage wurde in vier Staaten unmittelbar vor dem Ausbruch des Krieges und ein Jahr später erneut durchgeführt.
Die Ukraine steckt nun in einer denkbar schlechten Situation: Krieg auf eigenem Boden und Kontrollverlust über Teile des Staatsgebiets; diffuses Versprechen einer NATO-Mitgliedschaft seit 2008 ohne einen membership action plan; und keine klare und zeitlich definierte Beitrittsperspektive. Dies soll sich nun ändern, so der Wunsch der ukrainischen Regierung. Noch in der frühen Phase des Krieges, Ende März 2022, lag bei den Verhandlungsversuchen die Frage der Neutralität der Ukraine auf dem Tisch. Seitdem hat die Ukraine einen festen Kurs hin zur NATO-Integration eingeschlagen, getragen von einer breiten nationalen Zustimmung und verankert in der Verfassung. Ein NATO-Beitritt ist im Interesse der Ukraine, weil damit die Souveränität extern gesichert werden würde.
Auf dem NATO-Summit in Vilnius am 11. und 12. Juli 2023 wird sich die Frage des Beitritts erneut stellen. Die Ukraine drängt auf ein festes Versprechen einer Mitgliedschaft für die Zeit nach dem Krieg, sowie Sicherheitsgarantien in der Zwischenzeit. Präsident Selenskij und Verteidigungsminister Resnikow warnen den Westen davor, nicht „den Fehler von 2008“ zu wiederholen. Eine Ukrainische NATO-Mitgliedschaft sei „nicht verhandelbar“.
Die europäische öffentliche Meinung dazu ist in Bewegung und keinesfalls eindeutig. Die Umfrage „Security Radar“ zeigt, dass die Menschen in Deutschland einen NATO-Beitritt der Ukraine mehrheitlich ablehnen, während die Polen und Letten ihn begrüßen. Französische Befragte sind unentschieden. In allen vier Ländern ist die Zustimmung im Vergleich zu der Zeit vor dem Beginn der Invasion gestiegen, dennoch sind die Unterschiede zwischen „Ost“ und „West“ in der NATO gewaltig. Die Frage nach dem potentiellen EU-Beitritt der Ukraine stößt auf mehr Wohlwollen, polarisiert aber auch stark.
Wie sieht es in Bezug auf die Gewährleistung der ukrainischen Sicherheit aus? Aus gewisser Perspektive leistet der Westen durch seine finanzielle und militärische Unterstützung bereits einen entscheidenden Beistand für die Ukraine. Der ukrainische Staat gibt einen Großteil des Budgets für Verteidigung aus und hängt fast komplett von der westlichen Finanzhilfe ab. Ohne westliche Waffenlieferungen könnten die ukrainischen Soldaten wahrscheinlich nicht weiterkämpfen. Den einzigen potentiellen game changer und die wirksamste Sicherheitsgarantie, die Entsendung der eigenen Truppen, haben US Präsident Joe Biden und Bundeskanzler Olaf Scholz deutlich abgelehnt. Die Begründung lautet: Wir wollen keinen Krieg mit Russland.
Dabei folgen die Regierungschefs genau der roten Linie, die ihr Elektorat vorgibt. In Deutschland, Frankreich, Lettland und Polen lehnen überwältigende Mehrheiten die Entsendung eigener Truppen in die Ukraine ab – eine Frage, die sich durchaus im Falle eines NATO-Beitritts der Ukraine stellen könnte. Der „Security Radar“ verdeutlicht außerdem, dass die Frage nach Waffenlieferungen die Gesellschaften polarisiert: Nur knappe Mehrheiten sind dafür, ähnlich viele Menschen lehnen mehr Militärhilfe für die Ukraine ab.
Die meisten Befragten geben Russland unmissverständlich die Schuld für den Krieg und wollen das Land bestraft sehen, nicht zuletzt durch wirtschaftliche Abkopplung und die Ausweitung der Sanktionen. Die NATO-Osterweiterung wird von vielen kritisch gesehen, vor allem in Deutschland und Frankreich. Dennoch betrachten die meisten Befragten den Krieg aus einer gewissen Distanz: Sie sehen ihn nicht als einen Stellvertreterkrieg zwischen Russland und dem Westen bzw. der NATO, sondern als eine bilaterale Angelegenheit zwischen Russland und der Ukraine.
Die Ukraine hat jeden Grund, in die NATO aufgenommen werden zu wollen und jedes Recht, das Beitrittsgesuch zu stellen. Die Beitrittsperspektive ist jedoch nur unter zwei Voraussetzungen realistisch. Die erste ist das – bisher nicht absehbare – Ende des Krieges und die Erreichung eines halbwegs stabilen Zustands zwischen der Ukraine und Russland. Die zweite ist das Votum der 31 Bündnismitglieder, was eine inhärent politische Frage ist. Dabei spielt eine wichtige Rolle, ob die NATO durch den Beitritt der Ukraine sicherer wird oder nicht. Hinzu kommen 31 innenpolitische Debattenfelder. Das Veto Ungarns und der Türkei bezüglich des schwedischen Beitritts lässt die Problematik deutlich erkennen. Am Ende des Tages entscheiden die zum gegebenen Zeitpunkt amtierenden Regierungen mit ihren jeweiligen Interessen und Agenden. Insofern sollten die Bündnismitglieder in Vilnius expectation management betreiben und gleichzeitig ihr Engagement für die Wiederherstellung der ukrainischen Souveränität bekräftigen.