Deutsche Atlantische Gesellschaft e.V.

Deutschland muss Krieg spielen

Ausgabe 46: Dr. Philip Jan Schäfer, Dr. Joseph Verbovszky, Prof. Dr. Gary S. Schaal

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Angesichts der andauernden Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten, wachsender geopolitischer Spannungen zwischen den USA und China sowie einer zunehmenden Hybridität in der Kriegs- und Konfliktführung muss Deutschland sein strategisches Bewusstsein anpassen. Dafür bietet das so genannte Planspiel – auf Englisch „Wargame“ – ein Instrument. „Wargames“ sind mehr als Kriegsspiele. Damit ist ein spezifisches Format gemeint, welches auch immer stärker als Forschungsmethode internationaler Beziehungen Verwendung findet.

Wargames erleben in letzter Zeit eine Renaissance, werden allerdings vor allem jenseits ihres militärisch und politisch-strategischen Ursprungs – und zunehmend in der Wirtschaft – eingesetzt. Hier helfen Wargames, das Zusammenspiel von staatlichen und privaten Akteuren in einem hybriden Umfeld zu trainieren. Die (Neu-)Entdeckung der Wargames ist im Interesse Deutschlands, einem Land, welches immer stärker von hybriden Akteuren unter Druck gesetzt und durch geoökonomische Entwicklungen unter Zugzwang gebracht wird. In solchen hybriden und geoökonomisch geprägten Kontexten schafft das Wargame ein Grundverständnis für Handlungskontexte und die oft nicht-intendierten Konsequenzen eigenen Handelns. Wargames spannen einen Mikrokosmos internationaler Beziehungen auf, in welchem die Spieler eigene Vorannahmen testen und Entscheidungssituationen simulieren können. Durch solche spielerischen Simulationen werden Spieler zudem mit ihren eigenen Vorurteilen und Konsequenzen ihres Handelns (bzw. Nicht-Handelns) konfrontiert, und bekommen diese exemplarisch illustriert. Mit dem Erfahrungsgewinn können Entscheidungsträger aus Politik und Wirtschaft ihre Entscheidungsfähigkeit sowie ihre Zusammenarbeit verbessern.

Wargames – Eine Renaissance

Der Ursprung der Wargames liegt in Deutschland. Der preußische Generalstab entwickelte das erste militärische Planspiel (Kriegsspiel), um vor allem taktische Bewegungen auf dem Schlachtfeld zu simulieren und die eigene Taktik weiterzuentwickeln. Insbesondere der Sieg über Frankreich 1871 ist vermutlich in Teilen auf das Kriegsspiel des Generalstabs und die Simulation unterschiedlichster Konfliktformen und ‑verläufe zurückzuführen. Schnell entdeckten andere Akteure das Wargame als Mittel, sowohl Taktik als auch Strategie zu simulieren, anzupassen und so zu verbessern. Im Kalten Krieg waren Wargames für die militärischen Planer in den USA eine besonders beliebte Methode, die Frage zu stellen, ob und unter welchen Umständen Entscheider den Einsatz von Nuklearwaffen in Betracht ziehen. Interessanterweise wurde nach Freigabe der bisher unter Verschluss gehaltenen Ergebnisse solcher Wargames klar, dass an Wargames teilnehmende Vertreter aus Politik und Militär auf den Gebrauch von Nuklearwaffen in Wargames verzichtet haben.

Nach dem Kalten Krieg änderte sich die geopolitische Lage und somit verloren die bisher zur Simulation der Dynamiken einer Blockkonfrontation angewandten Wargames an Bedeutung. Mit dem zumindest auf absehbare Zukunft angenommenen Wegfall der Gefahr einer geopolitisch verstandenen Blockkonfrontation wurden Wargames in den Bereich von Spezialisten und Nerds verbannt. Im wirtschaftlichen Bereich bediente man sich dagegen mit Begeisterung der bestehenden Forschung und nutzte vorhandene Designs, um strategische Geschäftsentscheidungen durchzuspielen. Hier hat sich ein florierender Markt entwickelt.

Auf diesem werden die ursprünglich auf geopolitische Konfrontation ausgelegten Wargames ständig angewandt und weiterentwickelt. Wargames modellieren z.B. Finanzentscheidungen in einem Wettbewerbsumfeld und weisen auf diese Weise die spielenden Entscheider auf bisher unbekannte Strategien hin. Seit der „Rückkehr der Geopolitik“ mit der russischen Annexion der Krim gibt es ein wiedererwachtes Interesse daran, dynamische, geopolitische Szenarien zu simulieren und ein strategisches Bewusstsein dafür zu entwickeln, wie mit deren Komplexität umzugehen ist. Entsprechend traten die Wargames wieder auf den Plan und erleben seitdem eine militärische und politisch-strategische Renaissance. Dieses wiedererwachte Interesse nahm im militärischen Bereich sogar institutionelle Form an und das Allied Command Transformation der NATO hat seine Operations and Experimentation-Sparte seit 2022 zur Experimentation & Wargaming Branch umstrukturiert und weist Wargames einen zentralen Part für die Weiterentwicklung der Allianz zu.

Wie bereits beschrieben steht dieses wiedererwachte militärisch-politische Interesse an Wargames im Gegensatz zu ihrer nie verschwundenen Relevanz im wirtschaftlichen Bereich. Dies führt wiederum dazu, dass militärisch-politische Wargames nun auf einen reichen, wirtschaftlichen Wissensschatz zu Wargames und ihren Anwendungspotenzialen zurückgreifen können. Zunehmend werden die Trends der Hybridität und die wachsende Bedeutung der Geoökonoomie von der neuesten Generation von Wargames berücksichtigt. Beispielsweise hat das Karlsruher Institut für Technologie das Center for Business Wargaming ins Leben gerufen und führt Simulationen und Trainings mit Wargames zu strategischen Geschäftsentscheidungen durch. Ebenfalls gab es zunächst auf der Common-Effort Conference Ende 2023 eine Reihe von Wargames, die sowohl Politiker, Militärs als auch Betreiber von kritischer Infrastruktur und private Unternehmen für hybride Bedrohungen sensibilisiert haben. Arbeit an weiteren solcher Spiele gibt es unter anderem an der Führungsakademie und an den Universitäten der Bundeswehr.

Die Wargames der Anderen

Deutsche Verbündete und enge Partner nutzen die Potenziale der Wargames bereits intensiv. Hier ist einmal das Defence Wargaming Centre (DWC) im Vereinigten Königreich zu erwähnen. Das DWC bündelt die Aktivitäten des Defence Science and Technology Laboratory als Exekutivagentur des britischen Verteidigungsministeriums und simuliert taktische sowie strategische Auswirkungen technologischer, wirtschaftlicher, kultureller, sozialer und militärischer Entwicklungen. An der Ausrichtung des DWC ist besonders stark der Wandel der Wargames hin zu einem Instrument der Technologieentwicklung, Streitkräfte- und Operationsplanung und vor allem der taktischen und strategischen Simulation zu erkennen. Der Simulation und dem fortwährenden Testen von Taktiken und Strategien wird eine zentrale Rolle zugeschrieben und Wargames als entscheidendes Instrument für diese Simulation definiert. Aber nicht nur deutsche Verbündete, sondern auch strategische Rivalen, wie die Volksrepublik China nutzen Wargames intensiv. Die chinesische Volksbefreiungsarmee blickt selbst auf eine lange Tradition der Wargames zurück, die bis auf den Philosophen Mozi und das 3. Jahrhundert v.Ch. zurückgeführt wird. Mozi soll Wargames eingesetzt haben, um die Kriegsfürsten seiner Zeit in Taktik und Strategie zu unterrichten. Nachdem diese reiche Tradition in der Kulturrevolution zerstört wurde kam es unter Deng Xiaoping zu einer Wiederentdeckung der Wargames, die im Zuge einer „Steigerung des militärischen Professionalismus“ wiederbelebt werden sollten. Die intensive Beobachtung des ersten Golfkriegs (1990−1991) veranlasste die Volksbefreiungsarmee technologischen Wandel, den Informationsraum und die voranschreitende Digitalisierung für eigene Strategien und Doktrinen als zentrale Elemente aufzufassen. Basierend auf Erkenntnissen der Systemtechnik führte die Volksbefreiungsarmee 2007 ein digitales Wargaming-System ein, das die strategische und operationale Ebene als verbundenes System simulieren und um ständig neue Erkenntnisse aus dem Lagebild erweitern soll.

In Deutschland begreift man dagegen Planspiele noch stark als reines Schulungsmittel bzw. als Mittel der Öffentlichkeitsarbeit. Besonders prominent ist hier das Planspiel Politik und Internationale Sicherheit (POL&IS). Als interaktive Simulation führen die Jugendoffiziere der Bundeswehr POL&IS u.a. an Schulen und Universitäten regelmäßig durch und sensibilisieren die Öffentlichkeit für die Komplexität und die Unwägbarkeiten internationaler Sicherheitspolitik. Das Auswärtige Amt setzt auf digitale und digitalisierte Spiele, um als Teil der strategischen Kommunikation durch „Gaming“ das Verständnis für Außen- und Sicherheitspolitik zu schärfen. Als Planungs‑, Simulations‑, oder gar als Forschungsinstrument setzen die Akteure der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik noch nicht ein.

Wargames – Entscheidungsfähigkeit

Deutschland kann vor allem von der neuesten Generation von Wargames profitieren, welche die Bereiche der Geoökonomie und der Hybridität in den Fokus nimmt. Durch kluge Spieldesigns lassen sich eine Vielzahl von Faktoren gleichzeitig ins „Spiel“ bringen. Spieler werden insbesondere für knappe Ressourcen und Zeitmangel sowie zur notwendigen Priorisierung sensibilisiert. Zweitens konfrontieren „Wargames“ ihre Spieler mit bestehenden Vorurteilen und ihrer strategischen Prägung. Hier ist die Teilnehmerauswahl von besonderer Bedeutung. Durch die Zusammenstellung der Teilnehmer lassen sich Verzerrungen aufgrund von z.B. Gender oder Herkunft in Entscheidungs- und Strategiefindungsprozessen nachmodellieren. Außerdem lassen sich über die Teilnehmerauswahl (z.B. Wargames mit Entscheidungsträgern aus der Ministerialbürokratie) Entscheidungs- und Strategiefindungszusammenhänge abbilden, die recht nahe an reale Szenarien herankommen und auf diese Weise wertvolle Erkenntnisse für die Formulierung entsprechender Policies bieten. Etwa führen unterschiedliche kulturelle Hintergründe oft zu unterschiedlichen strategischen Präferenzen und spiegeln sich in entsprechenden unterschiedlichen Spielstrategien nieder. Trotz der vielen positiven Effekte, die eine Wiederentdeckung der Wargames u.a. für die deutsche Strategiefähigkeit haben könnte, bringt sie eine Reihe von Herausforderungen mit sich. Wargames sind wie beschrieben in der Wirtschaft weit verbreitet. Dies bringt viele kommerzielle Akteure mit sich, die Wargames anbieten und politisch-strategische Wargames nur als weiteren Markt betrachten. Ein „Goldrausch“ könnte folgen und in einer Engführung von Wargames münden. Ohne eine kritische Betrachtung dessen was Wargames im deutschen Kontext leisten und bewirken können, verdrängen Fragen nach Absatz und Beschaffung die drängenderen Fragen nach Potenzialen in Planung, Simulation und taktisch, strategischer Entwicklung.

Mit der Erweiterung des spielerischen Horizonts und der definierten militärischen Operationsräume (Cyberraum, Informationsraum und sogar eine potenzielle Cognitive Domain of Operations) werden Wargames notwendigerweise immer umfassender. Seit Jahren werden beispielsweise bezogen auf eine mögliche Invasion Taiwans Strategien getestet, strategische Vorausschau betrieben, Vorbereitung auf Krisen entwickelt und die psychologischen Folgen unterschiedlicher Ereignisse simuliert. Auf diese Weise Antworten auf einen Gegner zu finden, der auf einem erweiterten Gefechtsfeld agiert, ist enorm hilfreich – nicht nur für militärische Planer, sondern auch für strategische Denker aller couleur. Hier lauert allerdings auch die Gefahr, Wargames zu überfrachten und die Information, die den Unterschied macht, mit Variablen zu verdecken. Technische Spielereien verdrängen oft allzu leicht den originären Zweck von Wargames als Planungs‑, Trainingsund Simulationsinstrument. Alles lässt sich simulieren und KI-Anwendungen in Verbindung mit stetig wachsender Prozessorleistung lassen diese Simulationen immer schneller und optisch anspruchsvoller aufbereiten. Hier lauert aber die Gefahr Spieldesigns und notwendige Priorisierung zu vernachlässigen. Wargames sollen die wichtigsten Konfliktfaktoren erfahrbar machen und Spielende nicht angesichts der simulierten Komplexität in die Knie gehen lassen.

Durch die Konfrontation mit den Folgen ihrer Entscheidungen, werden sich Spieler stärker der Konsequenzen ihres eigenen Handelns bewusst. Schockerlebnisse treten ein, wenn die Teilnehmenden merken, dass sie durch ihre Entscheidungen gerade einen nuklearen Krieg ausgelöst hätten. Menschliche Faktoren spielen ebenfalls eine verstärkte Rolle. Es kommt beispielsweise in Gruppen zu Effekten sozialer Erwünschtheit, aufgrund derer die eigene Spielstrategie angepasst wird. Es wird weniger auf die Rolle im Spiel eingegangen als auf die tatsächliche Person. Freunde wollen kooperieren, obwohl ihre Rolle etwas anderes suggerieren würde. Hier muss eine geschulte Spielleitung ein Gespür für soziale Situationen mitbringen. Wargames sind keine spielerische Maßnahme des Teambuildings. Die große Herausforderung liegt darin, soziale Dynamiken zu erkennen, für diese zu sensibilisieren und auf einen breiteren Kontext zu übertragen. Ohne diese Leistung der Spielleitung könnte sich ein Unterhaltungscharakter verfestigen und die Potenziale der Wargames verschenkt werden.

Schließlich beleuchten Wargames die Rolle von Emotionen in internationalen Beziehungen näher, da die Teilnehmer mit dem Gefühl des Verlierens, der Unzulänglichkeit etc. konfrontiert werden. Durch diese emotionale Komponente und den unmittelbaren Einfluss anderer Persönlichkeitsmerkmale (Aggression, Offenheit, Extrovertiertheit etc.) kommt es dazu, dass die Teilnehmer in die Spielrealität eintauchen und Teil des Narratives des Wargames werden. Sie fangen an, eine eigene Geschichte zu Strategie, Erfolg und Misserfolg zu entwickeln, die ihr jeweiliges Spielverhalten erklärt und beeinflusst.

Allerdings birgt diese Stärke der Wargames die Gefahr eines Abrutschens in eine Rationalisierung und ein Verargumentieren eigener Spielzüge. Anstelle einer Strategie entwickeln die Spielenden eine Geschichte, die sich im Anschluss erzählen lässt. Erwartungen an Spielrollen verfestigen sich ungewollt und erzeugen immer gleiche Ergebnisse innerhalb des gespielten Szenarios.

Fazit

Wargames werden weiter an Bedeutung gewinnen und nochmals gesteigerte Relevanz erfahren. In einer Welt der vernetzten Geopolitik, geprägt von Hybridität und Geoökonomie, können sich die als Instrument in Konfliktmodellierung, militärischstrategischer Planung und Training (wieder-)entdeckten Wargames eines reichen Wissensschatzes aus Jahrzehnten der Anwendung und Weiterentwicklung im wirtschaftlichen Bereich bedienen. Auf absehbare Zeit werden Wargames immer mehr Bereiche, von Militärstrategie bis in die Unternehmensführung, umfassen und verbinden. Durch die Entwicklung eines Kontext- und Konsequenzbewusstseins kann die neueste Generation von Wargames einen wesentlichen Beitrag zu Entscheidungsfähigkeit und somit zur Erneuerung Deutschlands strategischen Bewusstseins leisten. Es gilt jetzt, Wargames in Deutschland, sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft, weiterzuentwickeln und zu verbreiten. Dies muss allerdings begleitet durch eine kritische Analyse bestehender Anwendungen und Spieldesigns erfolgen. Wargames tragen die Gefahr in sich rapide kommerzialisiert, enggeführt und überladen zu werden. Schneller noch als die Verbreitung der Wargames in Politik und Wirtschaft gilt es die Forschung voranzubringen und Erkenntnisse für den spezifischen Konetxt deutscher Außen- und Sicherheitspolitik anwendbar zu machen. Somit kann eine neue Generation von Entscheidungsträgern und Führungskräften ausgebildet werden, die das notwendige Bewusstsein haben, mit einer zunehmend destabilisierten Welt umzugehen.

Ein Beitrag von:

Dr. Philip Jan Schäfer

Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Soziologie-Fakultät der Universität Bielefeld

Philip Jan Schäfer ist Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Neben seiner Arbeit an der Universität Bielefeld ist er u.a. NATO STO-Panel `Defending Democracy in the Information Space'. Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte sind die Versicherheitlichung des Cyber- und Informationsraums sowie die Verknüpfung von Militär- und Weltgesellschaftstheorie.

Dr. Joseph Verbovszky

Wissenschaftlicher Mitarbeiter am `Defense AI Observatory´

Dr. Joseph Verbovszky ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am `Defense AI Observatory´ (DAIO) mit dem Schwerpunkt rüstungsindustriell-technische Ökosysteme. Davor war er für Rüstungsunternehmen in den Bereichen internationale Zusammenarbeit und strategische Analyse tätig.

Prof. Dr. Gary S. Schaal

Inhaber des Lehrstuhls für Politische Theorie an der Helmut Schmidt-Universität Hamburg
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Dr. Nicolas Fescharek

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