Deutsche Atlantische Gesellschaft e.V.

Zusammenfassende Abschlussansprache der NATO Talk-Konferenz 2025

Ausgabe 57: Generalleutnant a. D. Heinrich Brauß

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Die Deutsche Atlantische Gesellschaft veröffentlich an dieser Stelle mit freundlicher Genehmigung des Autors die Abschlussrede der NATO Talk-Konferenz 2025 im Hotel Adlon Kempinski. Es gilt das gesprochene Wort.


Sehr verehrte Damen und Herren,

Mir fällt nun wie jedes Jahr die Aufgabe zu, die NATO-Talk-Konferenz 2025 zusammenzufassen – was eigentlich ein unmögliches Unterfangen ist angesichts der Vielfalt der Themen, Positionen und Argumente, die wir heute gehört haben. Es ging in der Hauptsache um die Frage, was die Europäer tun müssen und was dabei Deutschland leisten muss in einer Lage, in der die USA ihr militärisches Engagement in Europa verringern. 

Ich will meine Überlegungen in zehn Punkten zusammenfassen:

1. Die Bedrohung für Europa und die NATO wächst, und sie wächst dramatisch. Der russische Präsident Putin will die Ukraine unterwerfen. Er will aber viel mehr, nämlich die alten Einflusszonen wiederherstellen, halb Europa kontrollieren und die NATO dort verdrängen. Sein täglicher hybrider Krieg[1] (mittels Desinformation, Sabotage, Cyber-Angriffen, Verletzungen des Luftraums von Verbündeten) ist in der russischen Doktrin die erste Phase einer gewaltsamen Auseinandersetzung um Europa. Demonstrativ testet Moskau neue Atomwaffen. Der Kreml will den Westen spalten und lähmen und entschlossenes, gemeinschaftliches Handeln unterbinden. 

2. China unterstützt Russlands Krieg im Rahmen der „unbegrenzten, strategischen Partnerschaft“. Zusammen mit Nordkorea und dem Iran (CRINK) bilden sie die „Achse der Autokraten“ (Anne Applebaum) gegen die westlichen Demokratien. Der Grund ist macht- und geopolitischer Natur: Der Krieg in der Ukraine soll die USA davon abhalten, sich mit ganzer Kraft im asiatisch-pazifischen Region gegen China zu wenden. Peking will freie Hand für die Ausdehnung seines Machtanspruchs dort und weltweit haben. 

3. Was tun? Zuallererst müssen Amerikaner und Europäer die Ukraine weiterhin massiv unterstützen – wirtschaftlich, finanziell und mit Waffen. Wenn die USA ihr Engagement verringern, müssen die Europäer einspringen. Durch ihren Verteidigungskampf nutzt die Ukraine die russische Armee massiv ab. Sie schützt über mehr als 1.200 km die halbe Südostflanke der NATO. Faktisch ist sie Teil der Sicherheit und Verteidigung Europas.

4. Zugleich muss die NATO ihr Verteidigungs- und Abschreckungs-dispositiv massiv stärken. Die Verteidigungspläne für das gesamte Bündnis-territorium sind in Kraft. Daraus wurden die Einsatzaufträge für jeden Bündnispartner und die Fähigkeitsziele für ihre Streitkräfte abgeleitet, die sie in wenigen Jahren erfüllen müssen. Deutschland hat den zweitgrößten Anteil hinter den USA zu schultern. Wie zu hören ist, haben sich die Zahl und das Anspruchsniveau der Ziele teilweise drastisch erhöht, für Luftverteidigung beispielsweise um 400 Prozent. Zugleich werden die schnellen Reaktions-kräfte von 40.000 auf 300.000 erhöht. Sie müssen „kaltstartfähig“ und kriegs-tüchtig sein. 

5. Derzeit überprüfen die USA ihren weltweiten Streitkräftebedarf. Das Ergebnis des Global Force Posture Review steht noch aus. Ihr strategischer Schwerpunkt liegt heute in der asiatisch-pazifischen Großregion gegenüber China, nicht mehr im euro-atlantischen Raum. Gerade haben die USA angekündigt, eine mechanisierte Brigade aus Rumänien abzuziehen. Die jetzige Regierung, so Verteidigungsminister Hegseth bei der jüngsten Verteidigungsministertagung der NATO, strebe eine „European-led NATO“ an. Was dies praktisch bedeutet, ist offen. Auf alle Fälle aber muss der NATO-Oberbefehlshaber ein Amerikaner bleiben. Er verkörpert in seiner Person das militärische ‚Commitment‘ der USA wie auch die militärische Verteidigungs-fähigkeit der gesamten Allianz, nicht zuletzt auch durch seine Rolle in der erweiterten nuklearen Abschreckung. 

6. „Wir sind bereit, Ländern beizustehen, die uns beistehen und dabei für sich selbst einstehen,“ so Hegseth weiter. Hilfe zur Selbsthilfe ist der Kern des Artikels 3 des Nordatlantikvertrags. Er sollte die Maxime einer Neuen Transatlantischen Übereinkunft werden. Die Europäer sollten so schnell wie möglich den Hauptanteil an der konventionellen Verteidigung Europas übernehmen. Sie sollten vor allem in moderne Fähigkeiten investieren, wie  Luftverteidigung, Drohnen und Drohnenabwehr, weitreichende Präzisions-lenkflugkörper, Satellitenkommunikation oder elektronischer Kampf. Aber dies geht nicht von heute auf morgen. Europäer und Amerikaner sollten daher ein abgestimmtes Vorgehen vereinbaren dafür, dass der Fähigkeits-aufbau der Europäer und die mögliche relative Verminderung der amerikanischen Fähigkeiten koordiniert verlaufen, damit es nicht zu einem „Strömungsabriss“ im Abschreckungsdispositiv der NATO kommt. Dabei sollte auch das „politisch-militärische Minimum“ einer dauerhaften amerikanischen konventionellen und nuklearen Präsenz und möglichen Verstärkung über den Atlantik vereinbart werden, die für die Glaubwürdigkeit der NATO-Abschreckung unentbehrlich ist. Die „erweiterte nukleare Abschreckung“ der USA zum Schutz Europas können weder Frankreich noch Großbritannien ersetzen. Es ist zu hoffen, dass auch die jetzige US-Regierung würdigt, dass amerikanische militärische Präsenz in Europa in ihrem eigenen strategischen Interesse liegt, um Weltmacht zu bleiben, nicht zuletzt auch als Basis für die Projektion amerikanischer Macht in den gesamten Nahen und Mittleren Osten. 

7. Putins Krieg und Imperialismus hat auch in der EU das Bewusstsein für die militärische Bedrohung Europas drastisch geschärft. Das ‚Haupt-geschäft‘ der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) besteht eigentlich in der zivilen und zivil-militärischen Krisenstabilisierung außerhalb der EU. Heute will die Europäische Kommission vor allem zur Verteidigung Europas beitragen. Besonders mit ihren finanziellen Instrumenten will sie diejenigen 23 Nationen, die Mitglied von EU und NATO sind, darin unterstützen, ihre militärischen Fähigkeitsziele der NATO zu erfüllen. Wer die Geschichte der Beziehungen der beiden Organisationen kennt, für den ist dies ein nahezu revolutionärer Schritt: Die NATO setzt die Ziele und definiert die Standards, und die Kommission stellt milliardenschwere Mittel für die Entwicklung und Beschaffung der notwendigen Fähigkeiten bereit. Aus meiner Sicht bietet diese Entwicklung die Chance, dass die Fähigkeitsplaner von NATO und EU regelmäßig zusammenarbeiten und gemeinsam bestimmen, welche Fähigkeiten die Europäer heute und morgen für das gesamte Aufgabenspektrum brauchen.

8. Die Entscheidung der NATO-Staats- und Regierungschefs von Den Haag im Juni 2025, jährlich die Verteidigungsausgaben signifikant zu erhöhen mit dem Ziel, dass sie im Jahr 2035 3,5 Prozent des BIP für militärische Fähigkeiten und 1,5 Prozent für kritische Infrastruktur erreichen, hat Bundeskanzler Merz zu Recht historisch genannt. Deutschland will das Ziel bereits 2029 schaffen. Dies entspricht der von Merz ausgegebenen Maxime, die Bundeswehr solle zur stärksten konventionellen Armee in Europa werden.  Die Führung der Bundeswehr geht davon aus, dass Putin in jenem Jahr in der Lage sein könnte, einen Angriff gegen die NATO zu führen. Für das gefährlichste Szenario halte ich einen überfallartigen Angriff auf das Baltikum, der am meisten gefährdeten NATO-Region, womöglich aus einer großen Übung heraus, und schon früher als 2029. Daher ist die dauerhafte Präsenz von hinreichend starken NATO-Kampftruppen im Baltikum von zentraler Bedeutung. Mit der neuen deutschen Panzerbrigade 45 in Litauen leistet die Bundeswehr einen Beitrag zur NATO-Abschreckung dort wie sonst kein anderer europäischer Verbündeter. Im Krisen- und Kriegsfall würden Heer und Luftwaffe wohl vor allem im Nordosten eingesetzt, die Marine vor allem in Ost- und Nordsee. Und unsere Streitkräfte würden zusammen mit den US-Streitkräften die ersten sein, die unsere baltischen Verbündeten sehr rasch verstärken und dann durchhaltefähig sein müssten. Zugleich hätte Deutschland als logistische Drehscheibe im Zentrum Europas den Aufmarsch alliierter Verbände von Westen nach Ost- und Nordosteuropa zu unterstützen und müsste mit Heimatschutzkräften militärische und zivile Ziele in Deutschland schützen. 

9. Kein Zweifel, der rasche Aufwuchs der Bundeswehr von 183.000 auf insgesamt 460.000 Männer und Frauen und die Vollausstattung der Verbände und Einheiten stellen die politische und militärische Führung der Bundeswehr vor eine gewaltige Management-Aufgabe. Komplexe Prozesse müssen parallel, aber kohärent und vor allem schnell ablaufen: Nachwuchsgewinnung; Materialbeschaffung für die Vollausstattung der Verbände; Aufbau der erforderlichen Ausbildungsorganisation; Bereit-stellung von neuen Unterkünften; Neuaufstellung von Truppenteilen und Entwicklung und Beschaffung von neuen militärischen Fähigkeiten. Dennoch geht es zu langsam voran. Der Krieg in der Ukraine zeigt, dass militärische Operationen in Zukunft vor allem durch vernetzte unbemannte Systeme geführt werden. Nächstes Jahr will Kyiv vier bis fünf Millionen Drohnen herstellen. Deutschland plant dagegen, in den nächsten Jahren seinen Bestand von 600 auf 10.000 zu steigern. Allein dieses Beispiel wirft Fragen auf: Entwickeln wir die notwendigen industriellen Kapazitäten, um solche Systeme in großer Stückzahl und schnell zu produzieren? Müssen die Produktionsraten für entscheidende Waffensysteme nicht massiv gesteigert werden? Hat die Rüstungsindustrie klare vertragliche Vorgaben erhalten, welche Fähigkeiten in welcher Zahl bis wann zur Verfügung stehen müssen? Ist sie in der Lage, im Kriegsfall die Produktion schnell zu erhöhen? Braucht Deutschland also eine wirtschaftliche und industrielle Strategie für die Aufrüstung, die politisch koordiniert wird? Und schließlich: Sollte nicht gerade die deutsche Regierung als „Powerhouse“ Europas, wie Mark Rutte Deutschland genannt hat, die Initiative auf europäischer Ebene ergreifen, um viel mehr gemeinsame Beschaffungen der Europäer zustande zu bringen und um Standardisierung, Interoperabilität und Kosteneffizienz zu steigern?

10. Und schließlich: Ohne genügend Wehrdienstleistende ist der Aufwuchs der Bundeswehr nicht zu schaffen. Angesichts des Bedarfs und der Vorgaben der NATO wird das alleinige Abstellen auf Freiwilligkeit durch Attraktivitätssteigerung für den künftigen Wehrdienst aus meiner Sicht nicht ausreichen, um den personellen Mindestbedarf der Bundeswehr quantitativ und qualitativ zu decken. Wir können es uns aber sicherheits- und bündnispolitisch nicht leisten, ein paar Jahre zu testen, ob wir mit Freiwilligkeit hinkommen. Verteidigungsminister Pistorius und General-inspekteur Breuer haben recht: Wiedereinführung der Erfassung eines Jahrgangs der 18-jährigen ab 2026, verpflichtende Musterung eines ganzen Jahrgangs ab Juli 2027 und dann Einberufung nach Eignung und Bedarf. 


[1] Russland spricht auch von „nicht-linearer Kriegsführung“.

Ein Beitrag von:

Generalleutnant a.D. Heinrich Brauß

Ehemaliger Beigeordneter NATO-Generalsekretär für Verteidigungspolitik und Streitkräfteplanung (2013 – 2018)

Heinrich Brauß ist Generalleutnant a. D. der Bundeswehr, Leiter der jährlichen NATO Talk-Konferenz der Deutschen Atlantischen Gesellschaft und seit Oktober 2018 Senior Associate Fellow der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. General Brauß war von Oktober 2013 bis Juli 2018 Beigeordneter NATO-Generalsekretär für Verteidigungspolitik und Streitkräfteplanung (Assistant Secretary General for Defence Policy and Planning) im Internationalen Stab der NATO in Brüssel wie auch Vorsitzender des Defence Policy and Planning Committee des Nordatlantikrats. Er ist überdies Verfasser der DAG-Publikation NATO 75 – Entwicklung · Erfolge · Herausforderungen.

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