Es gilt das gesprochene Wort
Gerne habe ich Aufforderung Folge geleistet, das Buch von Professor Neitzel „Deutsche Krieger“ mit vorzustellen. Es ist ein gründliches und sehr detailliert recherchiertes Buch, das die Geschichte deutscher Streitkräfte seit der Reichsgründung 1871 untersucht und den Faden bis zur Gegenwart spannt, bis in die Jahre also, die Professor Neitzel in seinem anderen, sehr lesenswerten Buch „Blutige Enthaltsamkeit“ eindringlich und sehr zutreffend beschrieben hat.
Aus dem Blickwinkel eines Soldaten
Professor Schlie hat das Buch in seiner Einführung bereits gewürdigt, deswegen kann ich von der klassischen Form der Buchvorstellung etwas abweichen und nicht auf alle sechs Abschnitte des Buchs eingehen. Ich möchte mich besonders auf den Teil konzentrieren, den ich als Soldat, sozusagen als Zeitzeuge, miterlebt habe und dann vor allem auf Neitzels Abschnitt „Die Bundeswehr der Berliner Republik“. Da hatte ich das große Glück, wohl erstmals wieder nach dem ersten Generalinspekteur der Bundeswehr, General Heusinger, gestalten zu dürfen, erst in dem fast fünf Jahre währenden Prozess der Aufstellung der „Armee der Einheit“ und dann in der Umstellung der Bundeswehr auf die Doppelrolle Bündnisverteidigung und Auslandseinsätze.
Einen Teil des sechsten Kapitels, „Die Bundeswehr in Afghanistan“, besonders aktuell durch den gerade abgeschlossenen Einsatz nach fast zwanzig Jahren, kann ich aus eigenem Erleben nicht bewerten. Ich war zwar mit dem Beraterteam des damaligen SACEUR, General Jones, in Kabul, Kandahar und im Kampfgebiet südlich Qualat, hatte dabei aber keinen Kontakt mit deutschen Soldaten, denen zu diesem Zeitpunkt ja das Betreten des Gebiets um Kandahar verboten war. Ich halte diesen Teil des Buches aber für besonders lesenswert, weil er deutlich macht, dass es Deutschland war, das auf eine NATO-Mission Afghanistan drängte und das erhebliche Verantwortung für die letztlich von Anfang an unerreichbare politische Zielsetzung des Einsatzes trägt und weil er erkennbar zeigt, dass der so gerühmte „vernetzte Ansatz“ in der deutschen Realität in Afghanistan, aber auch in Berlin, eine ziemlich hohle Spruchblase geblieben ist. Eine Entschuldigung für die beschämende Abwesenheit der Politik bei der Rückkehr der letzten Soldaten vor wenigen Tagen ist das nicht, das bleibt eine Missachtung der Toten und ihrer Familien und eine Ohrfeige für die rund 150.000 Soldatinnen und Soldaten, die in Afghanistan unter Einsatz ihres Lebens gedient haben.
Professor Neitzel wählte als Basis seiner Untersuchung die Kampftruppen des Heeres, weil er den Kämpfer, den Krieger, in den Mittelpunkt seiner Betrachtung stellt. Ich möchte dahinter ein Fragezeichen setzen, weil ich meine, dass sogar Transportsoldaten Krieger sein müssen. Das war der Hintergrund einer kleinen, im Buch erwähnten Auseinandersetzung mit Minister Rühe. Ich hatte ihm widersprochen als er im Bemühen um Zustimmung der Opposition den anfänglichen deutschen Einsatz von logistischer Unterstützung für SFOR aus Kroatien heraus als Blauhelmeinsatz, also Kapitel VI UN-Charta, bezeichnete. Ich habe öffentlich gesagt, dass unsere Soldaten unter Kapitel VII entsandt wurden, also indirekt mit einem Kampfauftrag, weil Kapitel VII immer Zwang und das Durchsetzen des Mandats verlangen kann, also Kampf, auch Transportsoldaten müssen deshalb Krieger sein. Doch, viel weiter gefasst, meine ich, dass Soldaten der Luftwaffe und der Marine durchaus auch Krieger sein müssen.
Soldaten müssen auch Krieger sein
Zu diesem Urteil komme ich aus eigenem Erleben. Ich habe als Generalinspekteur versucht, zu erfahren welche Belastungen der moderne Kämpfer in Heer, Luftwaffe und Marine auf sich zu nehmen hat. Ich war einmal, gelegentlich ein bisschen wacklig, auf Ski mit den Gebirgsjägern unterwegs, ich bin mit allen Strahlflugzeugen der Bundeswehr geflogen, in Hohenfels mit dem Tornado fast so tief wie ich als Brigadekommandeur in meinem Schützenpanzer fuhr, Ich habe über der Ostsee in einer MIG-29 erlebt, was es heißt, 30 Sekunden 9 G aushalten müssen und ich habe im stürmischen Kattegat im getauchten U‑Boot eine Andeutung der Belastung in moderner Seekriegführung erlebt. Die Männer, Frauen gab es damals in nur im Sanitätsdienst, die ich dabei erleben durfte, bezeichne ich durchaus als Krieger, Krieger in einer anderen als der tradierten, der archaischen Welt des Kampfes Mann gegen Mann. Sogar der Arzt, der im Feindfeuer nach vorne fliegt, aus dem Hubschrauber springt, die Deckung verlässt, einen Verwundeten versorgt und rettet, ist ein Krieger, auch wenn so etwas in der Bundeswehr erst noch die Regel werden muss. Ich habe deshalb Zweifel, ob man die Leistung der Bundeswehr des Kalten Krieges nur mit Blick auf die Kampftruppen des Heeres bewerten kann, ohne Luftwaffe und Marine mehr als kursorisch zu betrachten.
Moderne Kriegführung findet nicht mehr nur in den drei klassischen Dimensionen Land, Luft und See statt
In der Betrachtung heutiger Streitkräfte genügt es erst recht nicht sich auf die Dimension des Landkrieges zu beschränken. Zum gibt es schon lange nicht mehr eigenständigen Landkrieg ebenso wenig wie eigenständigen Luft- oder Seekrieg. Kriege werden auch nicht mehr von Kampftruppen entschieden, ich denke das war auch im Zweiten Weltkrieg schon so, denn strategisch entscheidender als fast alle Landschlachten war wohl der Sieg der USA in der Seeschlacht von Midway im fernen Pazifik. Erst danach konnten die USA sich mit all ihrer Macht Europa zuwenden und dort die Entscheidung herbeiführen.
Heute, mehr als zwanzig Jahre nach meiner Pensionierung, ist der Bogen sogar noch weiter gespannt. Moderne Kriegführung findet nicht mehr nur in den drei klassischen Dimensionen Land, Luft und See statt, sondern hinzukommen Weltraum und Cyberspace. Dennoch beginnt die Auftragsspanne des Soldaten nach wie vor beim Kämpfen Mann gegen Mann, das bitte ich genderneutral zu verstehen, aber sie geht eben weit über die klassische Duellsituation hinaus. Der moderne Krieger reicht vom tradierten Kämpfer, den Neitzel beschreibt, bis hin zum Cyberwarrior. Heute können nur Streitkräfte, die in allen fünf Dimensionen moderner Kriegführung leistungsfähig sind, eigenständige Operationen führen, alle anderen werden immer auf Bündnisse oder ad hoc-Koalitionen angewiesen sein.
Bündnisfähigkeit meint, den gemeinsamen Bündnisauftrag der kollektiven Verteidigung erfolgversprechend erfüllen zu können
Das bringt mich zur Bündnisfähigkeit, einem Gesichtspunkt, den das moderne Deutschland allein dadurch vernachlässigt, dass es ohne Konsultation eingegangene Zusagen in der NATO wie die berühmten 2% eigenmächtig auf 1,5 % verändert, aber von anderen stets verlangt, Verpflichtungen einzuhalten. Doch es geht nicht nur um finanzielle Beiträge. Bündnisfähig ist ein Land nur, wenn seine Streitkräfte auch in der Lage wären, den gemeinsamen Bündnisauftrag der kollektiven Verteidigung erfolgversprechend zu erfüllen. Streitkräfte, die nicht einsatzbereit sind, zählen im Bündnis einfach nicht. Fehlt dann auch noch der politische Wille Streitkräfte einzusetzen, dann wird ein Land zum Fliegengewicht, Deutschland nähert sich dieser Kategorie.
Doch die Bundeswehr hatte bei Aufstellung einer anderen Zielsetzung als Einsatzbereitschaft zu entsprechen. Sie sollte nach dem Willen ihres Gründungsvaters Konrad Adenauer helfen, Deutschland in die Souveränität zurückführen und einen Beitrag dazu leisten, dass die Verbündeten bereit waren, das zunächst wehrlose Deutschlands zu schützen. Anders als in den Vorläuferorganisationen von der Armee des Kaiserreichs bis zur Wehrmacht war der politische Wille, der hinter der Aufstellung der Streitkräfte stand, nicht die Fähigkeit zur Kriegführung. Kriegführung hatte die Bundesrepublik Deutschland auf das NATO-Bündnis übertragen. Je länger der Kalte Krieg mit seiner nie zuvor dagewesen Konzentration von Streitkräften auf so engem Gebiet wie der alten Bundesrepublik Deutschland anhielt, desto weiter trat der Gedanke an Einsatz der Streitkräfte in den Hintergrund. Krieg wurde zunehmend undenkbar. Das Denken in den Kategorien eines Krieges auf deutschem Boden stand nicht im Vordergrund politischer Betrachtungen der alten Bonner Republik, das Ziel war Krieg zu verhindern. Von Krieg sprach man nur als Ernstfall und stets mit dem Zusatz, den Gott verhüten möge.
Die Bundeswehr ist nicht auf Krieg ausgerichtet
Die Bundeswehr entwickelte sich so zu einer Streitmacht, die anders als alle ihre Vorgängerorganisationen, und auch anders als die NVA der DDR, der das Buch ebenfalls ein Kapitel widmet, politisch nicht auf Krieg ausgerichtet wurde. Das hatte Auswirkungen auf das Selbstverständnis der Bundeswehr bis hin zur irrigen Aussage, auch von Generalen, die Bundeswehr habe versagt, wenn die Abschreckung scheitere. Sie nimmt deshalb auch in der Geschichte deutscher Streitkräfte eine besondere Stellung ein, heute nennt man das wohl Alleinstellungsmerkmal. Damit stellt sich erneut die Frage, ob „Krieger“ als vergleichender Maßstab für alle deutschen Armeen von 1871 bis heute anwendbar ist. Den Wert des ungemein aussagekräftigen und gründlich recherchierten Buches von Professor Neitzel schmälert diese Anmerkung allerdings keineswegs, aber diese Besonderheit hatte und hat Auswirkungen für die Soldaten und ihre Stellung in der Gesellschaft, ganz besonders in einer Wehrpflichtarmee.
Das Buch beschreibt sehr gut das Ringen um einen neuen Weg zwischen der Schuld der Vergangenheit, der Notwendigkeit die Führungskräfte aus dieser Vergangenheit beim Aufbau zu nutzen und einer Gesellschaft, die ganz anders werden sollte als die der Vergangenheit. Die Streitkräfte dieses neuen Deutschland mussten deshalb auch anders werden als ihre Vorgänger. Ein Prinzip aber konnte auch das neue Deutschland nicht auflösen: Streitkräfte gehören zu den wichtigsten Instrumenten demokratischer Staaten, weil sie den zentralen Verfassungsauftrag zu erfüllen haben, die Bürger vor äußerer Gefahr zu schützen. Soldaten müssen folglich Gewalt anwenden, notfalls töten. Der Staat verlangen damit Handeln, das im Gegensatz zum Gewaltverbot der Vereinten Nationen und zu den Gesetzen aller demokratischen Rechtsstaaten steht, die das von allen Weltreligionen verbotene Töten unter Strafe stellen. Soldat zu sein bedeutet somit etwas tun zu müssen, was die Gesellschaft eigentlich ächtet. Jeder Einsatz der Streitkräfte ist deshalb demokratisch zu legitimieren, sogar die Selbstverteidigung. Doch die letzte Besonderheit bleibt: Der Soldat muss unter Einsatz seines Lebens zum Schutz des Staates kämpfen, notfalls auch töten.
Last der Geschichte in Deutschland
Zusätzlich spielt in Deutschland die Last der Geschichte eine Rolle. Es gibt wohl kein Land der Welt, dessen Streitkräfte ohne Schuld aus den Kriegen zurückgekehrt sind, doch die Dimension deutscher Verbrechen und Schuld im II. Weltkrieg ist einzigartig: Die industriell organisierte Ermordung der europäischen Juden und der Missbrauch der Wehrmacht des 3. Reiches für einen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, auch letzteres schildert das Buch von Professor Neitzel sehr eindrücklich.
Allein deshalb kann die Wehrmacht als Ganzes nicht Tradition der Bundeswehr begründen und dennoch bleibt die Aussage der früheren Ministerin von der Leyen: „Nur der Widerstand zählt“ ebenso unüberlegt wie grottenfalsch. Ich habe mit ihr um Korrektur gerungen, nicht öffentlich, und freue mich, dass der Traditionserlass eine etwas aufrichtigere Sprache spricht. Wir alle dürfen nicht vergessen, es waren Wehrmachtsoffiziere, die die Bundeswehr aufgebaut haben. Ich erinnere mich mit Dankbarkeit an meine Ausbilder, keiner hat je versucht, das III. Reich zu verherrlichen, allerdings hat auch nur einer erwähnt, schuldig geworden sein. Das war mein Hörsaalleiter an der HOS, im Krieg der jüngste Infanterie-Regimentskommandeur der Wehrmacht, dann von 1943 bis 1955 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, ein Mann, den ich wegen seiner beispielhaften Bescheidenheit und soldatischen Pflichterfüllung noch heute als Vorbild sehe. Deutschland hat beispielhafte Vorkehrungen getroffen, um Wiederholungen des Missbrauchs militärischer Macht zu verhindern. Aber es bleibt eine Last, die es den Deutschen schwer macht, ihre durchaus mehrheitlich als notwendig akzeptierten Streitkräfte so wie in allen Demokratien zu unterstützen. Für die Deutschen war, wohl nicht zuletzt deshalb, Einsatzbereitschaft ihrer Bundeswehr nie ein Thema von Rang, auch als es dann ab 1992 in Einsätze ging. Aufregung erzeugten Mängel nur, wenn etwas schief ging. Irgendwie wirkt das noch heute: Mängel in der Ausrüstung der Bundeswehr werden hingenommen, meist den Soldaten angelastet, die dafür letztlich verantwortlichen Politiker dagegen müssen kaum fürchten, zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Zwischen Landesverteidigung und Katastrophenhilfe
Uns jungen Soldaten 1958 wurden politischen Erwägungen kaum erklärt. Für uns und unsere Ausbilder stand Landesverteidigung im Mittelpunkt. Dazu wollten wir beitragen. Das Schicksal Ungarns 1956 und die Wiederholung dessen, was so Viele aus dem letzten Kriegsjahr und aus Flucht und Vertreibung noch lebhaft erinnerten, sollte den Deutschen erspart bleiben. Wir taten, was Demokraten auch heute tun müssen, wenn sie Freiheit erhalten wollen und wir sprachen nicht nur darüber: Wir übernahmen Verantwortung, aber im Vordergrund stand trotz aller Mängel kämpfen zu können. Wir wollten die Heimat um jeden Preis schützen. Wir waren damit Außenseiter in der wegen der Wiederbewaffnung gespaltenen Gesellschaft, die vor allem verdienen, nicht dienen wollte. Irgendwie ist auch das fast ein Alleinstellungsmerkmal geblieben, vielleicht, weil für Soldaten auch heute noch Dienen bestimmend ist, nicht der unsere Gesellschaft kennzeichnende Egoismus.
In den Herzen der Deutschen kam die Bundeswehr allerdings nur an, wenn sie sich in Katastrophen bewährte, bei Fluten und Hochwasser und in Brandkatastrophen oder jetzt bei Corona. Vergessen ist, dass das friedliche Ende des Kalten Krieges nur möglich wurde, weil der Westen geschlossen und entschlossen blieb und dazu trug auch die unglaublich schnell aufgestellte Bundeswehr bei. Selbst die vielleicht größte Leistung, der Beitrag der alten Bundeswehr zur Einheit Deutschland, einer der wenigen Erfolge im Prozess der Einheit, ist vergessen, kaum erwähnt bei den 30 Jahr Feiern der Einheit. Die Folge: Fehler, in der Regel Einzelner, finden Beachtung, gute Leistungen dagegen kaum. Fast zwanzig Jahre Einsatz in Afghanistan, ohne überzeugendes Einsatzziel beschlossen vom Parlament, wurden trotz fast 60 Gefallener öffentlich kaum wahrgenommen, die Bundeskanzlerin brauchte Jahre bis zu ihrer ersten Regierungserklärung dazu und rund zehn Jahre dauerte es bis VM zu Guttenberg es wagte zu sagen, dass Deutsche in Afghanistan kämpfen.
Die Truppe als loyales Instrument der Politik
Ich würde mir wünschen, dass Professor Neitzels Buch Augen öffnet, damit endlich auch die zur Verantwortung gezogen werden, die für die mangelhafte Ausrüstung, Erschweren der Ausbildung oder Verweigerung überlebenswichtigen Schutzes der eingesetzten Soldaten verantwortlich sind. Jahrzehntelange Unterfinanzierung bei gleichzeitiger Erweiterung des Auftragsspektrums, Beschaffung nicht des besten, aber dafür einheimisch hergestellten Materials oder, jüngst, die Verweigerung bewaffneter Drohnen mit jämmerlichen Gründen sind Beispiele politischer Fehler. Ein Parlament, das zu Recht und zum Schutz der Soldaten auf dem Parlamentsvorbehalt besteht, muss mit der Einsatzentscheidung endlich auch die Verantwortung für die bestmögliche Ausrüstung der Truppe übernehmen, denn gute Ausrüstung und harte Ausbildung retten Leben. Enttäuschung über mangelnde politische Unterstützung war stets ein Wegbegleiter der Bundeswehr. Dennoch war die Truppe stets ein loyales Instrument der Politik, auch als nach der Jahrtausendwende bis zur Mitte dieses Jahrzehnts die Bundeswehr kaputtgespart und vom Kampf abgewendet wurde.
Für Soldaten hat Einsatzbereitschaft Vorrang. Sie wissen, dass Mängel Leben kosten. Harte, aus den Erfahrungen des Krieges geborene, realistische Ausbildung kennzeichnete die Bundeswehr der Aufstellungsjahre. Unsere kriegsgedienten Ausbilder sprachen kaum über Krieg, aber sie zeigten uns Ungedienten sehr realistisch, was Krieg ist und wie man kämpft. In diesem Punkt sind meine Erinnerungen an meine Ausbilder und an meine ersten zehn Jahre als Offizier in der Truppe eine andere als Professor Neitzel sie beschreibt. Ich denke die Bundeswehr des Kalten Krieges hätte kämpfen können und war auch bereit zu kämpfen. Sicher, in den 70er Jahren trat der Gedanke kämpfen immer mehr in den Hintergrund. Vergessen Sie nicht, der letzte scharfe Alarm der Bundeswehr fand Im Zusammenhang mit der Besetzung der Tschechoslowakei statt. Ein Generalinspekteur sprach davon, dass die Bundeswehr für 99 Jahre Frieden gemacht sei, ein anderer sagte, käme es zum Krieg sei das auch ein Versagen auch der Bundeswehr. Es musste ab Mitte der 80er Jahre eine regelrechte Rückbesinnung auf Kämpfen und Einsatzbereitschaft erreicht werden. Wir begannen als Truppenführer wieder über Krieg, Verwundung, Tod zu sprechen und wir übten wieder kriegsnäher, so gut es ging, auch im scharfen Schuss.
Innere Führung als Markenzeichen
Wir erwarben uns den Respekt, unserer Verbündeten, auch unserer Gegner, und doch ahnten wir, dass es nicht genug sein könnte und wir in den ersten Kriegstagen einen hohen Preis hätten zahlen müssen. Wir hatten Glück, es nicht erleben zu müssen. Heute geschieht Ähnliches, denn die jungen Soldaten, die Kampf, vor allem in Afghanistan erlebt haben, wissen wie wir damals, dass harte Ausbildung wahre Fürsorge ist.
Zudem hatte die Bundeswehr der Aufstellungsjahre ein neues Führungsverhalten zu erlernen, das als Innere Führung zum Markenzeichen wurde: Wir damals Jungen, lernten niemals etwas zu verlangen, was man nicht selbst zu leisten bereit war, durch persönliches Vorbild Gefolgschaft zu erreichen, das war nichts Neues, neu aber war nun jedem Soldaten begreifbar und erlebbar zu machen, dass in unserem Staat trotz Befehl und Gehorsam das Recht des Einzelnen durch die Macht des Rechts auch vor der Macht der eigenen Vorgesetzten geschützt ist. Innere Führung so verstanden ist kein Gegensatz zu Krieg und Kampf, sie hat Kampf nie ausgeschlossen, auch nicht in Afghanistan, im Gegenteil, Innere Führung will den Kämpfer, der aus der Fähigkeit sich durchsetzen zu können die Kraft gewinnt dennoch Recht zu achten und mit der Waffe zu schützen.
Die alte Bundeswehr, die die erste Wehrpflichtarmee einer deutschen Demokratie war eine Erfolgsgeschichte. Sie war am Ende des Kalten Krieges zusammen mit den amerikanischen Streitkräften der Kern der NATO-Verteidigung Europas. Deutschland, dessen Territorium zwangsläufig Schlachtfeld geworden wäre, gewann so großes Gewicht in der NATO. Es konnte Vorneverteidigung durchzusetzen und in der Nuklearstrategie Kriegsverhinderung in den Vordergrund zu schieben. Beides ermöglichte Frieden durch Abschreckung, half schließlich 1989 den Kalten Krieg zu beenden, die Einheit Deutschlands zu erreichen und die Spaltung Europas zu überwinden. Wir erlebten das große Glück, vierzig Jahre Kalter Krieg erfolgreich zu beenden, ohne gekämpft zu haben.
Die Wiedervereinigung und die Bundeswehr
Diese Bundeswehr bekam dann einen Auftrag, der von 1990 bis 1995 ohne Blaupause, fast über Nacht zu meistern war: Die Auflösung der Nationalen Volksarmee der DDR und Übernahme einiger ihrer Soldaten, der Abbau der Infrastruktur eines nahezu voll militarisierten Staates und die Unterstützung des Abzugs der russischen Truppen. Ich erinnere dankbar den großen Einsatz von Minister Stoltenberg. Ihm ist zu verdanken, dass aus dem Gebiet der früheren DDR nicht eine entmilitarisierte Zone wurde. Es entstand die Armee der Einheit, sie ist das große Verdienst vom Minister Rühe und auf militärischer Seite das gelungene Ergebnis eines Prozesses von etwa fünf Jahren bis Ende 1995. Gleichzeitig wurde die Bundeswehr um mehr als 40% reduziert und auf erste Auslandseinsätze umgestellt. Das meinte ich eingangs mit „Gestalten“.
Wir haben damals um Orientierung, um einen neuen Auftrag gerungen, auch um ein neues Bild des Soldaten. Es war eine Reise ins Unbekannte und es galt Vorsorge zu treffen für eine nicht auszuschließende Umkehr der internationalen Lage. Die Rolle der Bundeswehr war neu zu bestimmen: Deutschland hatte erstmals nur Freunde als Nachbarn, die Sowjetunion und der Warschauer Pakt waren aufgelöst, Schutz vor äußerer Gefahr trat in den Hintergrund, aber Deutschland war noch nicht bereit, auch den militärischen Pflichten eines VN, NATO und EU-Mitglieds nachzukommen.
„Retten, Schützen, Helfen“ ohne zu kämpfen?
Lassen Sie mich hier noch einmal auf den Kämpfer, den Krieger kommen. Ich wollte als Generalinspekteur die Übernahme des scheinbar modernen und vielen Politikern willkommenen Rollenmusters des Schweizers Gustav Däniker, „Retten, Schützen, Helfen“ verhindern. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass Soldaten schützen und helfen können, wenn sie nicht in der Lage sind zu kämpfen. Ich habe deshalb in meiner letzten Kommandeurtagung 1995 in München der Bundeswehr das Leitbild vorgegeben: Kämpfen, Schützen, Retten. Dementsprechend hatten wir eine politisch gebilligte Gliederung in sofort einsatzbereite Krisenreaktionskräfte von etwa 50.000 Mann, abgestuft präsente Hauptverteidigungs- und Unterstützungskräften entworfen. Wäre sie in der zweiten Hälfte der 90er Jahre konsequent umgesetzt worden, sähe heute Einiges vermutlich besser aus.
Es folgte eine Zeit des Übergangs eingeleitet mit den ersten Einsätzen außerhalb Deutschlands ab 1992. Die Hemmschwellen waren sehr hoch. Die Öffentlichkeit war dagegen, die Politik war teils unentschieden oder eindeutig dagegen und auch in der Truppe war viel Überzeugungsarbeit zu leisten. Zudem war der Bundeskanzler war mehr als zögerlich und auch bei BPräs von Weizsäcker musste ich fast vier Jahre um Unterstützung ringen. Deshalb gingen wir den behutsamen Weg von Kambodscha über Somalia in die Adria und dann in das frühere Jugoslawien. Die Umstellung war 1995 weitgehend geschafft. Die Truppe bewährte sich erneut, aber kämpfen lernte sie erst in Afghanistan.
Die ab 2000 zunehmende Unterfinanzierung, die ungewöhnlich schnelle Aussetzung der Wehrpflicht und die von allen Parteien gehegte, und von der Mehrheit der Deutschen nur zu gerne aufgegriffene Illusion, vom Ende aller äußeren Gefahren in und für Europa, und damit verbunden, die Hintanstellung des Verteidigungsauftrages, machten in den vergangenen zwei Jahrzehnten aus der durchaus noch einsatzbereiten Bundeswehr der Neunziger Jahre den Schatten einer Armee, bis nach der Annexion der Krim 2014 durch Russland die sogenannte Trendwende, der derzeit anhaltende Wiederaufbau der Verteidigungsarmee begann. Sie eingeleitet zu haben, ist das Verdienst der durchaus umstrittenen Verteidigungsministerin von der Leyen, dem andererseits ihr vielleicht größter Fehler gegenübersteht, die Übernahme der EU-Dienstzeitrichtlinie ohne auch nur eine der durchaus möglichen Ausnahmen zu verfügen.
Versagt Deutschland in dieser Aufgabe, dann wird Europa an Deutschland scheitern.
Diese Entwicklungen beschreibt Professor Neitzel in seinem Buch sehr zutreffend und eindeutig. Es wäre zu wünschen, dass gerade jetzt diese Abschnitte und auch der Teil über Afghanistan aufmerksame Leser in Politik und Öffentlichkeit finden. Zum einen gilt es zu vermeiden, dass wegen zögerlicher politischer Vorgaben aus Mali ein zweites Afghanistan wird und zum anderen muss in Deutschland eine nüchterne Besinnung auf die Rolle deutscher Streitkräfte in einem hoffentlich zusammenwachsenden Europa stattfinden. Deutschland darf die Lehren seiner Geschichte nicht vergessen, aber es muss zur Normalität seiner europäischen Verbündeten finden. Dänen und Niederländer im Irak bomben zu lassen und selbst nur zu fotografieren, bedeutet Soldaten ohne jeglichen Einfluss Risiko auszusetzen und bei allen Beratungen im Bündnis zu tönen, es gäbe keine militärische Lösungen ist der sichere Weg zu politischer Bedeutungslosigkeit. Ein Land, das Streitkräfte unterhält, muss sich gesellschaftlich wie politisch dazu bekennen, dass Soldaten Kämpfer sind und, wenn politisch mit klarer Rechtsgrundlage so entschieden, dabei auch töten. Diese Besonderheit des Soldaten bleibt, sie kann man nicht weg oder schön reden. Nur ein normales Deutschland kann dazu beitragen in unruhigen bis stürmische Zeiten vor uns eine eigenständiges und handlungsfähiges Europa zu gestalten, das untrennbar mit dem unersetzlichen Bündnispartner USA verbunden bleibt.
Ich möchte hier nur in abschließender Kürze sagen: Versagt Deutschland in dieser Aufgabe, dann wird Europa an Deutschland scheitern. Ohne leistungsfähige, modern ausgerüstete Streitkräfte und den entschlossenen Willen der deutschen Politik, die Bundeswehr zur Erhaltung des Friedens auch einzusetzen, kann in unserer unruhigen Welt Sicherheit nicht erhalten werden.
Als „emeritierter“ Soldat danke ich Ihnen, Professor Neitzel, für dieses Buch, für diesen wichtigen Beitrag zu einer überfälligen Diskussion in Deutschland. Ich hoffe, dass es ihnen damit gelungen ist, die Augen der noch vorhandenen Vernünftigen zu öffnen, damit auch unsere Kinder und Enkelkinder, so wie wir, in Frieden leben können.