Als „Fata Morgana“ bezeichnet der ehemalige Botschafter Martin Erdmann das Ziel eines Beitritts der Türkei in die Europäische Union. Nachdem der Präsident der Türkei, Recep Tayyip Erdoğan, am 28. Mai 2023 die „bedingt freien Wahlen“ mit „totaler mangelnder Fairness“ gewonnen habe, sei nicht davon auszugehen, dass sich etwas daran ändere, wie die Beitrittsverhandlungen laufen: „Sie treten seit 18 Jahren auf der Stelle“, sagt Erdmann. Mehr noch: Die Türkei habe sich in dieser Zeit so grundlegend verändert, dass die Startbedingungen für eine Aufnahme in die EU in weite Ferne gerückt seien.
Im Atlantic Talk Podcast analysiert Moderator Dario Weilandt zunächst mit seinem Gast Martin Erdmann die Wahlen in der Türkei und ihren Ausgang. Angefangen bei dem Missstand, dass die Opposition nur äußerst eingeschränkten Zugang zu den großen öffentlichen Medien hatte, bis hin zum großen Wahlkampfthema Flüchtlinge, bei dem auch Erdoğans Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu vor der Stichwahl äußerst nationalistische Töne anstimmte.
Was bedeutet das für das Flüchtlingsabkommen mit der Europäischen Union, das in den nächsten Monaten neu verhandelt werden muss? Können die EU-Staaten nun noch länger (zugunsten des Flüchtlingsdeals) aktiv wegschauen, während die Türkei seit Jahren Menschenrechte aushebelt und Erdoğan bereits weitere Beschränkungen unter anderem für Frauen und LGBTQI angekündigt hat?
Martin Erdmann sagt: Nein. In seiner Zeit als deutscher Botschafter in der Türkei von 2015 bis 2020 sei er bei der Eröffnung vieler Infrastruktur- und anderer Projekte dabei gewesen – finanziert durch die sogenannten Vorbeitrittshilfen der EU an die Türkei. Diese Zahlungen in Milliardenhöhe seien nicht länger vertretbar. Es müsse nun ernsthaft über Alternativen nachgedacht werden. Erdmann spricht von einem „transaktionalen Zustand“, der zwischen der EU und der Türkei hergestellt werden müsse. Doch auch dieser müsse sich in einem Rahmen bewegen, bei dem unter anderem die Menschenrechte eingehalten werden. Wie könnte dieser Zustand also gestaltet werden?
Erdoğan hat es geschafft, sich, innenpolitisch als scheinbarer Macher, auch in der internationalen Politik zu präsentieren. Einen Masterplan der Außenpolitik der Türkei sieht Erdmann dabei jedoch nicht. Vielmehr betreibe der Präsident gegenüber Russland eine „Schaukelpolitik“ und treffe außenpolitische Entscheidungen in erster Linie „ad hoc“. Beispiel: die Verweigerung der Türkei für Schwedens NATO-Beitritt. Ausgerechnet in einer Zeit, in der es zum ersten Mal seit Bestehen der NATO einen „Vernichtungsfeldzug“ Russlands gibt, untergrabe Erdoğans Blockadepolitik die Kohäsion der NATO. Wird die Türkei dennoch in fünf Jahren noch Teil des politischen Westens sein? Erdmann berichtet auch sehr persönlich von seiner Zeit als Botschafter der Bundesrepublik in der Türkei, in der er, so häufig wie sonst kein deutscher Botschafter, von der türkischen Regierung einberufen wurde. Er schildert, was für ihn der schlimmste Arbeitstag in Ankara war, wie er sich als Botschafter für Frauen- und LGBTQI-Rechte eingesetzt hat und schließlich, welche Rolle die besondere Verbindung zwischen Deutschland und der Türkei spielt.