„Die USA und die Europäischen Führer haben in meinen Augen zu früh dieses Nein formuliert“, sagt Dr. Stefanie Babst, und meint damit die Aussage von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der Russland noch kurz vor dessen Einmarsch in die Ukraine versichert hatte, die NATO werde niemals in diesen Krieg eingreifen. Sie hätte sich mehr strategische Ambiguität gewünscht, „um zumindest den russischen Präsidenten im Ungewissen zu lassen, was genau die NATO tun würde, sollte Russland die Ukraine angreifen.“ Jetzt aber – so eine ihrer Thesen – könnten weder die NATO noch die EU die militärische Dynamik auf dem Schlachtfeld und damit den Ausgang des Krieges direkt beeinflussen.
Dies ist nur ein Beispiel für die fehlende Weitsicht, die die NATO- und Sicherheits-Expertin Stefanie Babst dem NATO-Bündnis in ihrem neuen, am 20. April im dtv-Verlag erschienenen, Buch „Sehenden Auges: Mut zum strategischen Kurswechsel“ bescheinigt. Im Gespräch mit Atlantic-Talk-Moderator Oliver Weilandt schildert die „Verfechterin des sicherheitspolitischen Multilateralismus’“, wie die Autorin sich selbst bezeichnet, dass Organisationen wie die NATO „relativ schwerfällige und risikoscheue Apparate“ sind. Viel zu oft landeten Analysen zur strategischen Vorausschau in Schubladen.
Umso wichtiger sei es deshalb jetzt, angesichts des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine, die Formulierung des klaren Ziels, den „Putinismus“ („ein zutiefst autoritäres, kleptokratisches System“) zurückzudrängen und einzudämmen. Um die Großmachtziele Russlands zu vereiteln, sei es zugleich wichtig, dass sich die Transatlantiker nicht spalten lassen. Unsere Gesellschaften seien nicht darauf ausgerichtet, Krieg zu führen. „Unsere Eliten gucken auf ihren Wahlzyklus“, mit dem Schutz kritischer Infrastruktur täten sich die westlichen Demokratien schwer. – Aus Sicht Putins: Schwächen.
Babst betont, wir hätten es mit einem fundamentalen, vielleicht sogar existenziellen Konflikt zu tun, keinem vorübergehenden Sturm, „wie vielleicht manche in Berlin oder Paris hoffen. Das wird nicht der Fall sein.“ Russland sei aufgebrochen, unterstützt von China und anderen autoritären Staaten, „um unsere internationale Ordnung nachhaltig zu verändern“. Ein strategischer Blick der NATO nach vorne sei daher auch in Bezug auf die Zeit nach Ende der Kampfhandlungen in der Ukraine dringend nötig. „Dann wird sich eine Art »Eiserner Vorhang« durch die Ukraine legen“ und es stelle sich die Frage: Wer auf westlicher Seite kann wie dazu beitragen, die Ukraine dauerhaft zu beschützen? Konzeptionelle Vorbereitungen dafür sieht Babst bisher bei der NATO nicht.
»Was zu tun ist«, um das Überleben der Ukrainerinnen und Ukrainer zu retten, Russlands imperialistischen Krieg zu stoppen und eine neue europäische Friedensarchitektur aufzubauen – das erläutert die Sicherheitsexpertin im Gespräch mit Moderator Weilandt Punkt für Punkt: Welche Waffen benötigt die Ukraine, um ihr Territorium zurückzuerobern? Wie kann eine Nuklearisierung Europas aussehen, wenn sich die USA aus Europa zurückziehen? Welche Schritte sind nötig, um Russlands Position im UN-Sicherheitsrat zu thematisieren? Braucht es zum Schutz der Ukraine, Moldawiens, Georgiens eine neue NATO-Osterweiterungs-Runde? Ernste, harte Themen kommen zur Sprache in diesem Atlantic Talk, zumal die langjährige NATO-Expertin ihren Maulkorb spätestens mit ihrem Buch »Sehenden Auges« sehenden Auges abgelegt hat.