Deutsche Atlantische Gesellschaft e.V.

(46) „NATO-Einsichten“: Was zu tun ist – der mutige Weg zu strategischer Weitsicht

„Die USA und die Europäischen Führer haben in meinen Augen zu früh dieses Nein formuliert“, sagt Dr. Stefanie Babst, und meint damit die Aussage von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der Russland noch kurz vor dessen Einmarsch in die Ukraine versichert hatte, die NATO werde niemals in diesen Krieg eingreifen. Sie hätte sich mehr strategische Ambiguität gewünscht, „um zumindest den russischen Präsidenten im Ungewissen zu lassen, was genau die NATO tun würde, sollte Russland die Ukraine angreifen.“ Jetzt aber – so eine ihrer Thesen – könnten weder die NATO noch die EU die militärische Dynamik auf dem Schlachtfeld und damit den Ausgang des Krieges direkt beeinflussen.

Dies ist nur ein Beispiel für die fehlende Weitsicht, die die NATO- und Sicherheits-Expertin Stefanie Babst dem NATO-Bündnis in ihrem neuen, am 20. April im dtv-Verlag erschienenen, Buch „Sehenden Auges: Mut zum strategischen Kurswechsel“ bescheinigt. Im Gespräch mit Atlantic-Talk-Moderator Oliver Weilandt schildert die „Verfechterin des sicherheitspolitischen Multilateralismus’“, wie die Autorin sich selbst bezeichnet, dass Organisationen wie die NATO „relativ schwerfällige und risikoscheue Apparate“ sind. Viel zu oft landeten Analysen zur strategischen Vorausschau in Schubladen.

Umso wichtiger sei es deshalb jetzt, angesichts des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine, die Formulierung des klaren Ziels, den „Putinismus“ („ein zutiefst autoritäres, kleptokratisches System“) zurückzudrängen und einzudämmen. Um die Großmachtziele Russlands zu vereiteln, sei es zugleich wichtig, dass sich die Transatlantiker nicht spalten lassen. Unsere Gesellschaften seien nicht darauf ausgerichtet, Krieg zu führen. „Unsere Eliten gucken auf ihren Wahlzyklus“, mit dem Schutz kritischer Infrastruktur täten sich die westlichen Demokratien schwer. – Aus Sicht Putins: Schwächen.

Babst betont, wir hätten es mit einem fundamentalen, vielleicht sogar existenziellen Konflikt zu tun, keinem vorübergehenden Sturm, „wie vielleicht manche in Berlin oder Paris hoffen. Das wird nicht der Fall sein.“ Russland sei aufgebrochen, unterstützt von China und anderen autoritären Staaten, „um unsere internationale Ordnung nachhaltig zu verändern“. Ein strategischer Blick der NATO nach vorne sei daher auch in Bezug auf die Zeit nach Ende der Kampfhandlungen in der Ukraine dringend nötig. „Dann wird sich eine Art »Eiserner Vorhang« durch die Ukraine legen“ und es stelle sich die Frage: Wer auf westlicher Seite kann wie dazu beitragen, die Ukraine dauerhaft zu beschützen? Konzeptionelle Vorbereitungen dafür sieht Babst bisher bei der NATO nicht.

»Was zu tun ist«, um das Überleben der Ukrainerinnen und Ukrainer zu retten, Russlands imperialistischen Krieg zu stoppen und eine neue europäische Friedensarchitektur aufzubauen – das erläutert die Sicherheitsexpertin im Gespräch mit Moderator Weilandt Punkt für Punkt: Welche Waffen benötigt die Ukraine, um ihr Territorium zurückzuerobern? Wie kann eine Nuklearisierung Europas aussehen, wenn sich die USA aus Europa zurückziehen? Welche Schritte sind nötig, um Russlands Position im UN-Sicherheitsrat zu thematisieren? Braucht es zum Schutz der Ukraine, Moldawiens, Georgiens eine neue NATO-Osterweiterungs-Runde? Ernste, harte Themen kommen zur Sprache in diesem Atlantic Talk, zumal die langjährige NATO-Expertin ihren Maulkorb spätestens mit ihrem Buch »Sehenden Auges« sehenden Auges abgelegt hat.

Zu Gast:

Dr. Stefanie Babst

Senior Associate Fellow, European Leadership Network, London; Principal, Brooch Associates, London; Präsidiumsmitglied, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, Berlin

Studierte in Kiel von 1983-89 an der Christian-Albrechts Universität und nachfolgend der Pennsylvania State University/USA Politische Wissenschaft, Slawistik und Internationales Recht. 1993 promovierte sie mit Hilfe eines Stipendiums der Harvard University, der Friedrich Naumann Stiftung und der Fulbright Kommission an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel. Als erste weibliche Dozentin an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg, übernahm sie den Lehrstuhl für Russland- und Osteuropastudien. Nach verschiedenen Gastdozenturen in den USA, der Russischen Föderation, der Ukraine und Tschechischen Republik wechselte Stefanie Babst 1998 in den Internationalen Stab der NATO, wo sie zunächst als German Information Officer und Referatsleiterin arbeitet, bevor sie im Mai 2006 von NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer zur Stellvertretenden Beigeordneten Generalsekretärin für Public Diplomacy der NATO ernannt wurde. Damit wurde sie zur höchstrangigsten deutschen Frau im Internationalen Stab der NATO und prägte die Öffentlichkeits- und Medienpolitik der Allianz sehr nachhaltig. Unter NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen baute Stefanie Babst, einen Krisenvorausschau- und strategischen Planungsstab für die NATO auf, den sie bis Januar 2020 auch leitete. Seit März 2020 arbeitet sie als strategische Beraterin und Publizistin und unterstützt mehrere multilaterale Projekte. Darüber hinaus ist sie Mitgründerin von Brooch Associates, einer von fünf renomierten Powerfrauen geleiteten strategischen Beratungsfirma mit Sitz in London.

Moderation:

Oliver Weilandt

Geschäftsführer der Hörfunkagentur »Internationaler Audiodienst (iad)«

Oliver Weilandt moderiert den »Atlantic Talk Podcast« der Deutschen Atlantischen Gesellschaft. Der Agenturleiter und Autor zahlreicher Radiofeature und politischer Hintergrundberichte auf den Wellen der ARD sowie in den Programmen des Deutschlandradios verantwortet unter anderem auch das Privatfunkprogramm der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland.

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