Deutsche Atlantische Gesellschaft e.V.

Brauß zur Atom-Debatte in der SPD: »Rolf Mützenich hat Unrecht«

Der SPD-Fraktionsvorsitzende stellt die Dinge auf den Kopf. Amerikanische Nuklearwaffen in Europa sind ein wesentlicher Teil der Nato-Strategie. Deutschlands Ausstieg wäre ein fatales Signal. 

Ein Gastbeitrag in der FAZ von Heinrich Brauss

In einem Interview mit dem »Tagesspiegel« vom 4. Mai forderte der Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag, Rolf Mützenich, den Abzug der amerikanischen Atombomben aus Deutschland und den Ausstieg Deutschlands aus der Nuklearen Teilhabe der Nato. Er wird darin durch die Ko-Vorsitzenden der SPD unterstützt. Der Abgeordnete Mützenich begründet seine Forderung im Wesentlichen mit seinem Misstrauen gegenüber der amerikanischen Regierung unter Präsident Trump, die ihre Nuklearstrategie so verändert habe, dass ein »Einsatz dieser Waffen in Europa wieder viel wahrscheinlicher geworden« sei und Atomwaffen auf deutschem Gebiet daher unsere Sicherheit bedrohten. Für Fachleute ist offenkundig, dass dieser Vorstoß auf einer bedenklichen Fehlinterpretation der Nato-Strategie beruht, die die deutsche Regierung, einschließlich ihrer sozialdemokratischen Außenminister, maßgeblich mitgestaltet hat.

Die Forderungen Mützenichs stehen im Zusammenhang mit der anhebenden Debatte über die Absicht von Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer, für die Nachfolge des Tornado-Jagdbombers unter anderem amerikanische F‑18-Kampfflugzeuge zu beschaffen, die auch die Aufgabe des Tornados übernehmen können, in einem Krieg gegebenenfalls amerikanische Atombomben ins Ziel zu bringen. Die Ankündigung hat heftige Reaktionen ausgelöst. Einige SPD-Abgeordnete fordern eine ergebnisoffene Debatte, bevor eine endgültige Entscheidung getroffen werde.

Eine solche Debatte muss aber mit einer gründlichen, sachgerechten Analyse der Nato-Strategie beginnen. Sie muss ebenso klar die Strategie und das militärische Potential Russlands benennen, vor denen die Nato uns schützt. Und sie muss mit der Bereitschaft verbunden sein, sich auf die komplexe, schwierige und manchmal auch schwer erträgliche Logik von Abschreckung einzulassen und zu durchdenken, was geboten ist, um jederzeit unsere Sicherheit und die unserer Verbündeten zu gewährleisten. Dabei kommt es darauf an, nicht nur auf Atomwaffen zu fokussieren, schon gar nicht auf eine einzige Kategorie, sondern stets das gesamte Spektrum an militärischen Fähigkeiten und Optionen zu beurteilen, auf russischer wie auf Nato-Seite.

Erstens:

Die Nato schützt ihre Mitglieder vor möglichen Bedrohungen von außen. Durch glaubwürdige Abschreckung und gesicherte Verteidigungsfähigkeit will sie militärische Angriffe abwehren können, eine mögliche Angriffsdrohung entkräften, eine Krise de-eskalieren und stabilisieren und damit Krieg in Europa verhindern. Zudem trägt sie dazu bei, Krisen außerhalb des Bündnisgebiets zu bewältigen und arbeitet mit heute über 40 Partnernationen, der EU und den Vereinten Nationen zusammen.

Zweitens:

Seit der russischen Aggression gegen die Ukraine und der widerrechtlichen Annexion der Krim im Jahr 2014 hat die Nato ihre Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit deutlich verstärkt. Russlands »hybride« Strategie zielt darauf ab, den Westen von innen heraus destabilisieren und von außen her einschüchtern zu können. Man kann die Grundsätze dieser Strategie beim russischen Generalstabschef Gerasimow nachlesen. Das Spektrum an Instrumenten reicht von gezielter Desinformation, Cyberangriffen, systematischer konventioneller Aufrüstung und Modernisierung des gewaltigen Nuklearpotentials, Angriffsübungen gegen die Nato bis hin zu Drohungen mit Atomwaffen. Neue, nuklearfähige Mittelstreckenraketen können Ziele in fast ganz Europa erreichen – schon heute. Alle diese Mittel, auch die Androhung militärischer Gewalt und der Einsatz militärischer Mittel, dienen Präsident Putin dem Erreichen seiner geopolitischen Ziele.

Drittens:

Wer Nuklearwaffen hat, denkt und agiert in der Logik von Abschreckung, defensiv oder offensiv. Defensiv, um eine Aggression zu verhindern, eine Nötigung zu entkräften, dem Angreifer Handlungsoptionen zu versagen und die eigene Handlungsfreiheit zu erhalten. Offensiv, um den Verteidiger einzuschüchtern und zu nötigen, seine Gegenwehr zu entmutigen und ihm Handlungsoptionen für eine wirkungsvolle Verteidigung zu versagen. Die Strategie der Nato ist defensiv. Ein Krieg in Europa ginge nicht von ihr aus. Aber sie trifft Vorsorge dagegen, dass eine mögliche politische Krise mit wachsenden Spannungen in einen militärischen Angriff auf Verbündete eskaliert. Ihr Abschreckungsdispositiv soll das Risikokalkül des Gegners beeinflussen. Es ist also wichtig, die eigenen Vorkehrungen aus dessen Sicht zu durchdenken, denn »deterrence happens in the mind of the opponent«.

Viertens:

Das weite Spektrum an konventionellen und nuklearen Fähigkeiten (den strategischen Nuklearwaffen der Vereinigten Staaten, den »unabhängigen« strategischen Nuklearwaffen Frankreichs und Großbritanniens und den in Europa gelagerten amerikanischen Bomben) und inzwischen auch Cyber-Mitteln bietet der Nato eine Vielzahl von Optionen, von denen im Krisen- und Konfliktfall diejenigen zur Anwendung kommen würden, die am ehesten einen Gegner von einer Aggression abhalten oder einen Angriff abwehren und einen Krieg rasch beenden können. Die notwendigen Fähigkeiten und die klar kommunizierte, demonstrative Entschlossenheit der Allianz, diese gemeinsam einzusetzen, wenn es erforderlich wäre, machen eine Aggressionsdrohung in einer Krise wirkungslos und sichern die Entscheidungsfreiheit der Verbündeten. Die russische Führung soll jederzeit zu dem Schluss kommen, dass auch ein begrenzter Angriff sofort die Nato als Ganze auf den Plan riefe, vor allem auch die Vereinigten Staaten, dass der Erfolg eines Angriffs, wo, wie und wann auch immer, zweifelhaft wäre oder sogar die Nachteile für Russland größer wären als der angestrebte Gewinn und dass im Extremfall ein solcher Angriff einen untragbar hohen Schaden für Russland selbst zeitigen könnte, nämlich dann, wenn er zum Einsatz von Nuklearwaffen führte.

Fünftens:

Im Vordergrund stehen natürlich die Fähigkeit und der Wille, einen möglichen Angriff durch gemeinsame Verteidigung mit konventionellen Streitkräften abwehren zu können. Würde die Nato aber mit einer nuklearen Drohung konfrontiert, wäre sie bestrebt, ihre Antwort so zu bemessen, dass sie wirkungsvoll aber verhältnismäßig wäre und nach vernünftigem Ermessen die russische Führung zum Einlenken veranlassen würde. Welche Option in welcher Lage gewählt würde, lässt die Nato bewusst im Ungewissen. Ein Angreifer soll das mit einer Gewaltandrohung verbundene Risiko nicht kalkulieren und womöglich beherrschen können. Das ist der Kern der Nato-Strategie der »Flexible Response«,deren Prinzipien heute wieder gelten. Diplomatische Bemühungen und die Mittel Strategischer Kommunikation gehören dazu. Es ist klar, dass die Nato eine Fülle von Szenarien und Optionen durchdenkt, in Übungen testet, Verfahren plant, prüft und optimiert. Die Fähigkeit, eine amerikanische Atombombe durch europäische Flugzeuge in ein Ziel in Russland zu bringen und diese Fähigkeit in einer Krise zu demonstrieren, ist also eine von vielen Optionen im Abschreckungsgefüge der Nato. Deren Modernisierung erhöht die Flexibilität der Nato, einer Aggressionsdrohung zu begegnen. Dies mit einer Erhöhung des Eskalationsrisikos gleichzusetzen, wie der SPD-Fraktionsvorsitzende dies tut, stellt die Dinge auf den Kopf.

Es geht um die einzige gemeinschaftliche nukleare Abschreckungsfähigkeit

Sechstens:

Die genannte Fähigkeit hat darüber hinaus aber eine überragende strategische und bündnispolitische Funktion. Sie stellt die einzige nukleare Abschreckungsoption in Europa dar, die auf einer gemeinschaftlichen Fähigkeit der Vereinigten Staaten und europäischer Staaten gründet, die selbst keine Nuklearwaffen besitzen. Sie ist der manifeste Ausdruck der amerikanischen erweiterten nuklearen Abschreckung für Europa. Eine amerikanische Bombe, die Russland treffen könnte, signalisiert Moskau, dass Amerika für die Sicherheit Europas mit seiner eigenen Sicherheit bürgt und das damit verbundene Risiko bewusst in Kauf nimmt. Denn ein russischer Gegenschlag könnte Amerika selbst treffen. Die Bereitstellung von Kampfflugzeugen und Schutzbauten, Lagerstätten und technischer Infrastruktur durch europäische Verbündete auf deren Territorium – in Belgien, Deutschland, Italien, den Niederlanden und der Türkei – wiederum ist der Ausdruck für deren Bereitschaft, dieses besondere Risiko mitzutragen. Weitere Europäer stellen Kampfflugzeuge für den konventionellen Begleitschutz von möglichen nuklearen Einsätzen. Alle diese Vorkehrungen sind Ausweis bewusster nuklearer Risikoteilung und äußerster Solidarität zwischen Amerikanern und Europäern.

Siebtens:

Man mag diese Logik als kalt und paradox empfinden. Aber alle Staats- und Regierungschefs haben in ihren Gipfelerklärungen die zentrale Bedeutung dieser Fähigkeit für die Glaubwürdigkeit und den Zusammenhalt des Bündnisses herausgestellt. Ja, der amerikanische Präsident entscheidet über den Einsatz amerikanischer Nuklearwaffen. Die Annahme aber, er könnte eine möglicherweise existenzielle Bedrohung der Vereinigten Staaten durch bewusste nukleare Eskalation in Europa herbeiführen wollen, ist absurd. Zudem würde über den Einsatz eines europäischen Kampfflugzeugs die verantwortliche Regierung entscheiden, also auch die deutsche. Die Planungen und Verfahren im Einzelnen sind in der Nato und in den beteiligten Hauptstädten naturgemäß geheim. Sie werden aber regelmäßig erprobt und geübt. Die Nukleare Planungsgruppe, also die Nato-Verteidigungsminister ohne Frankreich, werden regelmäßig darüber unterrichtet. Sie werden auch zu Übungen konsultiert und billigen den Übungskalender. Die sogenannte Nukleare Teilhabe ist also die Kehrseite der nuklearen Risikoteilung in der Nato. Im Lichte der russischen Option, die Nato mit einer auf Europa begrenzten nuklearen Bedrohung zu konfrontieren in der Hoffnung, Amerika aus einem regionalen Konflikt heraushalten und Europa vom Schutz durch die Vereinigten Staaten abkoppeln zu können, ist die Bedeutung der amerikanischen Nuklearwaffen in Europa enorm gestiegen. Daher ist die Entscheidung für den richtigen Nachfolger für den Tornado, der auch dessen nukleare Rolle glaubwürdig fortführen kann, notwendig und dringlich.

Achtens:

Die Absicht der SPD-Führung, aus der Nuklearen Teilhabe auszusteigen und amerikanische Atombomben aus Deutschland zu verbannen, würde weder die russische Bedrohung verringern noch die Nato-Strategie verändern. Deutschland würde aber das Risiko auf andere Verbündete abladen, die ebenfalls Kampfflugzeuge stellen, und sich faktisch der Mitverantwortung für die Sicherheit aller entziehen, wenn es um eine besonders risikoreiche Mission ginge. Das wäre ein schwerer Schlag für die Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit Deutschlands, vor allem in den Augen unserer Nachbarn im Osten. Für das Vertrauen unter Verbündeten und den Zusammenhalt der Nato ist die Nukleare Teilhabe und Risikoteilung von zentraler Bedeutung. Sollten die anderen Europäer dann aber Deutschlands Beispiel folgen, hätten die Vereinigten Staaten eigentlich keinen Grund mehr, das Risiko eines nuklearen Schutzschirms für Europas allein zu tragen. Für die Sicherheit Europas und die transatlantische Partnerschaft wäre dies fatal.

Politische Kontrolle der Nato-Nuklearstrategie durch Deutschland wäre passé

Neuntens:

Es bliebe offen, ob die Nukleare Planungsgruppe bestehen bliebe. Aber Berlin würde fortan in besonders sensiblen nuklearen Fragen kaum mehr konsultiert, weder durch die Amerikaner noch durch die anderen Europäer. Politische Kontrolle der Nuklearstrategie der Nato durch Deutschland wäre de facto passé, zumindest aber sehr erschwert. Die Übernahme der in Deutschland gelagerten Atombomben durch Polen, wie dies der Abgeordnete Mützenich als Möglichkeit andeutet, wäre ein eklatanter Verstoß gegen die Nato-Russland-Grundakte, auf deren Einhaltung sich die Verbündeten trotz der russischen Aggression und Rechtsbrüche verständigt haben. Darin hat sich das Bündnis 1997 unilateral verpflichtet, keine Atomwaffen auf dem Territorium der damals neuen Mitglieder zu stationieren. Die Abkehr von dieser Selbstverpflichtung hätte große destabilisierende Wirkung für die gesamte Region. Es ist befremdlich, dass der Fraktionsvorsitzende der SPD dies überhaupt in Erwägung zieht.

Zehntens:

Die Strategie des Bündnisses stellt die berechtigten Sicherheitsbedürfnisse Russlands bewusst in Rechnung. Das Nato-Dispositiv wird gestärkt, bleibt aber defensiv. Die Maßnahmen der Nato sind ausgewogen, nicht exzessiv. Von ihnen geht keine Bedrohung für Russland aus, wohl aber die Botschaft, dass Nötigung unwirksam bliebe und ein Angriff keinen Erfolg hätte. Auf die neuen russischen Mittelstreckenraketen wird die Allianz nicht mit neuen nuklearen Waffen in Europa antworten. Stattdessen verlegt sie sich auf defensive konventionelle Mittel wie Luft- und Raketenabwehr, die einer Drohung mit Raketen neutralisieren sollen. Und schließlich hält die Nato am regelmäßigen Dialog mit Russland im Nato-Russland-Rat fest. Auch die militärischen Oberbefehlshaber tauschen sich aus. Missverständnisse sollen vermieden, Risiken minimiert und ein Minimum an Berechenbarkeit erhalten werden. Ebenso bekennt sich die Allianz zu einem Neuanfang in der Rüstungskontrolle in Europa.  Derzeit gibt es aber schwerlich einen Anreiz für den Kreml, in ernsthafte Verhandlungen einzutreten. Würden die amerikanischen Nuklearwaffen aus Europa verschwinden und Deutschland sich als wichtigster europäischer Verbündeter aus der Mitverantwortung für nukleare Abschreckung verabschieden, hätte Putin noch weniger Anlass, sich auf Rüstungskontrolle in Europa einzulassen.

Ein Beitrag von:

Generalleutnant a. D. Heinrich Brauß

Ehemaliger Beigeordneter NATO- Generalsekretär für Verteidigungspolitik und Streitkräfteplanung (2013–2018)

Heinrich Brauß ist Generalleutnant a. D. der Bundeswehr, Leiter der jährlichen NATO Talk-Konferenz der Deutschen Atlantischen Gesellschaft und seit Oktober 2018 Senior Associate Fellow der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. General Brauß war von Oktober 2013 bis Juli 2018 Beigeordneter NATO-Generalsekretär für Verteidigungspolitik und Streitkräfteplanung (Assistant Secretary General for Defence Policy and Planning) im Internationalen Stab der NATO in Brüssel wie auch Vorsitzender des Defence Policy and Planning Committee des Nordatlantikrats. Er ist überdies Verfasser der DAG-Publikation NATO 2030 - Experience - Challenge - Future.

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