Deutsche Atlantische Gesellschaft e.V.

Die Neo-Nato

Das westliche Verteidigungsbündnis steht vor einer Neuausrichtung. Generalsekretär Stoltenberg setzt auf bessere Ausbildung und klimaschonendere Technik. Aber was ist mit neuen Antworten auf Terrorismus, nukleare Proliferation und die Gefahr aus China? Eine To-do-Liste

von Stefanie Babst, erschienen in der Welt am 28. APRIL 2021.

Zwei Monate vor dem nächsten Gipfeltreffen herrscht rege Betriebsamkeit im Nato-Hauptquartier. Die „Tiger Teams“ von Generalsekretär Jens Stoltenberg schreiben emsig an Aktionsplänen und Roadmaps, die den 30 Delegationen zur Verhandlung angeboten werden. Das Treffen der Staats- und Regierungschefs am 14. Juni muss gelingen. Dann soll der Startschuss für ein neues strategisches Konzept der Nato fallen.

Atmosphärisch wird der erste Besuch von US-Präsident Joe Biden in Brüssel zweifellos besser werden als die quälenden Treffen mit seinem unberechenbaren Vorgänger Donald Trump. Vorbei die Zeiten, in denen Nato-Generalsekretär Stoltenberg versuchte, mit Statistiken und Schaubildern bewaffnet, Trump davon zu überzeugen, dass sich immerhin ein paar europäische Verbündete dem Zwei-Prozent-Ziel näherten. Nun darf er von Biden ein unerschütterliches Bekenntnis zum transatlantischen Bündnis erwarten. Der neue US-Präsident wird kaum auf Prozentzahlen herumhacken wollen, sondern seine europäischen Partner aufrufen, sich gemeinsam den Herausforderungen der Zukunft zu stellen.

Pläne für die „Nato 2030“

Auf dem Verhandlungstisch in Brüssel liegen sieben Themen, die das neue strategische Konzept „Nato 2030“ inhaltlich prägen sollen. Dazu gehört der Vorschlag, dass die Mitglieder mehr Geld in den Gemeinschaftsetat einzahlen sollen. Aus einem größeren Gemeinschaftstopf, so Stoltenberg, könnten die Ausgaben der Verbündeten für ihre operativen Einsätze und Beiträge zur Bündnisverteidigung kompensiert werden. Darüber hinaus schlägt der Generalsekretär die Aufstellung eines neuen Ausbildungs- und Kooperationskommandos vor. So will das Bündnis seine militärischen Trainings- und Beratungsmissionen für interessierte Partnerstaaten besser bündeln. Die Beziehungen mit Ländern in der pazifischen Region sollen 2022 auf einem Nato-Asien Gipfel neue Impulse erhalten. Generell soll mit Blick auf China die gesamte Region politisch aufgewertet werden.

Eine noch zu verkündende technologische Innovationsinitiative soll sicherstellen, dass die Nato auf der Höhe des technologischen Fortschritts bleiben und den Umgang mit disruptiven Technologien besser managen kann. Ein weiterer Vorschlag des Generalsekretärs betrifft die Krisenvorsorge- und Widerstandsfähigkeiten (Resilienz) der Bündnispartner. Obwohl Katastrophenschutz, inklusive der Sicherstellung öffentlicher Grundversorgung, primär eine nationale Aufgabe ist, will die Nato ihre Mitglieder künftig stärker unterstützen, um sich gegen mögliche Cyber- und bewaffnete Angriffe auf Wasser‑, Energie‑, Verkehrs- und Kommunikationssysteme gezielter zu wappnen.

Nach Stoltenbergs Vorstellung soll die Nato auch eine Vorreiterrolle beim Kampf gegen den Klimawandel spielen. Durch die Einführung von Standards für militärische Fahrzeuge und Ausrüstung will die Nato einen Beitrag zur Reduzierung der Treibhausemissionen leisten. Auch einen jährlichen Klimagipfel möchte der Generalsekretär künftig ausrichten. Zu guter Letzt hat der NATO-Chef einige Vorschläge gemacht, wie die Mitglieder mehr miteinander reden könnten. Dies soll hauptsächlich auf jährlichen Treffen der Staats- und Regierungschefs sowie in verschiedenen Formaten geschehen. Überdies möchte er seinen politischen Gestaltungsspielraum erweitert sehen und einen größeren Zivilhaushalt.

Über die strategische Relevanz dieser Vorschläge lässt sich diskutieren. Natürlich sind Budgetfragen und Themen wie Klimawandel, Resilienz und Partnerschaften sicherheitspolitisch wichtig. Was aber ist mit Terrorismusbedrohungen, nuklearen Proliferationsgefahren, der notwendigen Wiederbelebung von Rüstungskontrollabkommen oder der zentralen Frage, wie die Nato künftig die Sicherheit in ihrer europäischen Nachbarschaft stabilisieren will? 

Nato und EU: Gemeinsam denken

Vielleicht würde ein Blick auf die Arbeiten in einem anderen Brüsseler Stadtteil helfen. In der Rue de la Loi arbeitet die Europäische Union seit einiger Zeit an ihrer eigenen strategischen Neuausrichtung. Der Strategische Kompass der EU soll das künftige außen- und sicherheitspolitische Handlungsprofil der Europäer festlegen. Mitte 2022, wenn Frankreich die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, soll der Kompass fertiggestellt und von den Mitgliedstaaten abgesegnet werden.

Auf welche militärischen Risiken und Bedrohungen müssen sich ihre Mitglieder zukünftig besonders einstellen? Welche zivilen und militärischen Fähigkeiten werden benötigt, um sich in den kommenden Jahren in dem immer härter geführten globalen Wettbewerb um Einfluss und Macht behaupten zu können? Diese und ähnliche Fragen spielen sowohl bei den Diskussionen über das neue strategische Konzept der Nato als auch den Strategischen Kompass der EU eine zentrale Rolle. Nichts liegt daher näher, als dass sich die Nato und EU in ihrer strategisch-konzeptionellen Neuausrichtung eng absprechen und sicherstellen, dass der Westen möglichst mit einer Stimme spricht und handelt.

Politisch wäre eine institutionelle Verzahnung beider Prozesse problematisch. Aber eine enge inhaltliche Abstimmung könnte auch auf der Arbeitsebene zu mehr Synergien führen. Insbesondere könnte sie dazu beitragen, bereits bestehende Duplizierungen zu reduzieren und neue zu vermeiden. Ein gutes Beispiel sind die zivil-militärischen Trainingsaktivitäten, die beide Organisationen interessierten Partnerstaaten anbieten. Gegenwärtig unterhält die EU 17 militärische und zivile Operationen, darunter etliche in Afrika, im Nahen Osten und Osteuropa. Für die gerade erst beschlossene European Peace Facility hat die EU fünf Milliarden Euro extra für die nächsten sieben Jahre bereitgestellt, um ihre Auslandsoperationen finanziell besser abzufedern.

Würde eine neue Nato-Kommandobehörde für militärische Ausbildung und Kooperation mit Partnerstaaten wirklich einen strategischen Mehrwert für die Sicherheit aller Nato-Mitglieder bieten oder wäre diese Aufgabe nicht besser bei der EU aufgehoben? Einigen der Nato-Partnerprogramme fehlt bereits seit längerer Zeit Substanz; in anderen Fällen ist ihr strategisches Rational nicht immer nachvollziehbar. Warum das Bündnis beispielsweise politische Energie und Ressourcen in die Entwicklung einer partnerschaftlichen Beziehung mit Kolumbien investiert, ist jedenfalls nicht sofort plausibel.

Nato-EU Partnerschaft stärker fokussieren

Vor nicht allzu langer Zeit haben sich die Nato und EU auf eine enge Zusammenarbeit in 74 Themenbereichen von „gemeinsamem Interesse“ geeinigt. Augenscheinlich aber bleibt die zielgerichtete Kooperation zwischen beiden „Bubbles“ in Brüssel schwierig. Die Nato-Expertengruppe um Thomas de Maiziere hat in ihrem klugen Bericht, den die Nato-Außenminister im Dezember erhalten haben, beide Organisationen eindringlich aufgefordert, ihre strategische Partnerschaft stärker zu fokussieren. Unter anderem hat die Expertengruppe die Einrichtung von permanenten LiaisonStellen in den jeweiligen Arbeitsstäben vorgeschlagen. Die tägliche Zusammenarbeit vor Ort würde nicht nur den Informationsaustausch zwischen beiden Organisationen verbessern und mögliche Duplizierungen in der Entstehungsphase identifizieren, sondern auch eine gemeinsame Arbeitskultur befördern.

Um die Glaswände zwischen der Nato und EU stärker zu durchbrechen, könnten auch gemeinsame Arbeitsgruppen zu prioritären Themen wie Resilienz, disruptive Technologien und Klimawandel einen Beitrag leisten. In diesen Bereichen hat die EU bereits eine umfangreiche Kompetenz entwickelt. Die Bündnispartner sollten sich daher genau überlegen, wie die aktuellen Vorschläge von Generalsekretär Stoltenberg bereits bestehende EU-Initiativen sinnvoll ergänzen könnten, ohne dass parallele Strukturen und Projekte entstehen.

Strategische Kernbotschaften

Angesichts des breiten Spektrums komplexer und miteinander vernetzter militärischer Risiken und sicherheitspolitischer Herausforderungen im internationalen System ist die Diskussion über strategische Prioritäten nicht einfach. Terrorismus- und Proliferationsgefahren werden auf absehbare Zeit reale Bedrohungen bleiben und sollten daher unbedingt auf die strategische Prioritätenliste der Allianz. Dies gilt auch für die Auseinandersetzung mit den künftigen Formen der Kriegsführung, in der künstliche Intelligenz und andere Technologien eine entscheidende Rolle spielen werden. Will die Nato weiterhin ein effektives kollektives Verteidigungsbündnis bleiben, dann muss sie sich auf ihr Kerngeschäft konzentrieren.

Von strategischer Relevanz wäre auch eine überzeugende Antwort auf die Frage, wie das Bündnis die sicherheitspolitische Zukunft all jener europäischen Staaten sieht, die bereits seit einiger Zeit vor der Nato-Tür auf Einlass warten. Dazu gehören allen voran die Ukraine und Georgien. Müssen diese Länder schlicht die Ankunft eines neuen Kremlherren abwarten, oder was kann das die Nato zusätzlich beitragen, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker wieder mehr Glaubwürdigkeit erhält?

Zweifelsohne gebühren Russland und China ein zentraler Platz in dem neuen strategischen Konzept. Während Russland aus einem ganzen Bündel von Gründen auch in dem kommenden Jahrzehnt eine unmittelbare militärische Bedrohung für die Sicherheit Europas bleiben wird, ist der Aufstieg Chinas zur Weltmacht mit ungleich komplexeren Herausforderungen für die transatlantische Sicherheit verbunden. In Moskau und Peking werden autoritäre Führungen auf absehbare Zeit das Sagen haben. Beide scheren sich wenig um internationale Regeln und scheuen sich nicht, ihre Interessen notfalls auch mit gewaltsamen Mitteln umzusetzen.

Und beide Länder investieren massiv in ihre militärischen und technologischen Fähigkeiten, mit denen sie das Bündnis in allen Domänen herausfordern: mit nuklearen, konventionellen und neuen Waffensystemen, mit hybriden Methoden, im Weltall und Cyberraum, und auf den Weltmeeren. Die zunehmend enge Partnerschaft zwischen beiden macht diese Herausforderung für den Westen noch größer. Vor diesem Hintergrund wäre es wünschenswert, wenn die Nato in der verbleibenden Zeit bis zum Gipfel im Juni möglichst intensiv über ihre künftigen politischen Strategien gegenüber Russland und China nachdenkt. Am besten gemeinsam mit der EU.

Eine kluge Strategie gegenüber beiden Akteuren müsste eine langfristige Perspektive im Blick haben, auf alle Eventualitäten vorbereitet sein, durch moderne Fähigkeiten in allen Bereichen glaubwürdige Abschreckung und Verteidigungsbereitschaft demonstrieren können, und von dem politischen Willen der Bündnispartner getragen zu sein, die freiheitliche Ordnung kompromisslos zu verteidigen. Jede andere Botschaft in dem neuen strategischen Konzept der Nato würde in Moskau und Peking mit einem schwachen Lächeln quittiert werden.

Ein Beitrag von:

Dr. Stefanie Babst

Senior Associate Fellow, European Leadership Network, London; Principal, Brooch Associates, London; Präsidiumsmitglied, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, Berlin

Studierte in Kiel von 1983-89 an der Christian-Albrechts Universität und nachfolgend der Pennsylvania State University/USA Politische Wissenschaft, Slawistik und Internationales Recht. 1993 promovierte sie mit Hilfe eines Stipendiums der Harvard University, der Friedrich Naumann Stiftung und der Fulbright Kommission an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel. Als erste weibliche Dozentin an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg, übernahm sie den Lehrstuhl für Russland- und Osteuropastudien. Nach verschiedenen Gastdozenturen in den USA, der Russischen Föderation, der Ukraine und Tschechischen Republik wechselte Stefanie Babst 1998 in den Internationalen Stab der NATO, wo sie zunächst als German Information Officer und Referatsleiterin arbeitet, bevor sie im Mai 2006 von NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer zur Stellvertretenden Beigeordneten Generalsekretärin für Public Diplomacy der NATO ernannt wurde. Damit wurde sie zur höchstrangigsten deutschen Frau im Internationalen Stab der NATO und prägte die Öffentlichkeits- und Medienpolitik der Allianz sehr nachhaltig. Unter NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen baute Stefanie Babst, einen Krisenvorausschau- und strategischen Planungsstab für die NATO auf, den sie bis Januar 2020 auch leitete. Seit März 2020 arbeitet sie als strategische Beraterin und Publizistin und unterstützt mehrere multilaterale Projekte. Darüber hinaus ist sie Mitgründerin von Brooch Associates, einer von fünf renomierten Powerfrauen geleiteten strategischen Beratungsfirma mit Sitz in London.

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