Deutsche Atlantische Gesellschaft e.V.

Ausgabe 14: Marion Sendker

Kann die Türkei im Krieg um die Ukraine zum Friedensbringer werden?

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Als „Schlüssel des Friedens“ sieht sich die türkische Regierung seit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine. Das ist nicht ganz falsch, denn Ankara hat es als bisher einziges Nato-Mitglied geschafft, die beiden Kriegsparteien an einen Tisch zu bringen – und das gleich zwei Mal: Zuerst trafen sich Anfang März der ukrainische und russische Außenminister im türkischen Antalya. Ein paar Wochen später kamen die Unterhändler beider Seiten zu einer weiteren Runde ihrer Friedensgespräche nach Istanbul. Auch wenn dabei auf Anhieb nicht viel mehr als Versprechungen und Ideen herauskamen, brüstet sich die türkische Regierung damit, bisher mehr erreicht zu haben als Vertreter westlicher Staaten. 

Das Scheitern der Bemühungen des Westens ist für den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan der beste Beleg für die Doppelmoral, die er westlichen Institutionen seit Jahren vorwirft. Das wirkt sich auch auf die Bevölkerung aus: Einer Umfrage des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Metropoll zufolge machen 48,3 Prozent die USA und die Nato für den Krieg verantwortlich. Gerade einmal 33,7 Prozent sehen die Schuld bei Russland. Eine Dämonisierung des russischen Präsidenten Wladimir Putin findet in der Türkei genauso wenig statt wie eine Heroisierung des ukrainischen Staatschefs Wolodymyr Selenskyj.

Der Schwarzmeerstaat Türkei vollzieht seit Wochen einen heiklen, und bisher erfolgreichen, diplomatischen Balanceakt zwischen den Anrainerstaaten Ukraine und Russland. Die Türkei ist das einzige Nato-Mitglied, das sich nicht an Sanktionen gegen Russland beteiligt, sondern stattdessen russischen Oligarchen Zuflucht bietet und dem Kreml zugesichert hat, Geschäfte notfalls auch in Rubel, in chinesischen Yuan oder in Gold abzuwickeln. Auf der anderen Seite verurteilt die Türkei die russische Offensive offiziell als „Krieg“, nimmt zehntausende ukrainische Flüchtlinge auf und steht Kiew mit militärischer Ausrüstung zur Seite. Von Schmeicheleien der ukrainischen Seite in den sozialen Medien lässt Ankara sich derweil nicht auf die Seite Kiews ziehen. Auch Selenskyj, der bisher in zahlreichen Parlamenten der Nato-Staaten anklagende Reden hielt, wird in Ankara keine Bühne gegeben.

Das Verhältnis der Türkei zur Ukraine ist wie das zu einem kleinen Bruder. Mit Kiew ist Ankara vor allem über mehr als drei Dutzend militärischer Abkommen verbunden. Die türkische Rüstungsindustrie lässt Motoren in der Ukraine produzieren und verkauft Waffen nach Kiew, darunter vor allem die türkische Drohne Bayraktar TB2, die gerade gegen russische Truppen eingesetzt wird. Eine dieser unbemannten, eher kostengünstigen aber durchaus effektiven Drohnen soll für den Untergang des größten russischen Kampfschiffs, der Moskwa, mitverantwortlich sein. 

Das Verhältnis zu Russland ist dagegen deutlich komplexer. Manches Mal, wenn Ankara in der Vergangenheit mit Kiew einen neuen Deal über militärisches Equipment besiegelte, bekamen türkische Soldaten den Unmut des Kremls ein paar Tage später in Syrien zu spüren. Da stehen sich Russland und die Türkei seit Jahren gegenüber. Ohne die russische Duldung kann die Türkei wenig ausrichten. Auch über den Verkauf des russischen Flugabwehrsystems S400 hat Moskau Ankara an sich gebunden. Die Aufrichtigkeit der Türkei als Nato-Mitglied steht seither regelmäßig infrage. Die Kritik ist mittlerweile aber eher rhetorischer Natur, denn das System wurde noch nicht komplett geliefert und unabhängige Militärexperten in der Türkei bezweifeln sogar leise seine Funktionsfähigkeit. 

Nicht ganz unwichtig sind auch die wirtschaftlichen Interdependenzen zwischen Moskau und Ankara. Die Türkei baut in Russland Häuser und Flughäfen, sie empfängt pro Jahr Millionen russische Touristen, exportiert Lebensmittel und deckt einen Großteil des eigenen Bedarfs an Weizen und Sonnenblumenöl mit Importen aus Russland. Daneben baut das russische Unternehmen Rosatom gerade ein Kernkraftwerk an der türkischen Mittelmeerküste und liefert Gas über mehrere Pipelines.

Das Schließen des Bosporus für Kriegsschiffe Anfang März kam zu einem Zeitpunkt, an dem die Wasserstraße für Russland keine besondere Relevanz mehr hatte. Auch die Sperrung des türkischen Luftraums für russische Flieger Anfang April ist kein Schritt gegen Russland, sondern folgt seit langem einem mit Moskau abgesprochenen Turnus.

Militärisch wie wirtschaftlich ist Russland der wichtigere Nachbar für die Türkei und sitzt am längeren Hebel. Ankara dürfte ein Zerwürfnis mit Moskau mehr fürchten als mit Kiew. Als Nato-Mitglied kann sie sich allerdings nicht gegen die Ukraine stellen. Die Vermittlerrolle ist eine aus der Not geborene Tugend.

Der Traum des türkischen Präsidenten ist deswegen, Putin und Selenskyj nach Istanbul einzuladen. Das will er nicht bloß, um als Friedensfürst vom Bosporus in die Geschichtsbücher einzugehen, sondern primär, um für sich selbst Frieden zu schaffen. Erdogan ist seit Monaten innenpolitisch angeschlagen. Seine Umfragewerte sind so schlecht wie seit zwei Jahrzehnten nicht.

Den Krieg gegen die Ukraine nutzt er geschickt aus: als Sündenbock für die Verarmung der Bevölkerung und als Bühne, um sich selbst als starken Diplomaten und Vermittler zu inszenieren. Die Rechnung geht auf. Erdogans Umfragewerte sind seit dem Krieg wieder gestiegen. Im Fall eines Treffens von Putin und Selenskyj in Istanbul könnte die Zustimmung kurzfristig sogar so groß sein, dass Erdogan Neuwahlen ausrufen und gewinnen dürfte. 

Genau das ist für einige Entscheidungsträger hinter den Kulissen zum schwereren Übel geworden. Der Wunsch, Erdogan nicht zu stärken, ist größer als das Verlangen, Friedensstifter zu sein. Dass der Präsident sich durchsetzen kann, wird deswegen immer unwahrscheinlicher. 

Was bleibt, sind – nicht mehr, aber auch nicht weniger als – nahezu tägliche Telefonate und Zoom-Besprechungen mit sowohl der russischen als auch der ukrainischen Seite. Das ist mehr als den meisten anderen Staatschefs gelingt. Das Taktieren und Lavieren des türkischen Staates zeigt beispielhaft das außenpolitische Potential der Türkei, das das Land auch mit Erdogan als Präsident noch hat. Es ist fahrlässig, dass die meisten EU- und Nato-Staaten dieses Potential bisher kaum nutzen – weder für die Ukraine noch für sich selbst.

Die USA dagegen scheinen seit Kriegsbeginn an einer Verbesserung ihrer Achse zu Ankara zu arbeiten. Ende April fand auf türkischem Boden etwa ein Gefangenenaustausch statt: Die USA bekamen einen Marinesoldaten und Russland einen Piloten zurück. Erdogan erhielt den Dank Putins, den er öffentlichkeitswirksam verkaufen konnte. Eine Win-Win-Win-Situation, in der der Krieg gegen die Ukraine nur eine Nebenrolle spielt. 

Das Potential der Türkei gilt aber nicht nur geografisch für die Schwarzmeerregion und derzeit für den Krieg gegen die Ukraine, sondern kann sich auch auf spätere Konflikte, etwa im Balkan, im Kaukasus, im Mittleren Osten und zunehmend aufgrund erheblicher wirtschaftlicher Investitionen auch auf Teile Afrikas erstrecken. Dort hat die Türkei zwar keine Macht ein eigenes geopolitisches Spiel aufzubauen, doch sie ist willens und in der Lage, sich in die Spiele in ihrer Nachbarschaft einzumischen und sie entsprechend eigener Interessen zu stören. 

Ein Beitrag von:

Marion Sendker

Journalistin und Juristin, Istanbul

Marion Sendker ist Journalistin, Moderatorin und Diplomjuristin mit Studium in Münster, Rom, Stellenbosch und Köln. Sie hat die Journalistische Nachwuchsakademie der Konrad-Adenauer-Stiftung absolviert, ist Altstipendiatin der Mercator-Stiftung und arbeitet für verschiedene Hörfunk- und Social-Media-Redaktionen im WDR und Deutschlandfunk. Außerdem berichtet sie aus und in der Türkei, unter anderem für Zeit und Zeit Online, die Welt und Welt/N24, den Deutschlandfunk und die türkische Tageszeitung Milliyet. Ihr Schwerpunkt ist Sicherheits- und Außenpolitik. Sie lebt in Istanbul und Köln.

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