Deutsche Atlantische Gesellschaft e.V.

Das Jahr 1495 – Eine andere Zeitenwende

Ausgabe 42: Lena Frewer

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Wenn in der öffentlichen Debatte eine Neuordnung, ein Umdenken, oder gar ein Paradigmenwechsel postuliert wird, geht es in diesen Diskussionen häufig auch um das Bewusstsein eines historischen Bruchs. So gegenwärtig sich gesellschaftspolitische Debatten auch darstellen, so stehen sie am Ende doch immer auch in einem historischen Kontext: Wir reden zugleich auch immer darüber, woraus ein gesellschaftliches Klima entspringt, woher bestimmte Vorstellungen, Meinungen, Begriffe, kommen und welche wir auch überwunden haben.

Besonders eindrücklich konnten wir diese Allgegenwart des Historischen am 27. Februar 2022 beobachten, als mit der Rede von Olaf Scholz im Bundestag der Begriff „Zeitenwende“ als Paradigmenwechsel in der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik gesetzt wurde. Dieses Wort lädt nahezu dazu ein, über die eigene Gegenwärtigkeit und das eigene historische Zeitempfinden nachzudenken.
Das Interessante an der Situation Ende Februar 2022 ist, dass das Bewusstsein eines gegenwärtig erlebten Paradigmenwechsels nun auf einen konkreten Begriff gebracht wurde. „Zeitenwende“ wird nun untrennbar mit den Folgen des russischen Angriffskriegs für die westliche Sicherheitsarchitektur verbunden sein. Und an diesem Punkt, wenn ein begriff-gewordener Paradigmenwechsel eindeutig auf ein bestimmtes historisches Ereignis verweist, wird es für Historikerinnen und Historiker spannend. Denn dann liegt unweigerlich die Frage nahe: Ist das, was wir gegenwärtig beobachten, nicht eigentlich viel älter? Gibt es frühere Beispiele für eine „Zeitenwende“ in der Sicherheitspolitik?

Das Jahr 1495 als Paradigmenwechsel


Eine mögliche Antwort finden wir in einer Epoche, die für die meisten Menschen nicht unbedingt nahe liegen mag, wenn es um Fragen von Frieden und Rechtsstaatlichkeit geht. Wir gehen einige Jahrhunderte zurück in das Jahr 1495. In diesem Jahr wurde auf dem Reichstag in Worms ein Beschluss gefasst, der ohne Übertreibung eine friedens- und sicherheitspolitische Revolution genannt werden kann: Der „Ewige Landfrieden“. Dieser Beschluss war der Durchbruch nach einer jahrzehntelangen politischen Diskussion über das Sicherheitsproblem der adeligen Fehde, eine grundsätzlich legitime Praxis der Konfliktlösung, die auf gewalttätiger Selbsthilfe basierte und dabei auf Codes von Rache und Ehre zurückgriff.


Zum Sicherheitsproblem wurde die Fehde um die Mitte des 15. Jahrhunderts, als diese Ausmaße angenommen hatte, die das friedliche Zusammenleben und die obrigkeitliche Stabilität in ganzen Territorien gefährdeten. Die Fehde war nun nicht mehr nur eine zeitlich und lokal begrenzte inneradlige Angelegenheit, sondern rückte auf die reichspolitische Agenda. Niederadlige kamen in dieser Zeit häufiger in die Situation, immer weniger Landbesitz zur Verfügung zu haben, einen standesgemäßen Lebensstil konnten sie auf dieser Grundlage nicht auf Dauer finanzieren. Einen Ausweg aus dieser Lage fanden einige in einer Tätigkeit als Fehdeunternehmer – romantisierend gerne als „Raubritter“ bezeichnet, waren sie doch eigentlich nichts anderes als Warlords. Sie plünderten und brandschatzten Schlösser und Dörfer und kamen so zu finanziellen Mitteln.


Im Angesicht steigender Gewalt im Reich drängten die Landesherren auf den Reichstagen mit stärkerem Nachdruck auf eine Lösung dieses Sicherheitsproblems. Die Debatte verschob sich: Fehden galten nun in den Augen einiger reichspolitischer Akteure nicht mehr als normalisierte Gewaltpraxis, sondern wurden als Bedrohung für das ganze Reich wahrgenommen. Daraufhin bildete sich eine Mehrheit für ein umfassendes Fehdeverbot, das schließlich in den Beschluss des „Ewigen Landfriedens“ 1495 mündete. Fehde galt nun offiziell als Landfriedensbruch, und Gewalt gegen die Obrigkeit und wurde mit anderen hoheitlichen Delikten wie Rebellion gleichgesetzt. Die höchstmögliche Strafe für Landfriedensbrecher war denn auch mit der Reichsacht der vollständige Ausschluss aus dem politischen System des Reichs, die Täter wurden vogelfrei und öffentlich zur Verfolgung und Tötung ausgeschrieben. In diesem Moment wurde wiederum die föderale Struktur des Reichs gestärkt, denn es waren die Territorien, die mit der Verfolgung und Bestrafung von Landfriedensbrechern beauftragt und damit vom Reichsverbund stärker in die Pflicht genommen wurden.


Frieden durch Recht und „rechtlicher Krieg“


Doch schafft ein Gewaltverbot noch keinen Frieden, das erkannten auch die Zeitgenossen. Eine alternative und gewaltfreie Konfliktlösungsstrategie sahen sie im Rechtsweg: Landfriedensbrechern musste in einem formalen Verfahren vor Gericht der Prozess gemacht werden. Diese Idee eines juristischen Wegs war im Kern nicht neu, 1495 hat man ähnliche Konzepte aus früheren Jahrzehnten wieder aufgenommen, die immer wieder auf der politischen Bühne erschienen, doch bislang nie durchschlagenden Erfolg hatten. Auf dem Wormser Reichstag sollte sich dies ändern: Die angespannte Sicherheitslage und die geschwächte Verhandlungsposition des Kaisers, der auf die Unterstützung der Territorien für seinen Italienfeldzug angewiesen war, schafften Mehrheitsverhältnisse, die auf früheren Versammlungen noch nicht denkbar gewesen waren. In Worms wurde also „Ernst gemacht“, indem die Friedensdiskurse, die schon einige Zeit in der Welt waren, in einem Beschlusstext gebündelt wurden. Und das war der Kern der „Zeitenwende“: Im Unterschied zu früheren Landfriedensbeschlüssen war der Beschluss von 1495 nicht mehr zeitlich begrenzt, gleichzeitig wurde Friedenssicherung aber auch institutionalisiert, denn der „Ewige Landfriede“ verfügte außerdem die Gründung des Reichskammergerichts, das nun die zentrale Entscheidungsgewalt über Landfriedensdelikte haben sollte. Für Obrigkeiten von Territorien war es die direkte Appellationsinstanz, Untertanen konnten dort in letzter Instanz prozessieren. Finanziert wurde das neue Gericht mit der zu diesem Zweck eingeführten, einzigen reichsweit erhobenen Steuer, dem Kammerzieler.


Wenn auch auf der Urkunde des „Ewigen Landfriedens“ das Beschlussdatum des 7. August zu lesen ist, kehrte der Frieden freilich nicht mit dem 8. August 1495 ein. Bis weit ins 16. Jahrhundert gab es noch Fehden. Die Zahlungsmoral der Territorien fiel unterschiedlich aus und lange Zeit hatte das Gericht Probleme, die Richter regelmäßig zu bezahlen. Das Reichskammergericht wechselte in den ersten Jahrzehnten oft seinen Standort und musste sich als legitime Reichsinstitution erst behaupten. Dieses Ringen um Akzeptanz hatte auch etwas mit der konfessionellen Spaltung zu tun, die am Beginn des 16. Jahrhunderts mit der Verbreitung der Reformation einsetzte. Katholiken und Protestanten fochten ihre Glaubenskämpfe nicht mehr nur in Flugschriften, sondern auch mit Gewalt aus: Klöster wurden geplündert, Priester vertrieben, Heiligtümer geschändet. In der Folge kamen Klagen von Katholiken auf Landfriedensbruch vor das Reichskammergericht und das später gegründete kaiserliche Höchstgericht, den Reichshofrat. Vor allem das Reichskammergericht wurde in den 1520er Jahren zu einer Konfliktpartei in der konfessionellen Auseinandersetzung, denn was für Katholiken Landfriedensbruch war, interpretierten Protestanten als legitime Gewalt zur Durchsetzung des wahren Glaubens. Das erste Drittel des 16. Jahrhunderts war geprägt von dieser Auseinandersetzung um die Definitionsmacht des Tatbestands Landfriedensbruch. Die Frage, wann eine Klage als Landfriedenssache zu gelten hatte, wurde für die Konfessionsparteien zu einem politischen Argument in Verbindung mit einer strategischen Delegitimierung des Reichskammergerichts. Die Forschung hat dies auf den Begriff des „rechtlichen Krieges“ gebracht.


Frieden als Kommunikation


Trotz der instabilen Anfangszeit sollte das Reichskammergericht noch bis 1806 bestehen. Heute sind uns etwa 80.000 Akten überliefert, im 16. Jahrhundert machten Landfriedenssachen etwa ein Viertel des Prozessaufkommens aus. Die Höchststrafe der Reichsacht wurde dabei sehr selten verhängt, wir wissen heute nur von wenigen ausgeführten von Todesurteilen. Hier wird eine zweite Ebene der „Zeitenwende 1495“ offenbar, denn die geringe Zahl von Höchststrafen verweist auf ein Bewusstsein für Deeskalation, auf den Anspruch, einen nachhaltigen Friedenszustand herbeizuführen, der keine Gegengewalt in Form von Racheakten provoziert. Schaut man sich die Akten in ihrer Breite an, wird deutlich, dass es in Landfriedensprozessen häufig eben nicht darum ging, „kurzen Prozess“ mit den Gewalttätern zu machen. Zwar wurden einstweilige Verfügungen zur Beendigung gewalttätiger Handlungen erlassen, doch die Prozesse dauerten nicht selten etliche Jahre und verhandelten einen vielfältigen Komplex an kleineren Einzelkonflikten, die erst zur Eskalation der Gewalt geführt haben. Diese Nebenschauplätze vollständig zu verhandeln war zentral in der Frage, wie Frieden nachhaltig geschaffen werden konnte. Denn häufig spielten sich Landfriedenskonflikte in benachbarten ländlichen Territorien ab, die Gewalt brach auf relativ kleinem Raum aus, in Dörfern und Kirchen. Konflikte etwa um Weiderecht oder die Besitzverhältnisse eines Waldstücks waren in diesen Prozessen keinesfalls provinzielle Banalitäten, sondern hatten existenzielle Folgen für die lokale Gemeinschaft. Entscheidend war daher aus Sicht des Reichskammergerichts weniger, möglichst schnell endgültige Urteile mit abschreckenden Strafen zu erlassen, sondern den Gesprächsfaden zwischen den Parteien vor Gericht aufrecht zu erhalten und einen nachhaltigen Frieden durch Kommunikation zu verhandeln. Jedes Urteil war ein Friedensschluss und trug dazu bei, künftige Gewalt zu verhindern, auch wenn es um eine Weide am Rande eines Dorfes ging.


Das Reich als System kollektiver Sicherheit


Was sehen wir anhand dieses Exkurses in die Frühe Neuzeit, was wir vorher nicht gesehen haben? Frieden schaffen ist in erster Linie Kommunikation – einen Prozess zu führen heißt, im Gespräch zu bleiben. Unser heutiges Verständnis von Rechtsstaat und Föderalismus ist in Teilen auch auf die Reformen an der Wende zum 16. Jahrhundert zurückzuführen. Den Zeitgenossen war bewusst, dass es nicht ausreicht, dauerhaften Gewaltverzicht per Dekret zu verordnen. Frieden ist ein Prozess, der aktiv organisiert wird und bei dem alle Beteiligten gleichermaßen in die Pflicht genommen werden müssen. Die Idee, Frieden durch formalisierte juristische Prozesse zu schaffen und damit nachhaltig zu einem gewaltfreien Zusammenleben in der Gesellschaft beizutragen, war schon vor 1495 in der Welt. Die „Zeitenwende 1495“, das ist die verfassungsmäßige Organisation dieser Vorstellung mit der Schaffung einer Institution wie dem Reichskammergericht in einem neuen System kollektiver Sicherheit.

Ein Beitrag von:

Lena Frewer

Kandidatin Security Slam 2023

Lena Frewer ist seit 2022 Doktorandin am Sonderforschungsbereich 138 „Dynamiken der Sicherheit“ an den Universitäten Gießen und Marburg. Ihr Promotionsthema lautet „Landfrieden in der Rechtsprechung der Reichsgerichte im 16. Jahrhundert“ und wird betreut von Prof. Dr. Horst Carl (Geschichte der Frühen Neuzeit, Universität Gießen). Sie war Teilnehmerin und Gewinnerin des ersten Security Slam Deutschlands, durchgeführt von der DAG.

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