Deutsche Atlantische Gesellschaft e.V.

Deutschland vor turbulenten Zeiten

Ausgabe 44: General a.D. Dr. h.c. Klaus Naumann

Haben die Deutschen den Mut und den Willen zu durchgreifenden Reformen zu ihrer Sicherheit?

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Einleitung

Am 24. Februar 2022 sprach Bundeskanzler Scholz in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag von einer Zeitenwende, ausgelöst durch Putins rechtswidrigen und verbrecherischen Angriff auf die Ukraine am 22. Februar 2022. 

In der Tat, es war eine Zeitenwende, denn die bis dahin geltende Sicherheitsarchitektur für Europa, gegründet auf zahlreiche Verträge mit Russland, wurde durch diesen Angriff in Stücke gerissen. Es begann eine neue Zeitrechnung, wir erlebten die Geburtswehen einer neuen Weltordnung, doch die Umsetzung der Zeitenwende erfolgte bestenfalls zögerlich. Im Bewusstsein der Mehrheit der Deutschen hat sie zumindest bis in den Februar dieses Jahres hinein wohl kaum stattgefunden, anders kann man sich das Wahlergebnis der letzten Bundestagswahl kaum erklären. Ein stattlicher Teil der Deutschen will noch immer das bequeme „Weiter so“, das Verharren in der Merkel‘schen Scheinwelt des ewigen Friedens, eines verschwenderischen Wohlfahrtsstaates und des Wohlstands ohne Entbehrung und Opfer und vertraut auf Verhandlungslösungen mit einem Russland, dass zur Durchsetzung seiner imperialistischen Ziele Kriegsverbrechen auf Kriegsverbrechen in der Ukraine begeht. 

Spätestens bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar müsste aber jedermann klar geworden sein, dass wir tatsächlich in einer neuen Zeit leben, in einer Zeit, in der es keine regelbasierte Weltordnung, sondern erneut nur Interessenzonen gibt, also in einer Welt, in der wieder das Recht des Stärkeren, also das Gesetz des Dschungels gilt. Es ist eine kalte Welt, in der Autokraten sich wohl fühlen und in der sich Demokraten warm anziehen müssen, um sich zu schützen.

Die Lage

Jedermann konnte den Paukenschlag zum Auftakt der amerikanischen Suche nach einer neuen Weltordnung hören, die Rede des Vizepräsidenten der USA bei der Münchner Sicherheitskonferenz, gefolgt vom  verhandlungstaktisch geschickt inszenierten Eklat in Washington am 28. Februar und dann bis hin zur Entscheidung, alle amerikanischen Waffenlieferungen an die Ukraine erst einzustellen, dann doch wieder aufzunehmen. Ich bin bestürzt, beschämt vom ruchlosen Verhalten eines amerikanischen Präsidenten, empört über die Täter-Opfer Umkehr durch Trump  hin zu Kontakten mit Putin, die vermuten lassen, dass souveräne Rechte der Ukraine leichtfertig preisgegeben werden. Mit Blick auf das für Europa unverändert unersetzliche NATO-Bündnis wachsen die Sorgen seitdem Tag für Tag. 

Auf Verlangen der amerikanischen Führung ist der ukrainische Präsident inzwischen zu Friedensverhandlungen mit Russland und zu einem Abkommen mit den USA bereit, in der Ukraine wertvolle Rohstoffe zu entäußern, ohne dafür Sicherheitsgarantien zu erhalten. Russland dagegen führt den brutalen Angriffskrieg fort. Eine Friedenstruppe zur Überwachung eines Waffenstillstands lehnt der Kreml kategorisch ab, den amerikanischen Vorschlag eines Waffenstillstands wird Putin voraussichtlich ebenfalls ablehnen. Ohne Gegenleistung hat die amerikanische Führung aber bereits politische Forderungen Moskaus übernommen, wie die Ablehnung einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine, die Abtretung eines Teils ihres Territoriums an Russland und dann, der Gipfel der Treuelosigkeit, das Einbringen und die Annahme einer von den USA eingebrachten Pro-Moskau-Resolution im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, die noch nicht einmal Russland als Aggressor nennt. Ein Novum dann die Abstimmung mit den Stimmen Russlands und Nordkoreas gegen Amerikas NATO-Verbündete und die Meinung der Mehrheit der Nationen in der Generalversammlung.

Und dennoch, keine der bisherigen Aussagen der USA hat die Sicherheitspartnerschaft mit Europa eindeutig infrage gestellt, wohl aber die Wertegemeinschaft der regelbasierten Ordnung. Deren Kernelement ist das Prinzip, dass keine Grenze mit Gewalt verändert werden darf. Das zu beachten hätte verlangt, die Ukraine vor der Macht des Stärkeren zu schützen, was allerdings auch Europa, vor allem eine Bundesregierung, die Angst vor Putins Worthülsen als Besonnenheit verkaufte, allenfalls halbherzig getan hat. 
Auch wenn ein Austritt der USA aus der NATO unwahrscheinlich ist, da die Zwei-Drittel Mehrheit im Senat nicht zu erreichen ist, erhebliche Zweifel an der amerikanischen Beistandsverpflichtung nach Art. 5 des NATO- Vertrags bleiben nach den Ereignissen des Februars und März 2025. Zweifel bleiben auch, ob man in Washington erkannt hat, dass Putin die Kapitulation der Ukraine will. Die würde die Türen zu einem neuen Krieg in Europa weit öffnen. Europa bleibt deshalb keine Zeit, es muss rasch aus eigener Kraft verteidigungsfähig werden. Das heißt nun aber nicht, von unserer Seite das Ende der NATO herbeizureden oder rein europäische Rüstungsanstrengungen zu fordern, zu denen Europa derzeit technisch und industriell kaum in der Lage ist. Wer das tut, hilft Putin, dessen Ziel es immer war, die NATO zu beseitigen.

Allerdings, in Trumps Welt gelten wie bei anderen Autokraten die Gesetze des Dschungels, also das Recht des Stärkeren und nicht die Macht des Rechts. In dieser Welt ist Europa ein Konkurrent, den man nach dem alten römischen Prinzip „divide et impera“, teile und herrsche, schwächen muss, um ihn gefügig zu halten. Ein starkes Europa ist nicht im Interesse Trumps, wenngleich er verstärkte Rüstung Europas fordert, vielleicht auch nur, weil er Käufe bei der leistungsstarken und oftmals überlegenen amerikanischen Rüstungsindustrie erhofft. Damit will er zugleich erreichen, dass Europa nicht durch eigene Innovation in Spitzentechnologie als wirtschaftlicher Konkurrent stärker und in Sicherheitsfragen unabhängiger wird. 

Gleichzeitig aber ist Europa eben auch ein Bündnispartner. Das Bündnis bietet den USA vielfache Möglichkeiten, die Entwicklungen in Europa zu beeinflussen und zu kontrollieren. Das aufzugeben wäre gegenüber einem Konkurrenten sehr unklug. 

Aber es kommt noch ein weiterer Punkt hinzu: Die NATO, das Bündnis der USA mit Europa und Kanada, ist sozusagen das globale Musterbeispiel einer erfolgreichen Allianz. Würde Amerika es aufkündigen oder schwächen, dann würde es in seinem Bündnisgeflecht im asiatisch-pazifischen Raum einen destabilisierenden Schock auslösen und sich so gegenüber seinem einzigen echten Konkurrenten auf dieser Welt, China, schwächen. Die USA dürften deshalb zwar formal an ihrer Beistandsverpflichtung festhalten, zugleich aber die Ungewissheit über Ausmaß und Zeitpunkt des Einlösens ihrer Schutzgarantie für Europa, vor allem der nuklearen, aufrechterhalten. Damit zwingen sie Europa, endlich die seit mehr als 20 Jahren geforderten Anstrengungen zur eigenen Verteidigung wahr zu machen und signalisieren zugleich Russland, dass Europa keineswegs die nächste Beute Russlands sein kann. Diese friedenserhaltende Ungewissheit ist der Hintergrund des vermutlichen Deals mit Russland, dem für eine Waffenruhe in der Ukraine gewisse territoriale Zugeständnisse zu Lasten der Ukraine gemacht werden sollen und von dem im Gegenzug amerikanischer Zugang zu russischen Rohstoffen, einschließlich Gas und Öl, gefordert werden. Letzteres braucht Trump als ein Instrument, um die Zinsen weltweit niedrig zu halten, denn nur so kann er seine Achilles-Ferse schützen, die enormen Schulden der USA. Steigende Zinsen wären Gift für seine innenpolitischen Versprechungen. Dafür lässt er die Ukraine im Stich, an deren Seite er in seiner ersten Amtszeit stand, ganz im Gegensatz zu Obama, der damals auf die Annexion der Krim 2014 so gut wie nicht reagierte. Trumps zwischenzeitlich zurückgenommene Entscheidung, die Hilfe für die Ukraine einzustellen, um Russlands geneigt zu machen, ist nicht nur schäbig, sie ist verwerflich, denn deshalb starben Menschen in der Ukraine, die man hätte schützen können. 

Putin hat Ziele, die weit über den Tag hinaus reichen und er kennt Trumps Achillesferse, seine Gier nach Rohstoffen und seine Hast, den Konflikt in der Ukraine schnell zu beenden. Er wird deshalb keinem Waffenstillstand zustimmen, sondern auf Zeit spielen. Trifft diese Einschätzung zu, dann heißt das allerdings für uns, also Deutschland ebenso wie Europa, dass auf diese USA nicht mehr uneingeschränkt Verlass ist, denn die einzige Berechenbarkeit Trumps ist seine Unberechenbarkeit. Mit dem jüngsten Hin und Her zu Waffenlieferungen für die Ukraine unterstrich Trump seine Unberechenbarkeit: Heute Hüh, morgen Hott. Das ist noch nicht einmal geschickte Verhandlungstaktik, aber für Partner in Lebensgefahr kann das tödlich werden.

Es ist nun nüchtern zu entscheiden, ob und was zu tun ist, um weiteren Schaden in den transatlantischen Beziehungen zu verhindern. Auf jeden Fall ist es viel zu früh, das für Europa wie die USA gleichermaßen unersetzliche NATO-Bündnis totzureden. Europa steht vor der Zeitenwende 2.0, nicht vor einem Bruch, aber doch vor einer Situation, in der beide Seiten beschädigtes Vertrauen wiederherstellen müssen.  Ein Schritt dazu müsste die erneute Bekräftigung zweier Kernelemente durch alle NATO-Verbündeten sein: Erstens, keine Grenze darf mit Gewalt verändert werden und zweitens, jeder Staat ist frei zu entscheiden, zu welchem Bündnis er gehören will. Diese beiden Punkte dürfen für keinen noch so lukrativen Rohstoffdeal verhandelbar sein.

Europas Ausgangspunkt bei der nun beginnenden Gestaltung einer neuen Weltordnung ist unverändert: Europa ist und bleibt für seine Sicherheit bis auf weiteres von den USA abhängig. Europa ist frühestens gegen Ende des Jahrzehnts in der Lage sich selbst zu schützen, vorausgesetzt, es handelt jetzt schnell und entschlossen, um kriegsfähig zu werden. Zumindest bis dahin braucht Europa die Rückendeckung der USA, vor allem die nukleare. 

Deshalb müssen die Europäer und die USA nun gemeinsam beurteilen, was auf dem Spiel steht. Diese Beurteilung beginnt mit dem Blick auf den Gegner, Russland. Ein vollständiger Erfolg in der Ukraine, im Klartext, deren Kapitulation, würde Putin in seinem imperialen Wahn bestärken. Seine Ziele, das Rad der Geschichte auf 1997 zurückzudrehen, hat er im Dezember 2021 klar genannt und davon weicht er nicht ab. Putin will die NATO zerstören, die Europäische Union spalten und die Amerikaner und ihre Nuklearwaffen aus Europa verdrängen. Solange diese Ziele bestehen, kann es keine Sicherheit mit, sondern nur Sicherheit vor, also gegen Russland geben. Putin hat auf Kriegswirtschaft umgestellt und rüstet für einen Krieg in Europa. Seine Zukunft liegt im Krieg, er braucht einen äußeren Feind, eine angebliche Bedrohung, um alle Regungen in Richtung Demokratie zu unterdrücken. Nichts fürchtet Putin mehr als von Freiheit infizierte Russen. 

Diese Lage verlangt, so schnell wie möglich konventionelle Verteidigungsfähigkeit und Abschreckung herzustellen. Das heißt vor allem die nukleare Rückendeckung der USA zu sichern, die es Putin verwehrt, mit Atomwaffen zu drohen. Die vorhandenen europäischen Atomwaffen reichen dafür nicht aus. Sie können vermutlich Krieg durch unermesslichen Schaden für Russland verhindern, nicht aber nukleare Erpressung schon vor einem zunächst begrenzten Krieg. Die nukleare Teilhabe an der Abschreckungsmacht der USA bleibt deshalb bis auf weiteres unersetzlich, ja sie ist sogar Voraussetzung der französischen Atomstrategie.
Die nun zahlreichen Rufe nach europäischer Verteidigungsfähigkeit, nach einer Europa-Armee oder gar eigenständiger europäischer nuklearer Abschreckung sind, ausgenommen die zum Teil lachhaften nuklearen Gedankenspiele einiger Deutscher,  richtig, aber sie sind, wenn überhaupt, frühestens im nächsten Jahrzehnt erreichbar. Bis dahin bleibt Europa sogar in seiner konventionellen Verteidigungsfähigkeit abhängig von den USA. 

Was ist zu tun?

Die Bedrohung durch Russland steht vor der Tür, dennoch lauschen noch immer viel zu viele Deutsche entrückt der Bordkapelle auf dem Deck der Titanic. Sie träumen vom Verhandlungsfrieden mit jemanden, der nicht verhandeln, sondern herrschen will.
Europa und Deutschland haben keine Wahl. Es müssen daher schnell Wege gefunden werden, auch mit Trump, wie man Sicherheit für Europa gestalten kann, auch, weil Niemand derzeit sagen kann, ob ein Nachfolger Trumps anders denken und handeln wird. Es gibt nur einen Weg: Europa muss nun endlich die seit fast zwei Jahrzehnten fehlende Entschlossenheit, auf eigenen Beinen zu stehen, aufbringen und durchhalten. Sie ist die Voraussetzung, um eine neue transatlantische Klammer zu schmieden.

Ausgangspunkt dafür muss ein Blick auf die beiderseitigen sicherheitspolitischen Interessen sein. Daraus kann man ableiten, welche Gemeinsamkeiten bestehen und was zu tun ist, um diese zu erhalten und zu festigen. 

Europa braucht, erstens und vor allem, jetzt und bis auf weiteres den Schutzschirm der amerikanischen Nuklearmacht, um vor Russlands Nuklearmacht sicher zu sein und nukleare Erpressung verhindern zu können. Europa braucht, zweitens, die Beherrschung des Atlantiks und der Ausgänge aus dem Arktischen Ozean von Grönland bis zu den Azoren, weil nur so Europa gegen das größte Land der Welt, Russland, strategisch auch konventionell zu verteidigen ist. Die strategisch entscheidende Dimension europäischer Sicherheit liegt im Atlantik.  Sie ist nur zu erreichen, wenn die USA und Kanada an der Seite Europas stehen.

Europa braucht also die USA, kann damit aber nur rechnen, wenn es ein strategisches Interesse der USA an Europa gibt. Dafür gilt noch immer Henry Kissinger: Nationen kennen keine Freundschaften, nur Interessen, aber diese Interessen gibt es. Als Erstes ist die Geostrategie zu nennen. Europa ist eine der beiden Gegenküsten der USA und Kanadas. Die USA sind die einzige globale Seemacht und als solche müssen sie beide Gegenküsten, also die atlantische wie die pazifische kontrollieren können. Das Bündnis mit Europa sichert die atlantische und hält so den USA den Rücken frei, sollte China in einem Konflikt mit den USA versuchen, ein Bündnis mit Russland zu schmieden, um den Amerikanern ihre europäische Gegenküste wegzunehmen. Der Verlust Europas würde die USA verwundbar machen. Zudem  würde der Verlust des Zugangs zu Europa den USA die Basis für die noch immer unersetzliche Machtprojektion in den Raum des erweiterten Nahen Ostens, also dem Zu- und Ausgang zum/aus dem Indischen Ozean, aber auch nach Afrika nehmen. Das wäre das Ende globaler amerikanischer Vormacht, der einzigen Macht dieser Welt, die geschützt von zwei Weltmeeren in allen fünf Dimensionen moderner Kriegsführung global kämpfen kann, also zu Land, in der Luft, auf See, im Cyberspace und im Weltraum.

Als zweites strategisches Interesse ist das Gewicht Europas als Handelspartner und als Empfänger wie Geber gewaltiger Investitionen in Billionenhöhe zu nennen. Beide Seiten mögen sich über Zölle streiten, aber beide Seiten können es sich nicht leisten, sich als Wirtschaftspartner zu verlieren. Europas Wirtschaftskraft ist zehnmal so groß wie die russische und dahinter steht die Innovationsfähigkeit von über 400 Millionen freier Menschen. Auch das zu behalten, ist amerikanisches Interesse.

Schließlich, drittens, Europa hat durchaus einige militärische Fähigkeiten, die die USA nicht unbedingt im Lager ihrer Gegner wissen und über deren technische Entwicklung sie unverändert Bescheid wissen wollen. Das gelingt am einfachsten durch das NATO-Bündnis, das den USA zwar Beistand abverlangt, aber auch Kontrolle ermöglicht. In Zeiten rasanter technischer Entwicklungen, die es auch für einen David möglich machen könnten, präventive strategische Lähmung  eines Goliaths zu erreichen, kann dieser Aspekt Kontrolle sogar strategisches Gewicht erlangen.

Es gibt also die Ausgewogenheit beiderseitiger Sicherheitsinteressen. Sie spricht für die Beibehaltung und Festigung des atlantischen Bündnisses.  Sollten beide Seiten bereit sein, ihre Fähigkeiten für den Partner einzusetzen, wenn beiderseitige Interessen dies gebieten, dann gibt es für beide Seiten keine bessere Lösung. 
Somit gilt für Europa: Keine Sicherheit ohne die USA, und für die USA: Weltmacht nur mit Europa.

Darüber wird Europa in Washington zu sprechen haben, nicht als Bittsteller, sondern auf Augenhöhe, gestützt auf europäische Wirtschaftskraft und wachsende europäische konventionelle Verteidigungsfähigkeit.

Die Erwartungen

Welche Erwartungen hat vor diesem strategischen Hintergrund ein parteiungebundener Deutscher an die Sicherheitspolitik der neuen Bundesregierung? 

Hierzu zwei Punkte vorab: Erstens, es muss nun sehr schnell ernst gemacht werden mit der Kriegstüchtigkeit der Bundeswehr und unseres Landes, – und das umfasst weit mehr als nur Rüstung für die Bundeswehr – und, zweitens, die Ukraine muss weiterhin unterstützt werden, denn ihr Kampf schwächt Russland, gewinnt Zeit für uns und schützt so auch unsere Freiheit.

Es wäre somit töricht, nur noch europäisches Rüstungsmaterial zu kaufen, es muss beschafft werden, was auf dem Markt das Beste ist und es muss gleichzeitig eine konsolidierte europäische Rüstungsindustrie aufgebaut werden.

Wo steht Deutschland?

Nach einem im Verteidigungsministerium verlorenen ersten Jahr der Ampel hat ein energischer neuer Minister gegen zahlreiche Widerstände aus seiner Partei den Wiederaufbau der seit dem Anfang des Jahrtausends vernachlässigten und schwer beschädigten Bundeswehr eingeleitet.  Mit Zustimmung der größten Oppositionspartei wurde ein Sondervermögen beschlossen und zahlreiche Beschaffungsvorhaben deutlich beschleunigt. Dennoch blieben viele Mängel: Es fehlt nachhaltige langfristige Finanzierung und Beschaffungen dauern noch immer viel zu lange. Deshalb Stand heute: Weder Deutschland noch Europa können ohne den Beistand der USA gegen ein imperiales Russland verteidigt werden. 

Das von der Ampel-Regierung in der erstmals beschlossenen Nationalen Sicherheitsstrategie gesetzte Ziel Verteidigungsfähigkeit ist unverändert gültig. Die Umsetzung aber blieb mangelhaft. Behindert von Russlandverstehern in der abgewählten größten Regierungspartei ist man zögernd und stets reaktiv vorgegangen. Der erhobene Führungsanspruch in Europa war so nicht zu verwirklichen, nicht zuletzt, weil die entscheidende deutsch-französische Verbindung vernachlässigt wurde. Angebliche moralische Überlegenheit konnte die Diskrepanzen zwischen Worten und Taten nicht verschleiern, durch ständiges Zögern und durch erkennbare Angst vor eigener Entschlossenheit wurden das einst hohe Ansehen Deutschlands und sein stattlicher Einfluss im Bündnis, auch in der bislang verteidigungspolitisch allerdings bedeutungslosen EU, weitgehend verspielt. Für ein Land, das in den entscheidenden Komponenten seiner Sicherheit von den USA abhängig ist und bleibt, ist das fatal. 

Das ist nun nachhaltig und umgehend zu korrigieren. Die ersten Andeutungen aus den Sondierungsgesprächen sprechen dafür, dass die neue Bundesregierung es versuchen wird. Auch die Kontakte des voraussichtlich neuen Bundeskanzlers mit Frankreich zeigen an, dass man gemeinsam Großbritannien an Bord holen will, um dann mit Polen, vielleicht auch mit Italien und anderen Willigen wie den Skandinaviern und den Balten, den Weg eines „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ zu gehen. Das wäre ein Europa, in dem die Mehrheit entscheidet, also schnell, während der Rest des Geleitzugs bei der Einstimmigkeit der EU bleibt und so Gefahr läuft, den Zug zu verpassen.

Eine Entscheidung dieser Art ist überfällig, weil Eile geboten ist, um, erstens, einen Sieg Russlands in der Ukraine zu verhindern und, zweitens, nicht durch den Zwang zur Einstimmigkeit Zeit zu verlieren. Die hat Europa nicht, denn die übereinstimmende Beurteilung aller Nachrichtendienste ist, dass Russland nach einem Sieg, vielleicht nur einer Waffenruhe in der Ukraine die Entschlossenheit des Westens schon bald, spätestens aber am Ende des Jahrzehnts testen könnte. Würden Europa und Deutschland nun aber rasch handeln, dann würde Europa für die USA wieder ein ernst zu nehmender Partner, vor allem aber ein Gegner, den auch ein imperiales Russland besser nicht testen sollte.

Die bereits genannten zwei Schritte sind also geboten: 

Schritt 1, Stärkung der europäischen und deutschen Verteidigungsfähigkeit und weitere Unterstützung der Ukraine. 

Schritt 2, Aufbau einer Abschreckungsfähigkeit gegenüber Russland, die deutlich macht, dass jeder Angriff auf NATO-Gebiet für Russland unermesslichen Schaden in Russland bedeutet und es damit nichts, und einen Krieg gegen die NATO ohnehin nicht gewinnen kann. 

Das bedeutet umfassende Luftverteidigung, auch gegen Hyperschallwaffen, weitreichende konventionelle Waffenwirkung gegenüber Russlands Kernland und die Fähigkeit zu umfassendem, elektronischem Schutz bis hin zur Lähmung des Gegners. Die NATO bliebe damit ein Bündnis zur strategischen Verteidigung, das allerdings operativ mit allen Mitteln der Disruption versuchen wird, Krieg zu verhindern und, wenn angegriffen, zu gewinnen. Das Festhalten am Konzept der nuklearen Teilhabe ist dazu ebenso notwendig wie die allerdings noch umstrittene, nun vielleicht bei Trump offene Entscheidung, amerikanische Flugkörper mittlerer Reichweite in Deutschland zu stationieren und zusätzlich so schnell wie möglich gemeinsam mit europäischen Partnern ein entsprechendes europäisches System zu entwickeln. 

Das bedeutet im politischen Entscheidungsprozess aber auch, die unverändert gültigen Grundsätze des Krisenmanagements zu beachten, also initiativ statt reaktiv zu handeln, risikobereit zu sein, über Eskalationsdominanz zu verfügen und das Staatsgebiet des Angreifers niemals als Sanktuarium zu sehen. Zusätzlich müssen alle Möglichkeiten einer Erweiterung der nuklearen Abschreckung durch die europäischen Atommächte geprüft werden, wie beispielsweise die Ausstattung der deutschen Träger im künftigen europäischen Luftwaffen-System FCAS mit französischen Atomwaffen, auch wenn über deren Einsatz unverändert nur der französische Präsident entscheidet. In Russlands Risikobeurteilung wäre das ein zusätzliches friedenserhaltendes Element der Ungewissheit.

Außerdem sind die neuen Dimensionen der Kriegführung zu nutzen. Hybride Operationen und Cyberoperationen verlangen lange vor einem herkömmlichen Krieg gegebenenfalls präventiv, vielleicht sogar prä-emptiv zu handeln. 

Schließlich, Deutschlands Sicherheits- und Außenpolitik war bislang regional. Aber wer Führungsnation Europas sein will, muss global denken und handeln. Sich auf Europa und militärische Verteidigung zu beschränken, greift zu kurz. Frankreich und Großbritannien handeln seit langem global, wenn Deutschland Partner auf Augenhöhe sein will, dann muss es das auch tun. 

Des Weiteren sind die erkennbaren Lücken im Kampf mit und gegen Drohnen, in Cyber Operations und bei der Nutzung künstlicher Intelligenz zu schließen. Eine weitere Herausforderung ergibt sich aus der Notwendigkeit, im eisfrei werdenden Arktischen Ozean und auf den Wasserstraßen im Indo-Pazifik gemeinsam mit den Verbündeten die Freiheit der Seefahrt zu schützen. Dazu ist eine Verstärkung der Marine geboten. 

Die neue Regierung hat die finanziellen Grundlagen geschaffen, sie sollte aber auch über eine allgemeine Dienstpflicht für Männer und Frauen nachdenken.

„Whatever it Takes“ ist ein guter Grundsatz, um Autokraten abzuschrecken. Dem dient das Ziel: Die Bundeswehr muss in allen fünf Dimensionen nachhaltig kämpfen können: Land, Luft, See, Weltraum und Cyberspace. Sie muss zusammen mit den Verbündeten in der Lage sein, Russland durch die Androhung unermesslichen Schadens von allen Angriffen auf das NATO-Gebiet abzuschrecken, Europa weitgehend selbstständig zu verteidigen und sie muss Beiträge da leisten, dort wo der unersetzliche amerikanische Verbündete die Hilfe der Europäer braucht. Das verlangt nicht nur die Mittel, sondern vor allem die Entschlossenheit und den Willen, sie auch zu nutzen. Dazu ist schnell zu handeln, nicht auf langwierige bürokratische Entwicklungsprojekte zu setzen, sondern das zu nehmen, was der Truppe höchstmögliche Leistungsfähigkeit so schnell wie möglich gibt. „Whatever It Takes” ist also zu ergänzen durch „Wherever it comes from“. 

So könnte ein Europa entstehen, das in der Lage wäre, die USA an Bord zu halten und das sich auch der Aufgabe stellen könnte, die Ukraine nach Abschluss einer Friedensvereinbarung vor erneuten Übergriffen zu schützen. Ihre Sicherheit ist europäisches Kerninteresse. 

All diese Entwicklungen berühren nicht nur Europa, deswegen ein sehr kurzer Blick ins ferne Asien. Trump will vermutlich die NATO als Kontrollinstrument Europas erhalten. Damit will er wahrscheinlich seine Ostküste schützen und gleichzeitig seinen Verbündeten in Asien zeigen, dass er Bündnisse beibehält, sie sich also weiter auf ihn verlassen können. Deren Abhängigkeit für deren Schutz vor China braucht er, um auch in Asien Deals erzwingen zu können. China wie Indien dürften dieses Spiel durchschauen, werden aber voraussichtlich erst einmal abwarten. China wird Trump zunächst nicht in Taiwan testen. Es wird geduldig warten, auch weil es wirtschaftlich wie militärisch gegenwärtig zu schwach für ein taiwanesisches Abenteuer ist. Sollte Trump bei den Midterm Elections 2026 geschwächt werden, dann dürfte China seine Optionen neu beurteilen, denn das Ziel der „Wiedervereinigung“ bleibt. Bis zu den Midterms wird auch Indien abwarten und erst dann entscheiden, wo es in der nun beschleunigten Formung einer neuen Weltordnung seinen Platz suchen wird, angelehnt an ein global handlungsfähiges Europa oder an die USA, Russland vermutlich eher nicht. 

Die Gestaltung dieser neuen Weltordnung wird vor allem von Europa abhängen. Es muss nun endlich die Kraft aufbringen, geschlossen zu handeln und seine volle Handlungsfähigkeit herzustellen, auch in einer Welt, in der bis auf weiteres nur das Recht des Stärkeren gilt. Nur so kann es auf Augenhöhe mit den USA sprechen, wird von China ernst genommen und kann Russland abschrecken.

Es kommt auf jeden Einzelnen an

Sicherheit bedeutet nicht nur durchhaltefähiges Militär, sondern eine leistungsfähige europäische Rüstungsindustrie, einen ausreichenden Zivilschutz und eine digitalisierte Gesellschaft, damit man auf das Unerwartete blitzschnell reagieren kann und so maximalen Schutz für die verwundbare Kritische Infrastruktur, vor allem aber für die Menschen erreichen kann. Alles in allem ist es eine Herkulesaufgabe, die sich der neuen Regierung, Europa, aber vor allem seinen Menschen stellt. Auf sie kommt es an. Die Menschen müssen begreifen und annehmen, dass Schutz vor äußerer Gefahr eine Aufgabe eines jeden Staatsbürgers ist und dass er das wollen muss. Es gilt erneut das alte römische Sprichwort: „si vis pacem para bellum“, wenn du den Frieden willst, musst du den Krieg vorbereiten. Die Menschen müssen begreifen, dass Europa nicht aufrüstet, um Krieg zu führen, sondern um Krieg zu verhindern. Das gelingt aber nur wenn alle Europäer so bereit sind zu kämpfen wie derzeit nur Finnen und Polen. Auch in dieser Hinsicht hat Deutschland besonders viel nachzuholen und zusätzlich müssen die Deutschen bereit sein, durchgreifende und schmerzhafte Reformen zur schultern. Der Staat musste Innovation Vorrang vor dem Konsum geben, denn nur so wird er für die Jungen attraktiv, und die sind unsere gemeinsame Zukunft.

Es ist eine riesige Aufgabe, vor der die Deutschen stehen, aber es ist eine machbare Aufgabe. Deswegen muss am Ende der Botschaft nicht der Berg der Probleme stehen, sondern die Zuversicht, ja, die Gewissheit, dass wir es schaffen können. Das können wir, diesmal aber nicht als hohle Phrase der Hilflosigkeit gesagt, sondern als Signal unbeugsamer Entschlossenheit zum Schutz des besten Staats unserer Geschichte und durch den eisernen Willen zu Reform.

Entscheidend wird vor allem sein, die Menschen mitzunehmen bei dieser zweiten Zeitenwende. Das ist Aufgabe der uns führenden Politiker, aber jeder von Ihnen kann und muss mitwirken. Wir müssen unseren Mitbürgern sagen, wie groß die Gefahr ist, aber dass sie zu bewältigen ist. Das ist die entscheidende Voraussetzung für die Umsetzung der so dringend geboten Zeitenwende. Wir alle müssen sie wollen, wir müssen erneut begreifen, dass Freiheit zu erhalten und zu schützen ist, dass uns das aber nicht geschenkt wird. Wir müssen uns Sicherheit zum Schutz unserer Freiheit erarbeiten. Opfer dafür sind unvermeidlich, aber sie lohnen sich. Dafür kann man Mehrheiten gewinnen, wenn man ihnen endlich die Wahrheit sagt, wie groß die Gefahr ist, aber Deutschland sie meistern kann. Dann werden sie zustimmen, dass Sicherheit zwar nicht Alles, aber ohne Sicherheit alles nichts ist.

Ein Beitrag von:

General a.D. Dr. h.c. Klaus Naumann

Vorsitzender, NATO-Militärausschuss (1996 – 1999); Generalinspekteur der Bundeswehr (1991 –1996)

Dr. h.c. Klaus Naumann, General a.D., geboren 1939 in München, trat 1958 in die Bundeswehr ein und stieg nach Verwendungen in der Truppe, Verwendungen im Verteidigungsministerium und in der NATO Ende 1991 von der Position des Kommandierenden Generals des I. Korps in Münster zum Generalinspekteur der Bundeswehr auf.

In seine Amtszeit bis Februar 1996 fielen die Reorganisation und Reduzierung der Bundeswehr, die Auflösung und Teilintegration der Nationalen Volksarmee der früheren DDR, die innere Umstellung der Bundeswehr von Heimatverteidigung auf Einsätze im Rahmen von UN und NATO und die ersten Auslandseinsätze der Bundeswehr in Kambodscha, Somalia, Georgien, im Irak und auf dem Balkan.

Von Februar 1996 bis Mai 1999 war Naumann als Vorsitzender des Militärausschusses der oberste Soldat der NATO. In dieser Zeit wurde die bis Herbst 2010 gültige Strategie der NATO erarbeitet, es begann die Partnerschaft für den Frieden und die Zusammenarbeit mit Russland, die NATO nahm Polen, die Tschechische Republik und Ungarn und es begannen die Operationen in Bosnien und der Luftkrieg im Kosovo im März 1999. Nach seiner Versetzung in den Ruhestand im Mai 1999 übernahm er eine Reihe ehrenamtlicher Aufgaben. In Deutschland war dies vor allem die Präsidentschaft der Clausewitz-Gesellschaft, der Deutsch-Britischen Offiziervereinigung und die Vize-Präsidentschaft der Deutschen Atlantischen Gesellschaft. International wurde Naumann unter anderem vom IISS London in dessen Beirat, vom ICRC in Genf als International Advisor und von Kofi Annan in das so genannte Brahimi Panel der Vereinten Nationen berufen. Er war dann Mitglied der Internationalen Kommission zu Intervention und staatlicher Souveränität ( ICISS ), die im Dezember 2001 ihren Bericht „The Responsibilty to Protect“ vorlegte. Ab Mitte Oktober 2008 war er Mitglied der International Commission on Nuclear Non-Proliferation and Disarmament. Er ist im Vorstand der deutschen Atlantischen Gesellschaft, Mitglied des Kuratoriums der Gesellschaft für Sicherheitspolitik und war von 2005 an 14 Jahre Mitglied des Senats der Deutschen Nationalstiftung.

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