Deutsche Atlantische Gesellschaft e.V.

Zeit für ein Ultimatum

Ein Artikel von Dr. Stefanie Babst

Wladimir Putin will die Nato zu einer neuen Sicherheitsordnung zwingen. Große Teile Osteuropas sollen zur No-Go-Area für den Westen werden. Das erfordert eine Antwort…

Laut Presseberichten hat Russlands Präsident Wladimir Putin einen kleinen Teil seiner Truppen von der ukrainischen Grenze wieder zurückbeordert. In den ersten Januartagen sollen Gespräche mit den Amerikanern in Genf beginnen, und wenig später soll der Nato-Russland-Rat seit mehr als zwei Jahren zum ersten Mal wieder tagen. Sind dies erste Anzeichen einer Deeskalation des Konfliktes um die Ukraine?

Sicherlich sind Putins jüngste Schritte erst der Auftakt zu einem längeren Powerpoker zwischen Russland und dem Westen. Der Kreml kann die militärische Drohkulisse, die er vor einigen Wochen an der Ostgrenze der Ukraine aufgebaut hat, nach Belieben vergrößern oder verkleinern. Dabei geht es dem russischen Präsidenten um weit mehr als die Ukraine, deren staatliche Souveränität er ohnehin für eine Schimäre hält. Mit der Ukraine in militärischer Geiselhaft will er Washington und seine europäischen Verbündeten zur Neuverhandlung der europäischen Sicherheitsordnung zwingen.

Was Putin unverblümt fordert, ist die Anerkennung einer exklusiven russischen Einflusszone, die von Zentralasien über das Kaspische Meer nach Osteuropa reicht. Die Ukraine, Moldawien und Weißrussland sollen dabei eine Pufferzone bilden, die Russland an seiner Westgrenze die langersehnte strategische Tiefe gibt. Alle ehemaligen Sowjetrepubliken, seit nunmehr 20 Jahren unabhängige Staaten, sollen in Zukunft zu einer Art No-Go-Area für den Westen werden. Am liebsten wäre es Putin, wenn die Nato in ihrem neuen strategischen Konzept ganz offiziell auf jedwede Aufnahme neuer Mitglieder verzichtet.

Mit anderen Worten: Präsident Putin hat die russische Version der Monroe-Doktrin deklariert und fordert vom Westen deren Anerkennung.

In dieser schwierigen Situation ist es für den Westen am wichtigsten, aus der reaktiven Ecke herauszukommen. Zwar ist die Androhung von Wirtschaftssanktionen und eines „hohen Preises“ im Falle einer russischen Invasion ein wichtiges Signal der Abschreckung. Aber es trägt nicht dazu bei, Putin die Eskalationsinitiative streitig zu machen. Washington und seine europäischen Verbündeten müssten öffentlich mehr tun, als nur auf diplomatische Deeskalation zu setzen.

Um das falsche Narrativ Putins von der angeblichen Bedrohung der russischen Sicherheit durch die Nato zu widerlegen, sollten die Verbündeten ein paar grundlegende Fakten zu Moskaus außenpolitischem Verhalten unterstreichen: die Besetzung eines Teils von Georgien, seine zunehmenden Cyberangriffe auf die westlichen Verbündeten, die illegale Besetzung der Krim und der Ostukraine sowie die diversen internationalen Vertragsbrüche. Das wäre gerade in Deutschland wichtig, wo nicht geringe Teile der Gesellschaft die Meinung vertreten, dass man Russland durchaus eine exklusive Einflusszone zubilligen sollte, damit es in den eigenen vier Wänden warm bleiben kann.

Grundsätzliche Gesprächsbereitschaft mit Russland zu signalisieren, ist natürlich nicht falsch. Aber die westlichen Verbündeten sollten nur mit Moskau ins Gespräch kommen, wenn es seine Truppen gänzlich von der ukrainischen Grenze zurückzieht. Die Bereitschaft, unter vorgehaltener Pistole zu verhandeln, wäre aus der Sicht Putins ein Zeichen westlicher Schwäche. Um seine Forderung zu unterstreichen, sollte sich der Westen nicht scheuen, Moskau ein Ultimatum zu stellen. Sollte die russische Führung dies ignorieren, wäre die graduelle Aktivierung der von der EU und den G7 beschlossenen Wirtschaftssanktionen angemessen. Dazu gehörte auch die Suspendierung von Nord Stream 2.

Ein westlicher Gegenentwurf zu den beiden von Moskau veröffentlichten Vertragsentwürfen, in denen es rechtlich verbindliche Sicherheitsgarantien von den USA und der Nato fordert, wäre eine Möglichkeit, dem Kreml deutlich zu machen, welche Forderungen grundsätzlich verhandelbar sein könnten und welche nicht. Nicht kompromissfähig sind vor allem vier Punkte.

Erstens: Über die Zukunft europäischer Sicherheit kann nur mit allen beteiligten souveränen Staaten auf gleichberechtigte Weise diskutiert werden. Das geeignete Forum dafür ist die OSZE in Wien. Eine Neuauflage der Potsdamer Konferenz von 1945, auf der die alliierten Siegermächte die politische Landkarte Europas neu ordneten, ist indiskutabel. Zweitens: Ein Vetorecht Moskaus über das souveräne Selbstbestimmungsrecht anderer Staaten ist ein „non-starter“, eine unrealistische Forderung. Es widerspricht der auch von Russland unterzeichneten Schlussakte von Helsinki (1975), wonach alle Staaten ihren außenpolitischen Kurs selbst bestimmen können.

Drittens: Zu welchem Zeitpunkt die Nato welches Land künftig zu Beitrittsverhandlungen einladen möchte, fällt unter das Entscheidungsrecht der 30 souveränen Bündnismitglieder. Ob die Nato das seit ihrer Gründung geltende Prinzip revidieren will, ihre Tür generell für beitrittsfähige Staaten offenzuhalten, wird nicht in Moskau, sondern in Brüssel entschieden. Und viertens: Die von Russland geforderte de-facto-Demilitarisierung der nach 1997 vom Bündnis aufgenommenen Mitglieder würde die Verteidigungsfähigkeit der Nato erheblich beschneiden, ohne dass Moskau seinerseits erklärt, unter welchen Bedingungen es seine Truppenstärke an der Westgrenze deutlich reduziert. Die nach 2014 in Polen und in den baltischen Staaten stationierten multinationalen Eingreiftruppen der Nato stellen keine militärische Bedrohung für die russische Sicherheit dar.

Abgesehen von diesen Punkten gibt es jedoch durchaus Aspekte, über die Gespräche stattfinden sollten. Dazu zählt der gesamte Bereich verbesserter militärischer Transparenz und Risikobegrenzung zwischen Nato- und russischen Kontingenten sowie der Vorschlag Moskaus, die Konsultationsmechanismen und „Hotlines“ zwischen beiden Parteien wiederzubeleben.

Reden könnte die Nato auch über den Vorschlag, die Stationierung von nuklearen Mittelstreckenraketen in Gebieten zu verbieten, von denen aus sie das Territorium der jeweils anderen Seite erreichen könnten. Bekanntermaßen verbot der INF-Vertrag von 1987 alle US-amerikanischen und russischen Mittelstreckenraketen. Russlands Stationierung des Mittelstrecken-Marschflugkörpers 9M729 verletzte jedoch den Vertrag, was letztendlich zu dessen Zusammenbruch führte.

Insgesamt klingt der Vorschlag Russlands sehr nach dem Moratorium, das Putin bereits 2019 für die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa vorgeschlagen hat. Das Bündnis könnte einen zweiten Blick darauf werfen, vorausgesetzt, Russland bekräftigte, dass es auch für die 9M729 gelten und über geeignete Verifikationsmaßnahmen abgesichert werden würde.

Und schließlich die Ukraine: Natürlich wäre es wünschenswert, wenn Kiew und Moskau an den Verhandlungstisch zurückkehrten. Aber ausschließlich auf die Wiederbelebung des Normandie-Formats zu setzen, wird nicht ausreichen, um den Konflikt zu lösen. Bestenfalls ließe er sich für einen begrenzten Zeitraum entschärfen. Für den Kreml wäre aber schon das Einfrieren des Konfliktes ein politischer Punktsieg.

Die westlichen Verbündeten sollten Moskau daher deutlich machen, dass die Ukraine kein „No Man’s Land“ ist, dessen künftiges Schicksal Europa gleichgültig ist. Zugleich sollten sie die ukrainische Verteidigungsfähigkeit und Energiesicherheit unterstützen. Natürlich liegt die Zukunft der europäischen Sicherheitsordnung in erster Linie in der Hand der transatlantischen Wertegemeinschaft, aber die Nato sollte auch den diplomatischen Schulterschluss mit allen anderen Demokratien suchen, für die militärische Erpressung keine angemessene Art des vernünftigen zwischenstaatlichen Miteinanders ist. Moskau könnte seine Taktik auch woanders testen wollen.

Ein Beitrag von:

Dr. Stefanie Babst

Senior Associate Fellow, European Leadership Network, London; Principal, Brooch Associates, London; Präsidiumsmitglied, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, Berlin

Studierte in Kiel von 1983-89 an der Christian-Albrechts Universität und nachfolgend der Pennsylvania State University/USA Politische Wissenschaft, Slawistik und Internationales Recht. 1993 promovierte sie mit Hilfe eines Stipendiums der Harvard University, der Friedrich Naumann Stiftung und der Fulbright Kommission an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel. Als erste weibliche Dozentin an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg, übernahm sie den Lehrstuhl für Russland- und Osteuropastudien. Nach verschiedenen Gastdozenturen in den USA, der Russischen Föderation, der Ukraine und Tschechischen Republik wechselte Stefanie Babst 1998 in den Internationalen Stab der NATO, wo sie zunächst als German Information Officer und Referatsleiterin arbeitet, bevor sie im Mai 2006 von NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer zur Stellvertretenden Beigeordneten Generalsekretärin für Public Diplomacy der NATO ernannt wurde. Damit wurde sie zur höchstrangigsten deutschen Frau im Internationalen Stab der NATO und prägte die Öffentlichkeits- und Medienpolitik der Allianz sehr nachhaltig. Unter NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen baute Stefanie Babst, einen Krisenvorausschau- und strategischen Planungsstab für die NATO auf, den sie bis Januar 2020 auch leitete. Seit März 2020 arbeitet sie als strategische Beraterin und Publizistin und unterstützt mehrere multilaterale Projekte. Darüber hinaus ist sie Mitgründerin von Brooch Associates, einer von fünf renomierten Powerfrauen geleiteten strategischen Beratungsfirma mit Sitz in London.

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