Deutsche Atlantische Gesellschaft e.V.

Ausgabe 04: Gesine Weber

Warum die EU eine von den USA unabhängige China-Strategie braucht

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Voraussichtlich größte Wirtschaftsmacht im Jahr 2030 und weltweit vernetzt durch die Seidenstraßeninitiative, zunehmende Macht in internationalen Organisationen, verstärktes militärisches und sicherheitspolitisches Engagement: China wird die internationalen Beziehungen in den nächsten Jahren maßgeblich prägen. Die USA haben ihre Antwort auf diese Entwicklung bereits vor einigen Jahren definiert: Mit dem „Pivot to Asia“ wurde der asiatische Raum klar zur höchsten außenpolitischen Priorität erklärt, und auch die Biden-Administration stellt den „gesunden“ bzw. „harten“ Wettbewerb („healthy competition“ bzw. „stiff competition“) mit China ins Zentrum ihrer Politik. Dies spiegelt sich in einer regelrechten Besessenheit mit dem Narrativ des Wettbewerbs mit China. Sei es die milliardenschwere Infrastructure and Investment Bill zur Förderung von Innovation und Investitionen in den USA, die Entwicklungszusammenarbeit oder die Frage der Militärinvestitionen, nahezu jede Maßnahme wird als Mittel beschrieben, „China entgegenzuwirken“ („to counter China“). Im Gegensatz dazu treibt die EU bisher in einem strategischen Vakuum: Zwar beschreibt der EU-China Strategic Outlook China als „Verhandlungspartner“, „wirtschaftlichen Wettbewerber“ und „systemischen Rivalen“, aber eine Übersetzung dieses Ansatzes in klare strategische Prioritäten und konkrete Maßnahmen fehlt bisher.

Nicht selten fordern gerade Transatlantiker*innen in Europa daher, Europa solle sich in seinem Ansatz stärker an den USA orientieren und deren Strategie folgen, indem die EU zum Juniorpartner US-amerikanischer Chinapolitik wird. Allerdings ist dies problematisch: Die Position der EU mag in einigen Bereichen, etwa bei Forderungen nach der Einhaltung der Menschenrechte oder mehr Anstrengungen beim Klimaschutz, mit den USA übereinstimmen, aber bei Fragen von Handel und Sicherheit liegen die USA und die EU teilweise weit auseinander, und auch ihre Vorgehensweise unterscheidet sich deutlich. Bis heute haben die USA einige der unter der Trump-Regierung verhängten Handelssanktionen gegenüber China nicht abgebaut. Der Ton der Regierung mag sich geändert haben, die Substanz der Chinapolitik hingegen kaum, und beispielsweise durch extraterritoriale Sanktionen bekommt Europa dies direkt zu spüren. Wie sehr die USA gerade im südchinesischen Meer auf Machtpolitik setzen, hat zuletzt der Abschluss der AUKUS-Sicherheitspartnerschaft vor Augen geführt. Der Pakt stellt die französische Sicherheitsstrategie im IndoPazifik, die Partnerschaften mit Australien und Indien als zentrale Pfeiler und Frankreich als „Macht des Gleichgewichts“ („puissance d’équilibre“) beschreibt, in Frage – zum Vorteil der USA, die durch die Partnerschaft mit Australien praktisch einen Nuklearstützpunkt gewonnen haben. Gleichzeitig wurden die europäischen Partner schlicht übergangen – scheinbar mit der impliziten Annahme, dass diese dem US-Wettbewerb mit China stillschweigend zustimmen. Die Kombination aus militärischer Abhängigkeit von US-Kapazitäten und dem Fehlen klar artikulierter eigener strategischer Prioritäten lassen den Europäern zum aktuellen Zeitpunkt wenig Spielraum: Da die USA eine militärische Konfrontation mit China in den nächsten Jahren als zunehmend wahrscheinlich ansehen, bedeutet das aktuelle China-strategische Vakuum in Europa, dass die europäischen Partner den USA entweder folgen müssten – oder die nächste transatlantische Krise riskieren würden.

Aus diesem Grund ist es dringend notwendig, dass die EU ihren dreigliedrigen Ansatz gegenüber China als Verhandlungspartner, Wettbewerber und System-Rivale zu einer tatsächlichen Strategie gegenüber China ausbuchstabiert und konkrete Maßnahmen für alle Politikfelder vorlegt. Außerdem muss die EU definieren, wie sie im Falle einer Eskalation zwischen Peking und Washington reagiert – beispielsweise, ob sich die EU potentiellen US-Handelssanktionen als Reaktion auf Menschenrechtsverletzungen anschließt oder ob Territorialverteidigung von Taiwan ein strategisches Interesse der EU ist. In jedem Fall muss die EU aber ihre Position gegenüber China auf dem internationalen Parkett deutlicher artikulieren. Gerade die neue Bundesregierung muss zur Situation in Xinjiang, Hong Kong oder Taiwan klare Worte finden und darf sich nicht weiterhin an Floskeln klammern, dass man mit China auch über Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gesprochen habe. Während die USA in nahezu allen Bereichen auf Wettbewerb setzen, sollte sich Europa jedoch die Möglichkeit der Zusammenarbeit nicht verbauen, da gerade in Bereichen globaler Herausforderungen kein Weg an Peking vorbeiführt. Der französische Ansatz einer puissance d’équilibre könnte eine Blaupause für eine europäische Strategie sein, der den unterschiedlichen Interessen der Mitgliedstaaten Rechnung trägt: Dadurch könnte die EU eigene Interessen wie beispielsweise Freiheit von Handelsrouten vertreten und gleichzeitig Anstrengungen unternehmen, den Wettbewerb zwischen den USA und China durch vermittelndes Handeln und das Ausbalancieren der Interessen zu entschärfen.

Ein Beitrag von:

Gesine Weber

Programmkoordinatorin, The German Marshall Fund, Paris

Gesine Weber ist Programmkoordinatorin im Pariser Büro des GMFs, wo sie für die Sicherheits- und Verteidigungsprogrammierung, die Koordinierung der Studie Transatlantic Trends und die Leitung der Pariser Sektion des Young Transatlantic Network (YTN) zuständig ist. Ihre Arbeit und Veröffentlichungen konzentrieren sich auf europäische Sicherheit und Verteidigung, einschließlich der Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien und der GSVP, der deutsch-französischen Beziehungen und des geopolitischen Dreiecks EU-USA-China.

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