Wir haben in den letzten Jahren eine Reihe von Wendepunkten passiert, die alle grundlegenden Veränderungen andeuteten, doch zum Zivilisationsbruch im wahrsten Sinn des Wortes kam es erst mit Putins unbegründetem und rechtswidrigem Angriffskrieg in der Ukraine ab dem 24. Februar dieses Jahres.
Als Wendepunkte davor nenne ich die Präsidentschaft Trumps, die hinter die transatlantische Sicherheitsarchitektur mehr als ein Fragezeichen setzte, dann kam die globale Pandemie, die das System in der globalisierten, verflochtenen Wirtschaft schwer beschädigte und infrage stellte, sodann am 6. Januar 2021 die Abdankung Amerikas als Leitbild und Modell der Demokratie als ein vom abgewählten Präsidenten aufgehetzter Mob das Kapitol stürmte, und schließlich im Sommer 2021, der chaotische und schmähliche Abzug aus Afghanistan, der die Glaubwürdigkeit westlicher Sicherheitsversprechen schwer erschütterte.
Die dramatischen Veränderungen unserer Welt zeichnet sich aber bereits seit Jahren ab, vor allem durch den Aufstieg Chinas. Der wurde spätestens im Herbst 2020 deutlich, als China die regionale wirtschaftliche Zusammenarbeit ins Leben rief und damit im pazifisch-asiatischen Raum 15 Staaten, darunter auch Demokratien wie Japan und Australien, unter seiner Führung zusammenschloss. Damit hat China die Kontrolle über 44 % des Welthandels. Die Herausforderung der Zukunft wird die Bewältigung des Konflikts zwischen den beiden globalen Mächten unserer Zeit sein, den USA und China. Chinas Anspruch, bis 2050 in allen Kategorien internationaler Machtausübung die Nummer eins zu sein, ist eindeutig formuliert und wird zielstrebig mit dem Programm der neuen Seidenstraße, dem Technologie-Konzept China 2025 und mit der Forderung Präsident Xis, bis 2050 eine neue überlegene Weltordnung anzubieten, umgesetzt. Wir stehen somit in einem systemischen Konflikt zwischen Autokratie und rechtsstaatlicher Demokratie. Ich nehme an, bei dem Partei-Kongress im Oktober wird dies noch einmal deutlich unterstrichen werden.
Doch all diese Ereignisse verblassten oder wurden kaum wahrgenommen, auf jeden Fall führten sie nicht zu der spätestens seit 2014 erforderlichen Änderung deutscher und europäischer Sicherheitspolitik. Dies geschah erst mit dem Krieg in der Ukraine, der dann Bundeskanzler Scholz am 27. Februar das Wort Zeitenwende gebrauchen ließ.
Ich habe bei der Gestaltung des Übergangs vom Kalten Krieg zu einer europäischen Sicherheitsordnung ein wenig mitwirken können. Ich gehöre zu denen, die nach der großen Anstrengung des Kalten Krieges aufrichtig hofften, man könne ein Europa gestalten, in dem Krieg, gewaltsame Veränderung von Grenzen und erneutes Wettrüsten durch Verträge und Vereinbarungen gebannt werden kann. Diese Hoffnung ruhte auf der Schlussakte von Helsinki und führte zu Vereinbarungen wie der Charta von Paris 1990, der Vereinbarung von Budapest 1994, in der die Ukraine ihre Atomwaffen gegen die Garantie, auch durch Russland, ihrer territorialen Integrität aufgab und auf der NATO Russland Akte, an deren Aushandlung ich 1997 als Vorsitzender des NATO-Militärausschusses aktiv beteiligt war.
Die Hoffnung, eine Zone von Sicherheit und Frieden von Vancouver bis Wladiwostok zu erreichen, war keine Fiktion, auch die Entspannungspolitik auf der Grundlage des Harmel-Ansatzes der NATO von Sicherheit und Dialog war kein Fehler. Sie hat ganz Europa das Ende des Kalten Krieges, den Deutschen die staatliche Einheit, an deren Zustandekommen Präsident Bush weit größeren Anteil hatte als Präsident Gorbatschow, und der Welt den Zerfall des von einer aggressiven Sowjetunion geführten Warschauer Paktes gebracht. Die Entspannungspolitik war eine Erfolgsgeschichte, aber sie war eben auch ein Prozess des Wandels, in dem Rückschläge niemals ausgeschlossen werden konnten. Deshalb habe ich als Generalinspekteur wie als Vorsitzender des Militärausschusses stets die Linie vertreten, dass wir Sicherheit vor Russland erreichen müssen, was nicht bedeutet Sicherheit gegen Russland. Aber nur Sicherheit vor Russland auf der Grundlage gesicherter Verteidigungsfähigkeit bot die Möglichkeit, Stabilität mit Russland zu erreichen. Sicherheit durfte man deshalb nicht vernachlässigen und das aber hat man im Westen bis 1999 trotz großzügiger Friedensdividende auch nicht getan. Nach 1999 aber haben es alle mit der Friedensdividende übertrieben, auch die USA, deren Aufwand für Verteidigung von 4,9 % des Bruttosozialprodukts auf 3,1 % im Jahr 2000 sank. Deutschland allerdings hat nicht nur übertrieben, sondern in hohem Maße leichtfertig gehandelt. Die Bundeswehr wurde bis zur Trendwende 2016 in einer sträflichen Weise abgebaut, von weit über 4000 modernen Kampfpanzern blieben gerade einmal etwas mehr als 400 übrig, aus dem 1995 politisch gebilligten Dreiklang der Aufgaben, Kämpfen, Schützen, Retten, wurde aus politischen Gründen ohne Not Kämpfen gestrichen und dementsprechend wurden Fähigkeiten der Bundeswehr abgebaut.
Als die Bundeswehr in Afghanistan kämpfen musste, dies wieder lernte und sich im Kampf bewährte, erkannte man die Mängel und leitete mit der Trendwende den Wiederaufbau ein, politisch aber eher halbherzig und deshalb ohne Nachdruck. Zusätzlich, und vor allem, hat sich Deutschland in unglaublicher Weise in strategische Abhängigkeiten von Russland und China begeben, besonders in Fragen der Energiesicherheit. Dabei hat man nach dem übereilten Ausstieg aus der Kernenergie sogar noch verstärkt auf russisches Gas gesetzt, selbst nach der Annexion der Krim 2014 und dann gegen die Warnungen fast aller Verbündeten. Ein Anteil von 55% Gas aus russischen Quellen ist der Beleg jeglichen Fehlens strategischen Denkens. In der weitaus vielschichtigeren Abhängigkeit von China ist dies sogar noch deutlicher. Wirtschaftliches Wachstum und Wohlergehen der Wahlbürger hatten Vorrang. Am schlimmsten jedoch war das Einlullen der Bevölkerung mit der völlig wirklichkeitsfremden Hoffnung, dass man alle Krisen und Konflikte friedlich und durch Verhandlungen lösen könne. Das deutsche Markenzeichen in internationalen Gremien wurde der unbegründbare Leitsatz: Es gibt keine militärische Lösung. Zusätzlich glaubte man in der Beurteilung autokratischer Staaten an das Prinzip Wandel durch Handel, verschloss die Augen vor deren erkennbaren strategischen Zielen und vernachlässigte den konfrontativen Dialog. Deutschland wurde so zum unsicheren Kantonisten in NATO und EU und der einst große Einfluss in der NATO wurde verspielt.
Zu diesem Rückblick gehört auch die Feststellung, dass Putin uns nie im Dunkeln ließ, welche strategische Ziele er hat: Es war immer die Trennung des Europas der EU von den transatlantischen Verbündeten USA und Kanada und damit die Spaltung der NATO. Selbst in seiner von den Deutschen Abgeordneten umjubelten Rede im Deutschen Bundestag 2001 sprach er von einer gemeinsamen Zone von Lissabon bis Wladiwostok, also einer Zone ohne die USA und Kanada, obwohl die Verpflichtung Russlands in der Charta von Paris die Errichtung einer solchen Zone von Vancouver bis Wladiwostok war. Damals wollte er schmeichelnd mit einer eurasischen Partnerschaft Deutschland locken, auf friedlichen Weg, statt mit den USA, eine strategische Partnerschaft mit Russland einzugehen. Als er enttäuscht sah, dass keine Aussicht darauf bestand, schaltete er 2007 in seiner Münchner Wutrede auf Drohung, besetzte nach dem fragwürdigen Versprechen der NATO, dass Georgien und die Ukraine eines fernen Tages NATO-Mitglied werden könnten, 2008 Teile Georgiens, dann 2014 die Krim und führte zusätzlich seit 2014 Krieg im Donbass. Mit seinem Vertragsentwurf vom Dezember 2021, den man wohl besser als Ultimatum bezeichnen muss, kündigte er im Grunde genommen an, dass sein strategisches Ziel die Rückkehr zu einer Zweiteilung Europas nach dem Muster von Jalta 1945 ist.
Der erste Schritt dazu ist nun der am 24. Februar 2022 begonnene, völkerrechtswidrige und unbegründete Angriffskrieg gegen die Ukraine. Seit diesem Tag stehen Deutschland, Europa, ja die ganze Welt vor dem Scherbenhaufen aller bisherigen Sicherheitspolitik in und für Europa, alle Verträge sind Makulatur, auch die NATO Russland Akte. Ein Zurück zum Status Quo ante wird und darf es nicht geben. Dennoch bleibt Russland Teil der eurasischen Landmasse und damit im weitesten Sinn auch ein Nachbar, mit dem in erster Linie die Europäer eine Zukunft suchen müssen, sollte Putin jemals dazu bereit sein, wieder Mitglied einer Gemeinschaft von dem Recht verpflichteten Völkern zu sein.
Zur Begründung des Angriffs auf die Ukraine nannte Putin am 24. Februar drei Gründe: Erstens, die Bedrohung Russlands durch die NATO, zweitens, die Gefährdung russischer Sicherheit durch die entgegen westlichen Versprechungen erfolgten NATO-Erweiterungen und drittens, die Notwendigkeit ein faschistisches Régime in Kiew beseitigen zu müssen. Keiner dieser Gründe hält einer Prüfung stand, die angeblichen Versprechungen sind eine Lüge, das wurde in den vergangenen drei Monaten mehr als einmal belegt.
Die am 9. Mai nachgeschobene Behauptung, Russland habe präventiv handeln müssen, um einen Angriff der NATO zu verhindern, kann man nur als die Mutter aller Lügen bezeichnen. In der NATO müssen Entscheidungen einstimmig getroffen werden und, in Deutschland beispielsweise, ist Angriffskrieg durch die Verfassung verboten.
Der russische Staat hat mit seinem Vorgehen am 24.2.2022 die Welt nachhaltig und für lange Zeit verändert. Der Angriff ist ein nicht provozierter und durch nichts begründeter Verstoß gegen alle Grundlagen internationalen Rechts. Er ist zurecht von der Generalversammlung der Vereinten Nationen mit großer Mehrheit verurteilt worden, nur fünf Staaten stimmten dagegen, doch diese Mehrheit, das sei angemerkt, vertritt nur 43 % der Weltbevölkerung.
Die europäische Sicherheitsarchitektur beruhte auf zwei Säulen: Der Säule der Vereinbarung, dass Grenzen niemals mit Gewalt verändert werden dürfen und der Säule, dass durch Verflechtung von Handel und Industrie nach dem Prinzip Wandel durch Handel Krieg ausgeschlossen werden würde. Überwölbt und damit belastbar wurde diese Konstruktion durch die amerikanische nukleare Schutzgarantie für das abhängige, weil im Grunde genommen wehrlose Europa.
Nun stehen wir vor dem Trümmerhaufen dieses Gebäudes. Für Deutschland besonders dramatisch, denn es hat seine Bundeswehr erheblich abgebaut, hält seit Jahren die Zusage, 2 % für Verteidigung auszugeben, nicht ein und ist somit in Sicherheitsfragen abhängiger denn je zuvor.
Ich habe schon Anfang März öffentlich gesagt, dass Putin sich verzockt hat. Damals wusste ich noch nicht, dass er am 1. November durch einen von Präsident Biden nach Moskau entsandten Vertreter persönlich gewarnt worden war, aber diese Warnungen in den Wind schlug, ebenso wie der ukrainische Präsident, der noch im Januar nicht an einen Angriff glaubte.
Für Putins Fehleinschätzung nenne ich drei Gründe: Erstens, er hat mit dem schnellen Sturz der Regierung in Kiew gerechnet, zweitens, hat er mit einem schnellen Sieg seiner Truppen gerechnet und drittens, hat er wohl angenommen, dass der Westen, wie üblich, uneinig und zerfahren reagieren würde.
Nichts davon wurde wahr und zusätzlich ist nach der doch recht fehlerhaften Operationsführung der russischen Truppen deren Abschreckungswert erheblich gesunken. Es besteht zudem der Verdacht auf zahlreiche Kriegsverbrechen und die Moral der russischen Truppen scheint schlecht zu sein. Der beste Beleg für diese Einschätzung ist die Tatsache, dass Russland vor dem 24. Februar 7 % des ukrainischen Territoriums kontrollierte, heute sind es rund 20 % nach mehr als 150 Tagen Krieg und erheblichen Verlusten. Dennoch, den derzeitigen brutalen Abnutzungskrieg im Donbass könnte Russland dank seiner numerischen Überlegenheit taktisch durchaus gewinnen. Deshalb setzt Putin auf Zeit. Er will die Einheit von EU und NATO sprengen. Stimmen im Westen, die die Ukraine drängen, um jeden Preis zu verhandeln, begreifen nicht, dass sie Putin helfen und die Werte des Westens verraten. Westlicher Defaitismus hilft nicht Europa, nur Putin. Das Gerede muss ein Ende finden, über Verhandlungen entscheidet vor allem das Opfer, die Ukraine.
Russland hat aber drei „Erfolge“ erzielt, die Putin bestimmt nicht wollte: Erstens, NATO und EU sind geeint wie selten zuvor in den letzten 20 Jahren, zweitens, die ukrainische Nation ist gefestigter in ihrer Ablehnung russischer Herrschaft als je zuvor und, drittens, Staaten wie Schweden und Finnland haben den Antrag auf NATO-Mitgliedschaft gestellt und Dänemark will nun auch in Verteidigungsfragen Vollmitglied der EU sein. Die NATO wie die EU werden somit durch Putin stärker als je zuvor und Europa sicherer, vorausgesetzt sie bleiben so einig wie zurzeit. Wie der Ausgang des Krieges insgesamt sein wird, das ist gegenwärtig aber noch völlig offen. Der bisherige Verlauf des Krieges zeigt einmal mehr das für Putin typische Vorgehen voller hemmungsloser Brutalität und völliger Missachtung des Kriegsvölkerrechts. Das ist nichts Neues, denn Putins blutige Spur zieht sich von Grosny über Aleppo nun hin bis in die Ukraine, Neu ist allerdings, dass Putin diesmal nicht, wie bisher üblich, risikoscheu, sondern mit hohem Risiko gehandelt hat. Erkennbar scheinen die Kriegsziele Russlands zu sein: Taktisch dürfte das Mindestziel die Inbesitznahme des gesamten Donbass sowie eine Landverbindung zwischen dem Donbass und der Krim zu sein und dazu, sofern noch möglich, die Einschließung großer Teile der ukrainischen Streitkräfte. Die bewusste Zerstörung des Donbass, also das Schaffen einer unbewohnbaren Pufferzone, könnte ein weiteres Ziel sein.
Operatives Ziel könnte es sein, danach die gesamte Schwarzmeerküste einschließlich Odessas zu besetzen, um damit eine Rumpf-Ukraine vom Meer abzuschneiden und die gesamte ukrainische Schwarzmeerküste zu besetzen. Dazu dürfte Russland gegenwärtig zu schwach sein. Es könnte deshalb sein, dass Putin noch in diesem Jahr durch Verhandlungen Zeit zu gewinnen sucht, um dann mit frischen Kräften weiter nach Westen vorzustoßen.
Strategisches Ziel Russlands wird es sein, die derzeitige Einheit des Westens durch Kriegsmüdigkeit zu brechen. Die Drohung mit Atom-Waffen-Einsatz oder auch der Versuch, den Westen für den Hunger in der Welt verantwortlich zu machen, dürften Putins Instrumente dafür sein.
Gelingt es der Ukraine, Russland das Erreichen zumindest dieser operativen Ziele zu verwehren, dann dürfte der Ausgang eher einer Niederlage Russlands gleichen, wird aber dennoch von der russischen Propaganda als Sieg und Erfolg dargestellt werden.
Putins Angriffskrieg strategisch zum Fehlschlag zu machen, das liegt in unserer Hand und das verlangt in erster Linie Geschlossenheit in NATO und EU. Die ist entscheidend, Warnungen vor einer Demütigung Russlands sind dagegen nicht nur strategisch dumm, sondern auch ebenso unangebracht wie überflüssig. Worauf es nun ankäme, wäre das Gewinnen der Initiative durch den Westen. Da der Westen die mögliche, aber nicht risikofreie militärische Karte nicht ziehen will, ist das die zentrale Herausforderung für westliche Diplomatie.
Ich bin mir allerdings nicht so sicher wie viele der selbst ernannten Experten, ob die Ukraine tatsächlich am Ende militärisch zumindest auf der operativen Ebene siegen wird. Vergessen wir nicht, dass die schiere Masse des russischen Potenzials und die Abhängigkeit der Ukraine von westlichen Lieferungen am Ende doch „Erfolg“ erzwingen könnte, wenngleich der in Wirklichkeit mehr einer völligen Zerstörung des Ostens der Ukraine und der Verkrüppelung einer zumindest vorübergehenden Rumpf-Ukraine gleichen dürfte. Die Fieberfantasien gleichende Landkarte, die Putins Hofnarr Medwedew veröffentlicht hat, könnte durchaus Zielsetzung sein. Der Preis für diesen russischen „Erfolg“ ist allerdings hoch. Die Verluste Russlands an Menschen und Material sind beträchtlich, vermutlich ist die Zahl der gefallenen Russen jetzt schon höher als die Zahl gefallener Amerikaner in 20 Jahren Vietnamkrieg, vor allem aber dürften mittel- bis langfristig die wirtschaftlichen Folgen für Russland verheerend sein: Das BIP ist schon jetzt um etwa 8,5 % gesunken und wird weiter sinken, mehr als 8700 westliche Firmen haben Russland verlassen und finanzielle Folgen dürften spätestens im Herbst sichtbar werden. Russland wird somit nicht mehr einer der Pole einer multipolaren Welt sein, sondern lediglich ein nuklear bewaffneter Spielball in Chinas Händen. Es wird somit für China nicht Partner auf Augenhöhe sein, sondern zum abhängigen Anhängsel werden. Putin wird durch seinen Fehlgriff gegen die Ukraine Russland auf Dauer nicht stärken, sondern schwächer machen. Die Antike verband solche Erfolge mit dem Namen Pyrrhus.
Sicher ist allerdings schon heute, dass die russischen Kräfte auf keinen Fall ausreichen, die Ukraine als Ganzes zu erobern oder gar zu kontrollieren, sicher ist aber auch, dass Präsident Selenskji Gebietsabtretungen in größerem Umfang nicht hinnehmen und politisch auch nicht verantworten kann. Aber auch der Westen ist in dieser Frage gebunden: Jede Anerkenntnis eines einzigen mit Gewalt eroberten Quadratmeters wäre das Eingeständnis, dass Grenzen mit Gewalt verändert werden können. Das Tor zu einer Welt, in der nur die Gesetze des Dschungels gelten, wäre dann weit offen.
Sollte es in absehbarer Zeit zu einer Waffenruhe kommen, dann werden langwierige und schwierige Verhandlungen über eine künftige Ukraine folgen. Ich schließe allerdings nicht aus, dass Putin die Verhandlungen nur als Zeitgewinn betrachten könnte, um neue Kräfte zu sammeln. Die jüngste russische Zielsetzung eines Regimewechsels in Kiew spricht dafür. Bleibt Putin an der Macht, so wird er nicht von seinem Mindestziel ablassen, zumindest eine Pufferzone vor Russland zu errichten, nach Möglichkeit aber weit mehr: Ein Imperium wie Peter der Große oder in seiner Sprache, eine russische Welt.
Der Westen tut deshalb gut daran, sich auf einen längeren Konflikt von noch unbestimmter Dauer einzustellen. Es ist allerdings derzeit kaum wahrscheinlich, dass dieser Krieg über die Grenzen der Ukraine hinaus ausgeweitet wird. Auch der in Deutschland so oft erwähnte Einsatz von russischen Atomwaffen ist nicht als wahrscheinlich einzuschätzen, eignet sich allerdings vorzüglich als Instrument einer Propaganda, die Angst erzeugen und damit die Einheit des Westens zu sprengen sucht.
Es könnte allerdings auch sein, dass Putins Ziel noch viel weiter gesteckt ist. Er sprach mehrfach davon, er müsse den dekadenten Westen vor dessen Auswüchsen wie gleichgeschlechtliche Ehe und anderes mehr schützen. Nicht wenige Russen sehen den Westen tatsächlich als dekadent und zutiefst verdorben. Hat Putin dieses missionarische Ziel dann ist die Lage für uns noch viel ernster: Will Putin den systemischen Konflikt, dann müssen wir uns auf Krieg einstellen, unsere Verteidigungsfähigkeit rasch wiederherstellen, um im Verbund der NATO abschrecken zu können und notfalls auch zu kämpfen. Wir könnten so vermutlich Krieg in und um Europa doch verhindern. Sind wir allerdings zu einer derartigen Anstrengung nicht bereit, dann ist die Alternative die Unterwerfung, welche die so genannten „Emma Intellektuellen“ der Ukraine vorgeschlagen haben.
Wir kennen Putins Ziele nicht, doch gerade deshalb kämpft die Ukraine in meinen Augen auch für Europas künftige Sicherheit. Das sollten die bedenken, die, wie der sächsische Ministerpräsident in seinem Bemühen die Wohlfühlgesellschaft zu erhalten, den geplatzten Träumen einer Partnerschaft mit Russland nachhängen oder die, welche über Waffenlieferungen und den notwendigen Wiederaufbau der Bundeswehr diskutieren und dabei Gefahr laufen, Deutschland erneut zum unsicheren Kantonisten das Westens zu machen.
Erfolg in unserem Bemühen, der Ukraine beizustehen, sie als eigenständigen Staat nach einer Waffenruhe wieder aufzubauen und zugleich unsere freie Lebensordnung nachhaltig zu schützen werden wir nur haben, wenn es uns gelingt, jetzt in der Krise die Einheit des Westens zu wahren und dann gemeinsam mit den USA eine dauerhafte, neue Sicherheitsarchitektur in und für Europa zu gestalten.
Wir sehen die Risse in der Einheit des Westens, ich nenne nur die Namen Erdogan und Orban, und wir dürfen auch nicht vergessen, dass die Ziele der USA in Teilen langfristig auch andere sind als die Europas. Jetzt geht es den USA darum, Russland so weit wie möglich zu schwächen, damit Europa in der Zukunft mit einem schwachen Russland allein fertig werden kann, sollte es für die USA zu einem alle Kraft verlangenden Konflikt mit China im fernen Osten kommen. Das gemeinsame, übergeordnete Ziel bleibt aber der Erhalt unserer freiheitlichen Lebensordnung. Das ist der Kern des begonnenen systemischen, globalen Konflikt und der dürfte auch erhalten bleiben, unabhängig vom Wahlausgang in den USA 2024.
Es ist also eine Zeitenwende. Es geht nicht nur um den Wiederaufbau der arg vernachlässigten deutschen Bundeswehr, es geht um das Schließen zahlreiche Lücken in den Streitkräften Europas und um die Neugestaltung einer europäischen Sicherheitsordnung. In ihr muss Europa zur Wahrung seiner eigenen, durchaus globalen Interessen auch eigenständig handeln können, aber zugleich fest an der Seite seiner Partner in Nord Amerika stehen und bereit sein, gegebenenfalls auch mit ihnen gemeinsam zu handeln. Dazu müssen Frankreich und Deutschland gemeinsam die Initiative ergreifen. Zugleich müssen die Europäer den Verbund mit den Vereinigten Staaten von Amerika durch das Prinzip geteilter Risiken und Lasten erhalten und festigen. Das hat nichts mit transatlantischem Illusionismus zu tun, das ist nur Einsicht in die Notwendigkeiten und in die Abhängigkeiten, die heute und bis auf weiteres bestimmend bleiben. Das gilt vor allem für die Schlüsselfrage der nuklearen Garantie für Deutschland: Global wirksamen Schutz können bis auf weiteres nur die USA bieten und niemand sollte Illusionen haben, dass ein französischer Staatspräsident die alleinige Verfügungsgewalt über französische Atomwaffen jemals zu teilen bereit sein könnte. Bei aller Sorge wegen der tief gespaltenen amerikanischen Gesellschaft und den Unwägbarkeiten des Wahljahres 2024 muss man einfach zur Kenntnis nehmen, ohne die USA gibt es keine Sicherheit für Europa. Das sollte man gerade jetzt in manchen latent anti-amerikanischen europäischen Gesellschaften nicht vergessen, wenn man ehrlich die Frage beantwortet: Wo stünden die Ukraine und Europa jetzt ohne die amerikanische Hilfe für die Ukraine seit der Annexion der Krim 2014?
Andererseits müssen wir Europäer unseren amerikanischen Freunden mit Gelassenheit auch immer wieder sagen, dass sie ihre globale Weltmachtposition nur mit Europa an ihrer Seite bewahren können. Das ist nicht nur eine Folge der gegenseitigen Investitionen in Trillionen Höhe, sondern vor allem ein Gebot der unveränderbaren Geostrategie: Die USA als globale Seemacht brauchen Europa als ihre Gegenküste.
Zeitenwende für die NATO und die Europäische Union
Europa, und vor allem Deutschland, müssen nun endlich aufwachen und mehr für ihre eigene Sicherheit tun. Das ist der inhaltliche Kern der Zeitenwende, von der der Kanzler sprach. Eigenständig handlungsfähig zu werden, ist nicht mit 100 Milliarden für die Bundeswehr erledigt, es geht um weit mehr: Es geht um wirtschaftliche Änderung zu großer Abhängigkeit und es geht um Wandel in der Gesellschaft: Die Vollkasko-Gesellschaft, die jedes Risiko zu vermeiden sucht, ist nicht zukunftsfähig. Es gilt nun selbst Verantwortung für unsere Freiheit zu übernehmen.
Doch nicht nur die Deutschen müssen begreifen, dass es eine globale Zeitenwende ist, die in Europa nun als Krieg Ausdruck findet, die aber, wie erwähnt, keineswegs erst am 24.2. begann und auch nicht in Europa.
Dieser Herausforderung müssen sich nun auch NATO und Europäische Union stellen. Ihre Grundsatz-Dokumente, das neue Strategische Konzept und der Strategische Kompass der EU, erlauben eine erste Beurteilung, ob diese Bündnisse der Zukunft gewachsen sein werden. Erster Eindruck: Noch zu wenig und zu vage, Nachschärfen geboten, denn Fragen, die sich in der aktuellen Situation als Hemmnis erwiesen haben, werden nicht angesprochen. Dazu zwei Beispiele: Das Einstimmigkeitsprinzip in der Europäischen Union ist ein Hindernis im Krisenmanagement, Mehrheitsentscheidungen erscheinen zwingend geboten. Gleiches gilt für die NATO, die ebenfalls durch den Zwang zur Einstimmigkeit in der Durchführung von Operationen gehemmt werden kann, Prüfung ist angesagt. Und schließlich, weit darüber hinaus stellen sich Fragen, ob die Vereinten Nationen als oberstes Instrument der Wahrung des Friedens überhaupt noch handlungsfähig sind, wenn eine Vetomacht, die Recht bricht, durch ihr eigenes Veto-Recht geschützt bleibt. Prüfung ist auch hier geboten, die Generalversammlung müsste ein Recht zur Überwindung des Vetos eines Rechtsbrechers erhalten.
Doch es genügt nicht in der aktuellen Krise halt zu machen. Europa wie die NATO müssen sehen, dass zumindest kurzfristig weitere Krisen und Konflikte heraufziehen könnten: Da ist schon heute die Instabilität im West Balkan, vor allem in Bosnien-Herzegowina, wo Russland als Unruhestifter auftritt, da ist das Risiko, dass es über die Bohrungsrechte im östlichen Mittelmeer zu einem Konflikt zwischen Griechenland und der Türkei kommen könnte, da ist ferner das ungelöste Iran Problem, – ein Land, dass an der Grenze der Türkei zündelt, das weltweit Terrorismus unterstützt und das durch die fehlerhafte Kündigung des allerdings mängelbehafteten Atomabkommens heute bereits als virtuelle Atommacht zu bezeichnen ist. Und da sind all die ebenfalls ungelösten Fragen wie man Migration aus der Tiefe Afrikas auffangen kann, in diesem Jahr vermutlich erheblich verstärkt durch die als Folge des Ukraine Krieges eingeschränkten Weizenimporte aus Russland und der Ukraine.
Schließlich, das darf nicht unerwähnt bleiben, steht im Hintergrund in Asien die ungelöste Taiwan Frage. China wird diesen Anspruch kaum jemals aufgeben. Doch China ist geduldig und ist vorsichtig. Es wird nicht wie Putin in der Ukraine durch Ungeduld strategische Fehler machen und sich selbst schwächen. Sollte sich aber mittelfristig aus der Schwäche seiner Gegner eine Gelegenheit ergeben die „abtrünnige Provinz“ heimzuholen dann wird China sich diese Chance nicht entgehen lassen. Versichernd mag sein, dass China derzeit wohl kaum in der Lage ist, Taiwan einzunehmen, sofern die USA und Japan an Taiwans Seite stehen. Eindeutiger wird man das im Oktober beurteilen können, wenn der Parteikongress vermutlich neue Zielsetzungen für Taiwan beschließt. Ich nehme an, Xis Ziel ist die Lösung der Taiwan Frage bis 2027, damit rechtzeitig zum 100. Geburtstag der Volksbefreiungsarmee.
Doch selbst wenn es gelingen sollte, all diesen Fragen gerecht zu werden und die Einigkeit der Europäischen Union und der NATO zu wahren, ist damit noch nicht genug für die Sicherheit der Zukunft getan. Es gilt, deshalb jetzt den Blick in die allerdings noch recht verschleierte Kristallkugel nicht zu vergessen, die uns anzeigt, was die Zeit jenseits 2030 bringen könnte.
Zur Lösung aller erkennbaren Sicherheitsprobleme ist nun ein Konzept zu entwickeln, das wirklich alle Felder der Politik erfasst und definiert, welche Instrumente man zur Umsetzung braucht und vor allem ist dann dafür die Zustimmung der Bevölkerungen der europäischen Länder zu gewinnen. Das bedeutet natürlich auch, ein neues Konzept für unsere Außen- wirtschaft zu entwickeln, dass lähmende Abhängigkeiten, vor allem von China, vermeidet und neue, verbindende Geschäftsfelder entwickelt.
Was bedeutet das für Deutschland und Europa und deren Weg zurück in die Wirklichkeit?
Mit Blick auf die aktuelle Krise ist es noch zu früh, weit über den Tag hinaus reichende Folgerungen zu formulieren. Es ist in dieser Krise nun zwingend geboten, dass man aufhört, starr vor Angst auf die Schlange Putin und seine Atomwaffen zu starren. Je öfter wir unsere Furcht vor Atomwaffen aussprechen, desto mehr zeigen wir ihm, womit er den ängstlichsten Hasen im Stall, Deutschland, aus der Einheit des Westens herausbrechen kann, also siegen kann. Doch der Kanzler hatte Recht als er sagte: Putin darf nicht siegen. Würde er nämlich siegen, dann wäre die Ukraine nur das blutige Vorspiel für weiteren Krieg in Europa, bis Putin sein strategisches Ziel, sei es die von ihm dominierte Einflusszone vor Russland oder sei es der Systemwechsel in Europa, erreicht hat. Beides darf nicht geschehen. Deshalb ist zunächst alles zu tun, diesen Konflikt zu beenden, zugleich aber für die Zukunft vorzusorgen. Putin kann auf Zeit spielen, weil ihm das Wohlergehen der Russen egal ist und er das wichtigste außenpolitische Kapital, Vertrauen, bereits verspielt hat. Der Westen aber hätte durchaus die Kraft und die Mittel durchzuhalten, wenn er seinen Menschen zeigt, dass nur im Westen Freiheit möglich ist. Der Westen muss nur den Willen haben, Risiko zu tragen, alle Mittel zu nutzen und vor allem entschlossen zusammenzustehen.
Es gilt nun endlich ernst zu machen mit der Gestaltung eines handlungsfähigen Europas, das über alle Mittel internationaler Politik verfügt und das vor allem auch den Willen hat, diese Mittel rasch und entschlossen einzusetzen, um Krisen einzudämmen und zu beenden. Es sind die zur Umsetzung europäischer Eigenständigkeit notwendigen Instrumente zu schaffen. Das Wichtigste ist dabei der Wille, alle Instrumente der Politik entschlossen und geschlossen auch einzusetzen, notfalls sogar präventiv, wenn es um die Abwehr von Cyberangriffen oder von Massenvernichtungswaffen geht. Doch Sicherheit ist nicht alles, es gilt auch Globalisierung so zu denken, dass lähmende Abhängigkeit ebenso vermieden wird wie ein Rückfall in nationale Autarkie und dennoch beiderseitig nutzbringende Verflechtung erhalten bleibt. Wesentlich für ein Land wie Deutschland wird dabei die Freiheit der Seefahrt sein. Auch hier ist der Blick zu weiten, es genügt nicht mehr europäischen Randmeere zu betrachten, sondern die Weltmeere einschließlich des pazifischen Raums und des vermutlich im nächsten Jahrzehnt eisfreien arktischen Ozeans sind im Auge zu behalten.
Dafür anhaltende Zustimmung zu erlangen, dürfte vor allem in Deutschland schwierig sein. Deutschland scheint zwar zu erkennen, dass das Ende aller Illusionen gekommen ist, aber noch ist das Eis sehr dünn. Zudem, zu großen Teilen sind die europäischen Gesellschaften jahrelange Krisen, Entbehrungen und Krieg nicht gewöhnt.
Vor allem aber, es gibt keine Sonderstellung Deutschlands mehr, begründet mit historischen Lehren. Nur Friedensmacht sein zu wollen, sich damit vor risikobehaftetem Handeln zu drücken, das hat ebenso ausgedient, wie der Irrglaube Deutschland säße auf dem Hochsitz einer vermeintlich überlegenen Moral.
Schutz erreicht nur, wer beiträgt, wer Verantwortung übernimmt und wer Risiko trägt. Die bequeme Stabilität der vergangenen Jahre, die Nichthandeln erlaubte, ist vorbei. Europa muss begreifen, was die estnische Ministerpräsidentin ganz schlicht ausdrückte: Die Heizkosten können unerträglich werden, aber Freiheit ist einfach unbezahlbar.
Im Kalten Krieg galt: Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit. Damit hatten wir Erfolg. Heute müssen wir sagen: Jetzt Verantwortung für unsere Freiheit durch geteilte Lasten und geteilte Risiken zu übernehmen, ist der Preis für unser Überleben und für eine Zukunft in Frieden und Freiheit. Handelt Europa danach, dann werden wir diese Krise bewältigen und Frieden in Europa wieder herstellen. Das schulden in Deutschland wir, die Angehörigen der glücklichsten Generation in den letzten Jahrhunderten deutscher Geschichte, unseren Kindern und Enkelkindern.