Deutsche Atlantische Gesellschaft e.V.

Nationaler Sicherheitsrat – Deckel drauf?

Ausgabe 29: Christina Moritz

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Alle Zeichen standen auf institutionellen Neubeginn: Als die Bundesregierung Ende 2022 den Entwurf für eine Nationale Sicherheitsstrategie (NSS) erneut in die Ressortabstimmung verwies, sickerte durch, im Kanzleramt werde auch über einen Nationalen Sicherheitsrat (NSR) diskutiert. Doch schon im März 2023 war das Vorhaben vom Tisch. Bundeskanzler und Außenministerin hatten sich nicht einigen können, ob die Institution geschaffen, vor allem aber, wo sie verortet werden sollte. Beide sahen die Zuständigkeit im jeweils eigenen Haus. An der Entscheidung, das Konzept NSR ad acta zu legen, waren weder andere Bundesministerien noch Länder oder Bundestag beteiligt. Ein Verfahrensfehler, der bereits beim ersten Aufschlag für die NSS zu Verzögerungen geführt hatte. Denn im zweiten Anlauf mussten alle Ressorts Gelegenheit erhalten, in einem angemessenen zeitlichen Rahmen substanzielle Stellungnahmen abzugeben. Die Veröffentlichung der Nationalen Sicherheitsstrategie wird nicht vor Frühsommer, um mehr als ein Jahr verspätet, erwartet. Womöglich noch später, denn die Länder haben ihr Mitspracherecht inzwischen mit Nachdruck eingefordert. Auf den gravierenden Verstoß gegen das Föderalismusprinzip musste eine Reaktion folgen. Wenig überraschend kommt in diesem Kontext immer wieder auch das Fehlen eines Nationalen Sicherheitsrates zur Sprache.

Ein April voller Überraschungen

Der für sein Wechselspiel bekannte vierte Monat des Jahres hatte indes Überraschungen parat: Der Ampel-Partner FDP sparte nicht an massiver Kritik am Aus für den Rat. Damit untermauerten die Liberalen nicht nur ihre Forderung nach Schaffung eines Nationalen Sicherheitsrates, sondern auch die Position von CDU und CSU. Die Fachgespräche der Unions-Bundestagsfraktion zum NSR mündeten in einen Entschließungsantrag zur Nationalen Sicherheitsstrategie. Das ist nur auf den ersten Blick überraschend. Denn dieser enthält in Ziffer II‑4 die explizite Forderung nach Einrichtung eines Nationalen Sicherheitsrates. Weiterhin mit einem zu engen Fokus auf Koordinierung der Außen- und Sicherheitspolitik, aber mit der logischen und vor allem richtungsweisenden Verknüpfung von Institution und Strategiebildung sowie Strategiefortschreibung.

Dass der SPD-Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses als Ersatz für den NSR einen »Sachverständigenrat für Außen- und Sicherheitspolitik“ vorschlug, hätte den Auftakt für parteiübergreifende Lösungen bilden können. Doch seine näheren, über dpa und Table Media am 11. April veröffentlichten Erläuterungen zu diesem Expertengremium mit eigenem „wissenschaftlichen Stab“ weisen nicht nur große Ähnlichkeiten mit einem bereits 2016 vorgestellten, deutlich umfassenderen institutionellen Modell[1] auf, das eine Verortung im Bundeskanzleramt und eine externe Analyseeinheit beinhaltet. Sie werden in derselben Verlautbarung durch die Einlassungen ein Nationaler Sicherheitsrat sei „sicher kein Allheilmittel“ und „Die Regierung [habe] ja genügend Möglichkeiten, sich in der Außen- und Sicherheitspolitik zu koordinieren“ gleichzeitig ad absurdum geführt. Warum sollte im Bundestag ein Gremium etabliert werden, das im Kanzleramt angeblich überflüssig ist und nicht gebraucht wird? Und warum wird nicht längst das geheim tagende Parlamentarische Kontrollgremium[2] genutzt, um die Abstimmung zwischen Nationalem Sicherheitsrat, Nachrichtendiensten, Parlament und Ländern zu ermöglichen?

Vorerst kostet das Votum gegen einen Nationalen Sicherheitsrat Deutschland nicht nur sicherheitspolitische Handlungs- und Strategiefähigkeit, sondern auch internationales Ansehen. Zunehmend wird die Frage laut, ob die Bundesrepublik sich den Luxus leisten kann, auf einen Nationalen Sicherheitsrat zu verzichten. Dagegen sprechen ganz praktische Gründe und jüngste Entwicklungen. 

Suppe ohne Topf kochen – Wie soll das gehen?

Wer einmal versucht hat, eine flüssige Mahlzeit ohne Gefäß zuzubereiten, kann von der Vergeblichkeit des Unterfangens berichten. Ähnlich verhält es sich mit der Nationalen Sicherheit, einem höchst volatilen Gemisch außen- wie innenpolitischer Faktoren. Die Zutaten müssen gut miteinander verrührt werden, damit sie eine Verbindung eingehen und so optimale Wirkung entfalten können. Dazu braucht es einen Topf und einen Löffel. Das Rühren, also die Vernetzung aller sicherheitspolitischen Informationen, Akteure und Risikofaktoren, sollte idealiter mit einem Instrument aus einer Hand erfolgen. Was zu viele Köche, gegenläufiges oder zu langes Rühren anrichten können, ist bekannt. Schnell wird aus Sahne Butter, wenn der Prozess zu langwierig oder schlecht koordiniert ist.

Überdies unterliegen die Rahmenbedingungen für die Sicherheit Deutschlands einem rasanten Wandel. So sind Cyberbedrohungen oder Deep Fakes zunehmend hochgradig adaptiv und invasiv. Umso größer die Gefahr für das Funktionieren kritischer Infrastrukturen, der Wirtschaft und des gesellschaftlichen Diskurses. Meinungsbildung ist zur Waffe mutiert. Auch die Folgen des Klimawandels sind mit herkömmlichen Mitteln nicht mehr beherrschbar. Sicherheitspolitische Rezepturen, also ressortübergreifende Szenarien und die daraus abgeleiteten Strategien, müssen deshalb ständig überprüft, angepasst oder gänzlich neu geschrieben werden. Eine Nationale Sicherheitsstrategie wird somit stets ebenso fluid sein, wie der Zustand maximaler Sicherheit, den sie gewährleisten soll. Hier ist ebenfalls ein Topf nötig, der einen festen Rahmen für permanenten Austausch und, soweit erforderlich, für effektives Management akuter Krisen bietet.

Gut aufgestellt für äußere und innere Lagen?

Im Windschatten der Streitigkeiten im Kanzleramt blieben Berichte über die geplante Einrichtung eines Planungs- und Führungsstabes mit Lagezentrum im Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) nahezu unbemerkt. Und das, obwohl dies ein entscheidender Schritt in die richtige Richtung ist. Als interne Denkfabrik hätte der Stab das Potenzial für strategisch-vorausschauende Beratung über das Tagesgeschäft hinaus, die bislang keines der Ressort-Lagezentren leisten kann. Der militärfachliche Rat käme in dieser Konstruktion allerdings grundsätzlich nur dem Ressortchef zugute. Anders organisiert ließen sich mit vergleichbaren Andockpunkten in allen Bundesministerien relevante Szenarien deutlich schneller erstellen, die dann über einen NSR mit der erforderlichen Präzision für das tägliche Kanzler-Briefing zusammengeführt werden könnten. Szenare mit Relevanz für Deutschlands Sicherheit können nie eindimensional sein und demzufolge auch nicht nur durch ein einzelnes Ressort entwickelt werden. Es bedarf stets ganzheitlicher Betrachtung und Ableitung des Bedrohungspotenzials.

Mit der neuen institutionellen Initiative bleibt das BMVg Vorreiter bei der Aufgabe, sich rechtzeitig auf die Abwehr aktueller Gefahren einzustellen. Seien es die neu geschaffenen Kommandos Territoriale Führung, Cyber- und Weltraum oder zusätzliche Referate – sie alle sollen die Fähigkeiten zur vorausschauenden Analyse von Gefahren und Angriffspotenzialen steigern. Mitgedacht und eingeübt werden mit dem Bundesministerium des Innern auch innere Lagen. Dies zwei Bundesministerien zu überlassen ist jedoch ein unhaltbarer Zustand. Es ist höchste Zeit, grundlegende Fragen zu klären und sich neu zu organisieren.

Wir müssen reden

Bisweilen liegt nur ein schmaler Grat zwischen überstürzten und beherzten Entschlüssen. Was am Ende zählt, ist das Ergebnis. Doch das ist derzeit wenig überzeugend bis schädlich. Ohne Topf ergießt sich die Suppe weiter in alle Richtungen. Ohne Sicherheitsrat ist Deutschland im Spannungs- und Verteidigungsfall nur eingeschränkt abwehrfähig, weil Entscheidungs- und Handlungsfäden nicht zentral zusammenlaufen können. Eine bessere Vernetzung der Kräfte müsste aus dem Stand funktionieren. Ohne einen zentral koordinierenden NSR ist dies nicht zu schaffen. Das gilt auch für die umfassende Bündelung der reichlich vorhandenen strategischen Expertise.

Die grundlegenden Fragen lauten: Klaffen Handlungsbedarf und notwendige Reaktionen ohne einen Nationalen Sicherheitsrat noch mehr auseinander? Wie lange kann sich Deutschland den dadurch verursachten Mangel an Widerstandsfähigkeit noch leisten? Darf eine Versachlichung der Sicherheitspolitik weiterhin an persönlichen Befindlichkeiten scheitern? Unter dem Eindruck des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine steigt der Handlungsdruck täglich. Kommentare, wie schnell die Bundesrepublik volle Handlungs- und Strategiefähigkeit herstellen sollte, füllen Medien- und Fachformate. Zunehmend beschäftigen sie auch große Teile der Bevölkerung, die die Auswirkungen der militärischen Auseinandersetzungen unmittelbar spürt.

Während in den kommenden Wochen Kräfte durch die erneute Abstimmung der Nationalen Sicherheitsstrategie gebunden sind, dürfte der weitere Verlauf der öffentlichen Diskussion spannend werden. Denn genau in dieser Phase könnte sich die Situation in der Ukraine zuspitzen. Wieviel besser hätte die zusätzliche Zeit der Ressortbefassung für die Etablierung eines NSR genutzt werden können. Er hätte die aktuell drängendste sicherheitspolitische Herausforderung umfassender und schneller bearbeiten können als dies bisher möglich ist. Probleme ignorieren oder vertagen löst sie nicht. Wir müssen reden. Nicht nur über die Bestandteile einer Nationalen Sicherheitsstrategie, sondern vor allem über die Art, wie diese künftig zustande kommen, umgesetzt und fortgeschrieben werden soll. Nationaler Sicherheitsrat – Deckel drauf? Danach sieht es nicht aus, zumal der Druck im Kessel steigt.

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[1] Dazu: Christina Moritz, Die Zeit ist reif für einen Nationalen Sicherheitsrat. Blaupause für eine Sicherheitsinstitution sui generis gesucht, in: Europäische Sicherheit & Technik 6/2016, S. 86–88.
[2] Vgl. Christina Moritz, Ad acta: Nationaler Sicherheitsrat ohne Parlaments- und Länderbeteiligung vor dem Aus?, in: Newsletter Verteidigung 8/2023, S. 9–11 (11).
Ein Beitrag von:

Christina Moritz

Politologin

Die Berliner Politologin Christina Moritz forscht und promoviert zu ihrem Modell für einen deutschen Nationalen Sicherheitsrat (NSR), das sie 2016 erstmals vorgestellt hat. Die Expertin setzt sich in Fachpublikationen und Vorträgen für die Schaffung der Institution ein.

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