Deutsche Atlantische Gesellschaft e.V.

Grund zur Sorge in Europas südlicher Nachbarschaft: Demokratische Erosion in Tunesien

Ausgabe 31: Dr. Christina Forsbach

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„Robocop“, wie der heutige tunesische Staatspräsident Kais Saied im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen im Oktober 2019 frei nach einem amerikanischen Science-Fiction-Film getauft wurde, galt ursprünglich als unbestechlicher Saubermann, als spröder Politiker, der im veralteten Hocharabisch sprach. Als ich in jenem Herbst auf einer Forschungsreise im Land unterwegs war, hatte ich Freunde in der jüngeren Altersgruppe, die dennoch begeistert ihre Selfies mit dem damals 61-jährigen Verfassungsrechtler vorzeigten. Das führte dann – in einem interkulturellen Kontext – meist zu vehementen Debatten über Saieds Plädoyer, Homosexualität mit Gefängnis bestrafen zu wollen. Tunesiens junge Bevölkerung schien darüber ebenso wie über die Befürwortung der Todesstrafe hinwegzusehen. Zu groß war die Hoffnung, mit Saied mehr direktdemokratische Elemente im politischen System verankern zu können, endlich die Korruption zu bekämpfen und eine Machtverschiebung weg von den politischen Eliten und hin zur breiten Bevölkerung zu bewirken. 

Ob damals jemand gedacht hätte, dass der selbsternannte bescheidene Beamte zwei Jahre später, am 25. Juli 2021, in einem „Putsch von oben“ Regierungschef Hichem Mechichi des Amtes entlassen und die Arbeit des Parlaments aussetzen würde, ist fraglich. Was in dem Zuge als außergewöhnliche Maßnahme in Reaktion auf sozioökonomisch motivierte Straßenproteste sowie den politischen Machtkampf zwischen den „drei Präsidenten“ – dem Staatspräsidenten, dem Premier sowie dem Parlamentspräsidenten Rached Ghannouchi – erschien, mündete genau ein Jahr später in eine Verfassungsreform. 30 Prozent der Landsleute stimmten in einem von Boykottaufrufen begleiteten Referendum einem neuen Verfassungsentwurf zu, der de facto die Gewaltenteilung abschaffte und die exekutive und legislative Gewalt im Präsidentenamt bündelte.

Geostrategische Interessen: Tunesien zwischen Europa und den USA

Warum ist diese Erosion der tunesischen „Leuchtturmdemokratie“, wie sie seinerzeit auch Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Blick auf das Erbe des „Arabischen Frühlings“ pries, für Deutschland und Europa von Bedeutung? Warum ist der Weg hin zu einem autoritären System gar ein Grund zur Sorge auf der anderen Seite des Atlantiks? Schließlich war Tunesien für Washington geostrategisch hinsichtlich geringer Rohstoffinteressen sowie Handelsströme nie relevant und galt lange als Provinznest für die US-Außenpolitik. Vor allem hinsichtlich der Nähe zu Europa sowie zur militärstrategisch wichtigen Sahel-Zone hat das Pentagon das Land auf dem Radar. Für die Europäische Union, so der EU-Kommissar für Nachbarschaft und Erweiterung Olivér Várhelyi im August 2020, gilt Tunesien indes als „Schlüsselpartner in der südlichen Nachbarschaft“. Unzweifelhaft geht es dabei aber immer auch um strategische Interessen wie eine Steuerung und Eindämmung der Migrationsströme etwa durch eine Stärkung der wirtschaftlichen Stabilität des Mittelmeeranrainers. Präsident Kais Saied, der anfangs in Brüssel als entschiedener und beliebter Politiker wahrgenommen wurde, war in diesem Kontext gar fast einst eine Art Hoffnungsfigur für die Umsetzung dringend notwendiger Wirtschaftsreformen. 

In der Pressemitteilung anlässlich Saieds Besuch in Brüssel am 4. Juni 2021 ist von Gesprächen mit Ratspräsident Charles Michel, Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Parlamentspräsident David Maria Sassoli in einer „herzlichen Atmosphäre“ die Rede, die sich auf Reformmaßnahmen zur Ankurbelung des wirtschaftlichen Wachstums gerade auch im Zuge der Corona-Pandemie sowie auf die Themen Bildung, Kultur und Jugend fokussierten. Nachdem dann nur wenige Wochen später das Parlament in Tunis suspendiert worden war und die Türen des Bardo-Palastes, der die Versammlung der Volksvertreter beheimatet, auch in den folgenden Monaten geschlossen blieben, reagierte das Europäische Parlament halbherzig: Besorgt, aber mit wenig politischem Gewicht forderten die Parlamentarier in ihrer Entschließung vom 21. Oktober 2021 die „Rückkehr zur normalen Funktionsweise der staatlichen Institutionen, einschließlich der Rückkehr zu einer parlamentarischen Demokratie ohne Wenn und Aber“. Meint es die Europäische Union damit ernst, muss sie ihre Zurückhaltung überdenken und die Konditionalität als Mechanismus der politischen Einflussnahme stärker nutzen, etwa durch die teilweise Aussetzung makrofinanzieller Unterstützung, sofern sie von Vorteil für Saieds politische Bestrebungen sind.

Die Glaubwürdigkeit der EU und USA

Jenseits von wirtschaftspolitischen Fragen kommt es aber zuvorderst auf die politische Botschaft an: Europa sowie die USA täten gut daran, sich zu den jüngsten Entwicklungen im Zuge der Aushöhlung der Demokratie in Tunesien vehementer zu positionieren, wollen sie ihre Glaubwürdigkeit als immer auch wertegeleitet handelnde Akteure in der Außenpolitik nicht aufs Spiel setzen. Schließlich haben EU sowie USA Tunesien in puncto Demokratieförderung im Nachgang der Jasmin-Revolution des Jahres 2011 in einer Stimmung der Euphorie ob der erwarteten Demokratisierung in großem Maße mit Worten und Taten unterstützt. Auch vor dem Regimeende bemühten sich die beiden Geber, das unter Zine el-Abidine Ben Ali autokratisch regierte Partnerland durch Maßnahmen wie einen direkt geführten kritischen politischen Dialog oder eine informelle Beratung der Opposition auf einen demokratischen Weg zu lenken. 

Dabei kann für beide externen Akteure stets ein Trend der kontinuierlichen Korrektur und Anpassung ihrer Demokratieförderinstrumente an sich ergebende Herausforderungen beobachtet werden. Als sich die Europäische Union in den 2000er Jahren in eine Situation der „verbrannten“ Gesprächskanäle infolge einer sehr harschen Kritik an der ausbleibenden Meinungsfreiheit manövriert hatte, änderten die Diplomaten schnell ihre Strategie und beschränkten sich auf eine sehr vorsichtige, verständnisvolle aber zugleich leise die beobachteten Missstände thematisierende Gesprächstaktik.

Demokratiehilfe auf verschiedenen Ebenen

Als kurz nach der Flucht von Diktator Ben Ali am 14. Januar 2011 zwar Barack Obama den Mut des tunesischen Volkes in höchsten Tönen pries, aufgrund der Kurzfristigkeit wie auch der Skepsis in einem von den Republikanern dominierten Kongress so schnell aber keine weiteren Unterstützungsleistungen bereitgestellt werden konnten, erwies sich das regionale Programm der „Middle East Partnerschaft Initiative“ flexibel. Es konnten unbürokratisch mehr als 20 Millionen US-Dollar für Demokratieförderprojekte in Tunesien umgeplant werden. Kleine und wenig beachtete Schritte wie diese weisen auf die Möglichkeit hin, auch in Situationen eines Engpasses oder des schnellen politischen Wandels bis hin zum Regimewechsel ideell zu handeln. Dazu kam in Tunesien die sehr aktive „Community“ der Demokratiehelfer, die auf einer untergeordneten low-policy-Ebene besonders seit 2011 in großen Maße Programme zur Unterstützung der Zivilgesellschaft, der Parteien, der Justiz oder der Medienlandschaft durchführten – genannt seien nur die deutschen politischen Stiftungen oder die US-amerikanischen Parteiinstitute National Democratic Institute und International Republican Institute. 

Aus diesen Gründen muss und darf Tunesien auch in Zeiten der rapiden Abnahme der demokratischen Qualität bzw. des langsamen Tods der Demokratie nicht einfach seinem Schicksal überlassen werden. Umso mehr wundert es, dass US-Außenminister Antony Blinken Tunesien bei seiner Maghreb-Reise im Mai 2022 ausließ. Ferner dürfte es der transatlantischen Gemeinschaft nicht entgangen sein, dass Tunesien nur auf westlichen Druck hin dem Votum gegen den russischen Angriff auf die Ukraine in der UN-Vollversammlung im März 2022 zugestimmt hat. Vor der Folie eines sich verschärfenden globalen Systemkonflikts lässt das aufhorchen, hinsichtlich einer konstatierten globalen Autokratisierungswelle ebenso. Grund genug, die Tunesienpolitik in Brüssel, Berlin und Washington wieder höher auf die Tagesordnung zu setzen. 

Ein Beitrag von:

Dr. Christina Forsbach

Konrad-Adenauer-Stiftung

Christina Forsbach ist Referentin in der Begabtenförderung/Studienförderung der Konrad-Adenauer-Stiftung. Zuvor beschäftigte sie sich in ihrer Promotion mit einem Vergleich der US-amerikanischen und der EU-Demokratieförderagenden in Tunesien vor, während und nach dem sogenannten „Arabischen Frühling“. Für die Arbeit, die bei Nomos erschien, hat sie umfangreiche Feldforschung durchgeführt.

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