Deutsche Atlantische Gesellschaft e.V.

Land mit ungewisser Zukunft

Ausgabe 33: Werner Sonne

Die Herausforderungen für Bosnien-Herzegowina

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Es ist auch eine Touristenattraktion, aber vor allem eine Erinnerung daran, dass der gewalttätige Nationalismus in dieser Region eine lange und blutige Tradition hat: gleich gegenüber der Lateinerbrücke wurde am 28. Juni 1914 der österreichisch-ungarische Kronprinz Franz Ferdinand in Sarajevo von dem serbischen Attentäter Gavrilo Princip erschossen. Nur wenige Tage später führte das zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Heute steht an dieser Stelle der Nachbau des Autos, in dem es den Kronprinzen traf, Touristen können sich darin fotografieren lassen, große Fotos von damals und eine Gedenktafel künden von der Tat.

Das scheint nur an der Oberfläche weit entfernte Geschichte. Doch die ethnischen Spannungen hörten nie auf. Zwischen 1992 und 1995 war Sarajevo 1425 Tage lang Schauplatz einer Belagerung durch Truppen der bosnisch-serbischen Armee, 10,615 Menschen starben, darunter 1,601 Kinder, gut 50 000 wurden verletzt. Und in Srebrenica ermordeten Truppen der serbischen Republik Srpska im Juli 1995 8000 bosniakische Männer von 13 bis 78 Jahren – ein Verbrechen, das die internationale Gemeinschaft als Völkermord einstuft.

Unverarbeitete Geschichte und anhaltende Spannungen

Quer durch die weiterhin gespaltenen ethnischen Lager in Bosnien-Herzegowina (BiH) ist man sich bis heute zumindest in einem Punkt einig: Die Verbrechen dieser blutigen Zeit wurden nicht aufgearbeitet. Selbst Verteidigungsminister Zukan Helez räumt freimütig ein: Man ist ständig mental im Krieg. Ein hochrangiger Offizier der EUFOR Althea Militärmission, die versucht, die Lage mit 1200 Soldaten/innen, darunter auch 50 von der Bundeswehr, stabil zu halten, bringt es so auf den Punkt: „Der Versöhnungsprozess hat niemals begonnen, das Gegenteil ist der Fall“. Und auch ein Universitätsrektor bestätigt: Die Studenten lebten in einer Atmosphäre der Angst.

Daraus ergibt sich das langfristig wohl größte Problem dieses Landes auf dem West-Balkan: die massenweise Abwanderung seiner jungen, qualifizierten Leute. Bis zu 145 000 stimmen pro Jahr mit den Füßen darüber ab, was sie von der Zukunft in ihrem Land halten: offensichtlich nichts. Sie gehen, sobald sie ihre Ausbildung beendet haben, viele davon nach Deutschland. Und das bei einer Bevölkerung von rund 2,5 Millionen. Für dem kroatischen Bevölkerungsteil ist das ohnehin kein Problem. Die meisten dieser Bürger haben auch einen kroatischen Pass, sie sind damit EU-Bürger und können sich überall in der Europäischen Union ansiedeln.

Die Rolle des Hohen Repräsentanten

Eine neue Regierung versucht, sich gegen diesen Trend zu stemmen. Es ist ihr auch gelungen, einen Haushalt zu verabschieden. Dabei spielt auch eine Institution eine wichtige Rolle, die auf der Welt einmalig ist: Durch das Friedensabkommen von Dayton wurde von der internationalen Gemeinschaft das Amt des Hohen Repräsentanten geschaffen, der einzigartige Vollmachten hat. Es kann Gesetze erlassen oder Politiker entlassen, er kann also ganz grundsätzlich in den politischen Prozess eingreifen, um das Land auf der Basis des Friedensabkommens stabil zu halten.

Derzeit ist mit dem früheren deutschen Bundesminister Christian Schmidt ein Mann mit dieser komplexen Aufgabe betraut, der mit seinen Entscheidungen dazu beigetragen hat, dass die Wahlen am 2. Oktober 2022 überhaupt stattfinden und am Ende eine Regierung in der Föderation von BiH möglich wurde.

Korruption und Einflüsse von Außen

Viele in BiH setzen nun große Hoffnungen auf ihn, dass er mit seinen weitreichenden Kompetenzen die vielfältigen Herausforderungen lösen wird. Aber die Probleme sind so vielfältig, dass für Optimismus wenig Platz zu sein scheint. Die Notwendigkeit, die unterschiedlichen Ethnien ‑Serben, Bosniaken, Kroaten- zu berücksichtigen, führt überall zu aufgeblähten, unwirtschaftlichen Organisationseinheiten, häufig angelehnt an die ethno-nationalistischen Parteien, Vetternwirtschaft und zum Dauer-Krebsgeschwür der Korruption, mafiöse Strukturen eingeschlossen. Die Wirtschaft stagniert, die Bereitschaft für westliche Investitionen ist gering. Das schafft Raum für einen großen Spieler aus dem Fernen Osten. China hat auf dem Balkan auch Bosnien-Herzegowina entdeckt und bringt sich als Investor ein, von Autobahnprojekten bis zur Energieversorgung.

Doch längst hat sich eine andere Macht als der eigentliche Gegenspieler des Westens in diesem Balkan-Staat fest etabliert. Russland setzt alles daran, das fragile Gleichgewicht zu zerstören und die unverkennbaren Abspaltungstendenzen zu befördern. Mit Milorad Dodik, als Vertreter der Teil-Republik Srpska zwar ehemals Mitglied der Präsidentschaft von Bosnien-Herzegowina, hat Russland einen engen Verbündeten, dessen kaum verdecktes Ziel die Abspaltung und die mögliche Eingliederung in ein Groß-Serbien ist. Damit folgt er dem russischen Narrativ. So wie Waldimir Putin ein „Russkiy Mir“ ein Groß-Russland inklusive der Ukraine anstrebt, so soll es auch ein“ Sprski vet“ ein Groß-Serbien geben. Gelänge dies, dann könnte es zu einem neuen Transnistrien kommen, eine direkte, auch militärische russische Präsenz in einem Land, das Richtung Westen strebt.

Das Streben nach EU- und NATO-Mitgliedschaft

Das scheint, trotz aller tiefen ethnischen Gegensätze dem Mehrheitswillen der Bevölkerung zu entsprechen. Drei Viertel, so schätzt man in der Regierung in Sarajevo ein, sind für einen Beitritt zur Europäischen Union. Die EU hat im vergangenen Jahr auch für BiH ein Zeichen gesetzt und dem Land einen Kandidatenstatus verliehen. Aber auch hier gibt es trotz der Zustimmung in der Bevölkerung Bremser im politischen Lager. Viele in der Politik haben sich im Status Quo komfortabel eingerichtet und fürchten die von der EU verlangten tiefgreifenden Reformen, nicht zuletzt bei der Bekämpfung der Korruption.

Wie bei anderen Beitrittskandidaten auch ist allen klar, dass auch deshalb ein tatsächlicher Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft gewiss nicht so bald bevorsteht. Und ähnliches gilt auch für die NATO. In der Allianz sieht man seit Jahren die Notwendigkeit, dem russischen Vordringen auf dem Balkan ein Stoppschild entgegenzusetzen. NATO-Generalsekretär Stoltenberg sprach davon, die Allianz könne sich auch in BiH kein Sicherheitsvakuum leisten. Im Lager Butmir am Rande von Sarajevo hat die NATO deshalb zusammen mit der EUFOR-Truppe ein Hauptquartier eingerichtet. Von dort organisiert das Militärbündnis Hilfe für die kleine, im Aufbau befindliche Armee des Balkanstaates und führt auch zahlreiche gemeinsame Übungen durch.

Militär und Sicherheit

Die Regierung versucht, die Führung der Streitkräfte so zu besetzen, dass die ethnischen Risse keine Rolle spielen sollen. Verteidigungsminister Helez sagt, die Armee sei der bestintegrierte Teil im Lande, „besser als die Politik“. Aber wie weit das trägt, sollten die Spannungen zunehmen, bleibt offen. Zwar wurden die Gehälter für die Soldaten um 20 Prozent angehoben, aber die auf dem Papier rund 10 000 Mann starke Truppe bleibt dramatisch unterfinanziert und unterbesetzt.

80 bis 90 Prozent des Verteidigungshaushalts gehen allein für die Personalkosten drauf. Bosnien-Herzegowina wurde bereits 2010 in den Membership Action Plan (MAP) der NATO aufgenommen. Auch für den NATO- Gipfel in Vilnius liegt eine Einladung als Gast vor. Doch wann es wirklich zu einer Mitgliedschaft kommt, ist angesichts der internen, von Russland befeuerten Widerstände vor allem aus dem serbischen Lager nicht wirklich absehbar.

Ein ungewisser Ausblick

Eine NATO-Studie kommt zu dem Schluss, der Krieg in der Ukraine unterstreiche die Notwenigkeit, den West-Balkan davor zu bewahren, Moskaus neues Feld der tiefgreifenden Störung in Europa zu werden. Doch jenseits dieser geopolitischen Ziele sehen Beobachter in Sarajevo weiterhin vor allem die inneren Konflikte als die entscheidende Bedrohung an. Und dabei überwiegt die Skepsis.

„Ich sehe wirklich keine Zukunft für dieses Land“, ist die zutiefst pessimistische Einschätzung eines hochrangigen westlichen Diplomaten, vor allem mit Blick auf die dramatische Abwanderung der überwiegend jungen Menschen. Ein hoher EU-Militär fasst das so zusammen: „Die Lage ist fragil, aber stabil. Niemand weiß, wo das Land in zehn Jahren sein wird“.

Ein Beitrag von:

Werner Sonne

Journalist und Autor

Werner Sonne begann seine Karriere 1964 als Zeitungsredakteur und Reporter beim Kölner Stadtanzeiger. Im Anschluss daran arbeitete er für United Press International (UPI) in Bonn, bevor er zwischen 1968 und 1981 dreizehn Jahre lang als Korrespondent für den WDR in Bonn und Washington tätig war. Im Jahr 1982 wurde Sonne Stellvertretender Chefredakteur der Landesprogramme im WDR-Fernsehen in Köln. Nach 1984 war er zwanzig Jahre lang als Korrespondent der ARD in Warschau, Bonn, Washington und zuletzt in Berlin tätig. Von 2004 bis 2012 war er Berliner Studioleiter des ARD-Morgenmagazins.

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