Was muss geschehen, um Europas Sicherheit in Zukunft zu gewährleisten? Die NATO ist einerseits seit der Aufnahme von Schweden und Finnland stärker denn je. Zugleich aber hat der russische Angriffskrieg auf die Ukraine in Europa Ängste geweckt. Genährt werden sie vor allem auch durch die weltweite Zurückhaltung bei der Verurteilung Russlands. Immer intensiver stellt sich daher die Frage, wer wir als Europäer geostrategisch betrachtet eigentlich sind und wer wir seien wollen. Auch Aussagen wie die des Generalinspekteurs der Bundeswehr, General Carsten Breuer, dass Russland in fünf bis zehn Jahren die Stärke erreichen würde, um ein NATO-Land anzugreifen, deuten auf einen verschärften strategischen Handlungsbedarf Europas hin.
Die Ebene, auf der die europäischen Staaten ihre eigene, eben europäische Strategie in militärischen, wie in handels- und industriepolitischen Fragen festlegen und umsetzen, ist die Europäische Union (EU). Bestens kennt die Politikwissenschaftlerin Dr. Annegret Bendiek den Balanceakt, den die EU dabei in sicherheitspolitischen Fragen zu praktizieren gezwungen ist. Sie ist seit 20 Jahren in der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) tätig. Als Senior Fellow berät sie unter anderem die Bundesregierung in geopolitischen Strategiefragen zum Bereich EU/Europa.
Die EU, sagt sie, werde oft betrachtet, als sei sie ein Staat, der eigene Entscheidungen treffe und umsetze. Vielmehr sei sie aber ein ganz eigenes und einzigartiges Gebilde, das zwischen supranationalen Aufgaben wie der Industriepolitik (die der Kommission unterliegt) und sicherheitspolitischen Entscheidungsprozessen der Einzelstaaten (die im Rat entschieden werden) permanent Balancen finden müsse – selbst wenn sich beide Bereiche oft kaum voneinander trennen ließen.
Dass die europäische Zeitenwende dennoch an vielen Stellen gelingt, sieht die Politikwissenschaftlerin Annegret Bendiek auch in den industriepolitischen Projekten der „Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit“ und deren aktuell 67 rüstungspolitischen Projekten.
Um die Finanzierung dieser und vieler künftiger notwendiger Projekte durch Eurobonds gibt es Divergenzen zwischen den nördlichen und den südlichen EU-Staaten. Auch darum geht es in dieser Podcast-Folge – und um das Festhalten an den transatlantischen Nuklearkonzepten, die die östlichen EU-Staaten favorisieren und die stärkere Ausrichtung an einer Nuklearstrategie, die die überwiegende Zahl der Mittelmeerstaaten und insbesondere die Nuklearmacht Frankreich bevorzugen: eine Nuklearstrategie, die unabhängiger ist von den USA.
Neben den eher militärisch orientierten Strategiefragen gehört zum geostrategischen Wettbewerb um die Zukunft Europas aber auch die Positionierung in den Handelsbeziehungen mit den nichteuropäischen Akteuren. Annegret Bendiek lädt ein, die Blickrichtung zu ändern: Die EU sei zum einen ein großartiges supranationales Projekt und eine friedenspolitische Idee. Für China sei die EU aber auch ein spannendes multinationales Projekt, das man aus der Ferne beobachten kann, um zu sehen, ob es gelingt. „Die Chinesen verstehen uns teilweise viel besser als wir die Chinesen verstehen. Insofern passen sie ihre Strategien, wie sie mit uns kooperieren, sehr genau an“, beschreibt Annegret Bendiek ihre Beobachtungen. Das zu lernen, täte auch Europa gut.
In Bezug auf das Bestehen in einer multipolaren Weltordnung erläutert sie auch das Konzept der friedvollen Dissoziation: Sich selbst weniger verletzbar zu machen in Bezug auf Handelsabhängigkeiten, ehrlichen Mut zum eigenen Unilateralismus zu zeigen und dabei gleichzeitig im Gespräch zu bleiben, wo es gemeinsame Punkte gibt für weitere Kooperationen.
In dieser Folge des Atlantic Talk Podcast geht es auch um die Frage, ob eine Europäische Verfassung fehlt, ratifiziert durch ein echtes Mandat der Völker. Denn das sei sicher: Die größte Bedrohung für die EU, so Annegret Bendiek, komme aus der EU selbst, nämlich von revisionistischen Kräften, die fundamental das Friedensprojekt Europäische Union nicht reformieren sondern abbauen wollen.
Annegret Bendiek hat eine Antwort darauf: Die europäischen Verträge dürften nicht abgewickelt werden, sondern es müsse darum gehen, die EU reformfähig zu machen und Reformen durchzuführen, damit die Handlungsfähigkeit und demokratische Legitimierung des großartigen Projekts Europäische Union besser wird.