Die Zeitenwende-Rede von Olaf Scholz am 27.2.2022 hatte eine wichtige Botschaft: Deutschland hält an der nuklearen Teilhabe im Rahmen der NATO nicht nur fest, Berlin schafft dafür endlich auch die entscheidenden klaren Voraussetzungen. Das 100-Milliarden-Sondervermögen wird auch für die Beschaffung des amerikanischen F‑35-Kampfbombers für die deutsche Luftwaffe als Trägerflugzeug für die amerikanischen Atombomben auf deutschem Boden eingesetzt. Gleichzeitig wurde der grundlegende Umbau der Fliegerhorstes Büchel vorangetrieben, Kostenpunkt bis zu einer Milliarde Euro, wo schon die neuen US-Atombomben B 61–12 eingetroffen sind, noch zielgenauer als die alten, die dort jahrzehntelang lagerten.
Selbst die Grünen, damals Koalitionspartner, zu deren DNA doch die Abschaffung jeglicher Atomkraft, zivil wie auch militärisch, gehört, stimmten dem angesichts der zunehmenden russischen Bedrohung ausdrücklich zu. Putin hatte die russische Nuklear-Doktrin verändert und die Einsatzschwelle deutlich abgesenkt. Die deutsche Politik hat sich damit für die nächsten Jahrzehnte auf das Konzept festgelegt, dass praktisch seit Beginn der NATO für Abschreckung und damit für eine Friedenserhaltung sorgt: die Amerikaner stellen in Europa die Nuklearwaffen, eine Koalition der Willigen in der transatlantischen Allianz, den Niederlanden, Belgien, Italien, der Türkei und eben auch Deutschland, halten die Trägerflugzeuge bereit, deren Piloten in einem Extremfall in einem Krieg die Nuklearwaffen ins Ziel bringen sollen. Andere NATO-Verbündete stellen dafür weitere Fähigkeiten zur Verfügung, für die Versorgung und den Begleitschutz mit konventionellen Kampfflugzeugen.
Dies war immer der Kern des Artikels 5 des Nordatlantikvertrags: Die Beistandsklausel ist einem hochgerüsteten Aggressor gegenüber nur dann vollends glaubwürdig, wenn die NATO, praktisch also die Amerikaner, bereit sind, im äußersten Fall auch Atomwaffen einzusetzen, unter Umständen sogar als „First Use“, also mit einem präventiven selektiven nuklearen Einsatz, dann mit dem Ziel, einen konventionellen Großangriff zu beenden. Es war das Dauer-Versprechen der amerikanischen Führungsmacht, den Einsatz dieser Atomwaffen auch freizugeben, wenn es darauf ankommen würde. Die Verbündeten, und Deutschland ganz besonders, hatten sich darauf immer verlassen.
Bis Donald Trump alle bisherigen Gewissheiten gründlich erschütterte. Jetzt steht die Frage im Raum: Wird der Mann, der sich doch erkennbar auf die Seite von Wladimir Putin und damit gegen die europäischen Verbündeten geschlagen hat, weiterhin den nuklearen Schutzschirm der NATO garantieren? Denn nur der amerikanische Präsident persönlich kann den Einsatz von Atomwaffen entscheiden.
Nie waren die übrigen NATO-Staaten so verunsichert wie jetzt. Nun ist Frankreichs Präsident Macron eingesprungen. Mit seiner jüngsten Ansprache hat er eine Alternative vorgeschlagen: Frankreich, so hat er angeboten, ist bereit, „als Antwort auf einen historischen Aufruf des künftigen deutschen Bundeskanzlers, […] eine strategische Debatte darüber zu beginnen, seine Verbündeten auf dem europäischen Kontinent mit seiner nuklearen Abschreckung zu schützen.“
Der voraussichtliche neue deutsche Kanzler Friedrich Merz hatte denn schon Tage zuvor, offenbar in Absprache mit Macron, die Diskussion über die europäische Bombe begonnen. Er hat damit die deutsche Politik in eine extreme Zwickmühle gebracht: Einerseits gilt die Festlegung auf die nukleare Teilhabe in der NATO, angeführt von Washington, andererseits kommt jetzt ein Konkurrenzmodell ins Spiel: die europäische Lösung.
Dem hat sich der noch amtierende Kanzler Olaf Scholz entgegengestellt. Am Rande des jüngsten EU-Gipfels ließ er keinen Zweifel daran, dass die Berliner Politik an der US-geführten nuklearen Abschreckung festhalten will. Zeichnet sich hier ein Konflikt ab, der auch in die künftige schwarz-rote Koalition hereinreichen wird? Ist Friedrich Merz dabei, die NATO-Abschreckung mindestens zu relativieren – und damit die Gefahr zu provozieren, dass die Trump-Administration dies zum willkommenen Anlass nimmt, aus dem atomaren Schutzschirm auszusteigen und die Europäer auch hier sich selbst zu überlassen? Und schlimmer noch: Mit Putin einen Deal über die Köpfe der Europäer hinweg abzuschließen, der Amerika noch mehr aus dem europäischen Kontinent entfernt?
Hier stellt sich nun umso dringlicher die Frage: Ist Macrons Angebot die Alternative? In der Vergangenheit hatte Macron bereits wiederholt das Angebot zu einem „strategischen Dialog […] über die Rolle der nuklearen Abschreckung Frankreichs für unsere kollektive Sicherheit“ gemacht. Die Bundesregierung ging bislang darauf nicht ein, wohl weil sie nicht den Eindruck erwecken wollte, sie würde den USA, der NATO und ihren eigenen Beschlüssen zur Abschreckung nicht mehr vertrauen. Dies ist verständlich, denn die französische Abschreckung ist keine gleichwertige Alternative. Sie wollte es bisher auch ausdrücklich nicht sein.
Was bisher galt: erweiterte nukleare Abschreckung der NATO
Was hat es damit auf sich? In allen Kommuniqués der NATO-Gipfeltreffen ist festgehalten, dass die strategischen Nuklearstreitkräfte der Allianz, insbesondere diejenigen der USA (also diejenigen mit einer Reichweite über 5.500 km) die „höchste Garantie für die Sicherheit der Verbündeten“ darstellen und dass sich die Abschreckung der NATO dabei auch auf amerikanische Nuklearwaffen in Europa („forward deployed“) stützt. Den “unabhängigen” Nuklearstreitkräften Frankreichs und Großbritanniens kommt für die Sicherheit der Verbündeten eine eigene wichtige Bedeutung zu, insofern sie einem Gegner die Kalkulation seines Risikos erschweren.
Abschreckung findet im Kalkül eines Gegners statt. Sollte er einen konventionellen Angriff erwägen, muss er in der Beurteilung der Erfolgswahrscheinlichkeit zu dem Schluss kommen, dass das Risiko eines Scheiterns und eines großen Schadens für ihn selbst zu hoch ist. Das NATO-Dispositiv muss so angelegt sein, dass jeder Angriff, auch ein nur begrenzter, z. B. gegen einen oder mehrere „kleine“ Verbündeten, sofort die gesamte NATO auf den Plan ruft, einschließlich der Welt- und Nuklearmacht USA. Deshalb stehen multinationale NATO-Truppen im Baltikum, auch amerikanische. Eine militärische Konfrontation mit den USA in einem Krieg aber birgt aus russischer Sicht immer das Risiko einer nuklearen Eskalation und damit eines untragbar hohen Schadens für Russland selbst.
Die „Vorne-Stationierung“ von amerikanischen Nuklearwaffen B 61–12 in Europa, die in einem Krieg Ziele in Russland treffen könnten, erhöhen dieses Risiko, sollte Moskau Angriffspläne haben. Sie verdeutlichen dem Kreml, dass russisches Territorium kein Sanktuarium wäre, sollte er ‚nur‘ Europa oder auch ‚nur‘ einzelne europäische Verbündete nuklear bedrohen, die USA aber bewusst unbehelligt lassen wollen – in der Absicht, die NATO zu spalten, ihren Verteidigungswillen zu lähmen und einen konventionellen Krieg unter dem Schutz seiner Atomwaffen zu riskieren. Diese Waffen signalisieren Moskau das Risiko einer nuklearen Eskalation, die womöglich nicht kontrollierbar wäre und vor allem eben auch den Angreifer selbst träfe. Dieser Zusammenhang ist der Kern der erweiterten nuklearen Abschreckung, deren Schutz bisher alle nicht-nuklearen Verbündeten gleichermaßen genießen.
In den wiederkehrenden Erklärungen der NATO wird er in immer gleichen Worten so ausgedrückt: “Any employment of nuclear weapons against NATO would fundamentally alter the nature of a conflict. The Alliance has the capabilities and resolve to impose costs on an adversary that would be unacceptable and far outweigh the benefits that any adversary could hope to achieve.” Für die Strategen im Kreml trägt nahezu jedes Wort eine eigene Botschaft. Bisher waren die USA bereit, das für sie mit dieser Strategie verbundene Risiko zu akzeptieren, zumal die Europäer durch die nukleare Teilhabe einen erklecklichen Teil des Risikos mittragen. Geklagt haben die Amerikaner bisher nie. Im Gegenteil, sie wussten, dass ein sicheres und stabiles Europa für ihre Weltmachtrolle unentbehrlich ist.
Mit dem Wiedereinzug Donald Trumps ins Weiße Haus und angesichts seiner Tiraden und Aktionen muss man befürchten, dass sich die Haltung der USA auch gegenüber ihren Verbündeten und der erweiterten Abschreckung ändert. Trumps Verhalten hat schon jetzt ihre Glaubwürdigkeit beschädigt. Präsident Macron hat mit seinem Verweis auf eine „neue Ära“ recht, und die Europäer müssen die Folgen daraus ziehen. Es ist hohe Zeit, sich auf sein Angebot zu einer eingehenden Diskussion über die französische Nuklearstrategie einzulassen.
Die Nukleardoktrin Frankreichs
Trotz der Absicht Präsident Macrons, die strategische Debatte über einen möglichen „Schutz“ der europäischen Verbündeten Frankreichs durch die französische Abschreckung zu eröffnen, ist die französische Nukleardoktrin bisher unverändert. Sie ist in seiner Grundsatzrede vom 7. Februar 2020 in Paris niedergelegt. Sie spiegelt die unveränderten Grundsätze des nuklearstrategischen Denkens Frankreichs wider, seit Präsident de Gaulle im Jahr 1966 den Austritt Frankreichs aus den militärischen Strukturen der NATO verfügte:
(1) Französische Nuklearwaffen schützen ausschließlich Frankreich – und zwar als Ultima Ratio französischer Selbstverteidigung unter extremen Umständen.
(2) Eine auf andere Staaten erweiterte nukleare Abschreckung lehnte Frankreich bis dato ab. Der Einsatz von Nuklearwaffen könne angesichts ihrer Vernichtungskraft und dessen mögliche Folgen nur durch das Staatsoberhaupt eines Staates für diesen Staat selbst verantwortet und verfügt werden.
(3) Die Strategie der Flexiblen Antwort und abgestuften Reaktion, die den Kern der NATO-Strategie ausmacht, gilt als nicht akzeptable nukleare Kriegsführungsstrategie. Die französische Doktrin sieht lediglich das Mittel eines „einzigartigen und einmaligen“ letzten atomaren Warnschusses vor, dem dann ein massiver Kernwaffeneinsatz gegen die politischen, wirtschaftlichen und militärischen „Nervenzentren“ des Aggressors folgen würde.
(4) Zugleich basiert die französische Doktrin auf ‚totaler‘ Ambiguität und Ungewissheit über einen Nukleareinsatz. Paris wolle einem möglichen Aggressor keinerlei Anhaltspunkte liefern, ob und unter welchen Umständen Nuklearwaffen eingesetzt werden könnten. Die pure Existenz und Einsatzbereitschaft seiner Nuklearwaffen, die Frankreich in regelmäßigen Übungen sichtbar unter Beweis stellt, mache das Risiko für einen Gegner unannehmbar hoch und seien daher die Essenz von glaubwürdiger Abschreckung.
Vor diesem Hintergrund stellt Macrons Absicht, die Debatte über den Schutz europäischer Verbündeter mittels der französischen nuklearen Abschreckung zu eröffnen, aus innerfranzösischer Sicht mindestens eine Provokation dar. Der erklärte Widerstand von Marine Le Pen deutet darauf bereits hin. Aus europäischer Sicht sind sie aber eine große Chance für einen Dialog darüber, worauf sich eine mögliche künftige europäische Verteidigungsunion stützen muss. Schon im Jahr 2020 sagte Macron, die „vitalen Interessen“ Frankreichs hätten eine „europäische Dimension“ und damit auch das französische Nuklearpotential, das diese schützt. Über einen Nukleareinsatz entscheidet der Präsident allein – in einer künftigen Lage, deren Parameter man heute nicht antizipieren kann. Dies schließt aber nicht aus, dass französische vitale Interessen in einem vereinten Europa eben auch betroffen wären, wenn beispielsweise ein exponierter baltischer Verbündeter bedroht würde.
In dem angebotenen „strategischen Dialog“ sollten die eingeladenen europäischen Verbündeten daher ausloten, ob diese „Europäisierung“ der französischen Doktrin so konkretisiert werden könnte, dass sie einer minimalen erweiterten Abschreckung gleichkäme. Reichen beispielsweise die französischen sub-strategischen Waffen für ein Minimum an flexiblen Einsatz-Optionen für den Schutz anderer Europäer aus? Wäre es beispielsweise vorstellbar, dass (1) künftig französische nuklearfähige Kampfflugzeuge zeitweise in Deutschland oder in Polen stationiert würden; (2) britische, deutsche, französische und polnische nuklearfähige Kampfflugzeuge an einer gemeinsamen Nuklearübung teilnähmen; (3) Frankreich an der Nuklearen Planungsgruppe der NATO – zunächst als Beobachter – teilnähme? – Solche Fragen könnten Gegenstand eingehender Konsultationen mit Frankreich und Großbritannien sein, zunächst wohl im kleinen Kreis.
Doch klar ist auch: Die Zwickmühle bleibt, da darf man sich keinen Illusionen hingeben. Eine neue deutsche Bundesregierung muss in enger Abstimmung mit Frankreich und auch Großbritannien jeder künftigen amerikanischen Regierung signalisieren, dass es bei diesen Überlegungen um eine komplementäre Strategie geht – nicht darum, den NATO-Atomschirm zu verlassen.