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35 Jahre sind vergangen, seit Slobodan Milosević, der serbische Diadoche im zerfallenden Tito-Jugoslawien, mit seiner Kosovo-Rede die Lunte an gärende Konflikte legte, die den Balkan dann in Krieg und Elend versinken ließen. Und 29 Jahre sind vergangen, seit wir am 11. Juli 1995 Zeugen wurden eines von serbisch-bosnischen Milizen begangenen Völkermords an bosniakischen Männern und Knaben in Srebrenica-Potočari. Diese Schandtat war der Tiefpunkt einer militärischen ethnisch-kulturellen Auseinandersetzung. Sie legte erbarmungslos das Paradoxon des Tito-Jugoslawiens offen: Statt einer tiefgreifenden Versöhnung wurden nationale, politische und religiöse Brüche nur oberflächlich zugedeckt und gegeneinander austariert.
Die westlichen Staaten waren lange nicht entschlossen genug, dem Terror im zerfallenden Jugoslawien Entscheidendes entgegenzusetzen. Erst der Genozid in Srebrenica änderte dies. Das Friedensabkommen von Dayton führte 1995 zum Waffenstillstand und zur Garantie der Integrität des Staates Bosnien-Hercegovina. Das Versprechen der internationalen Gemeinschaft war, das Land gesichert zu Versöhnung und einer Zukunft im geeinten Europa zu begleiten. Bosniaken, Kroaten, Serben und alle anderen sollten ohne Diskriminierung ihre Identität in einen gemeinsamen Staat einbringen.
Die Kriegsgefahr ist seither gebannt. Politische Stabilität und der gute politische Wille erfahren aber immer wieder überraschende Attacken: Eine von Deutschland und anderen Staaten eingebrachte Resolution der UN-Generalversammlung wird bewusst missverstanden. Diese Resolution zur Erinnerung an den Völkermord von Srebrenica erklärt den 11. Juli zum internationalen Gedenktag, fordert Unterstützung der internationalen Gemeinschaft für das „Nie wieder!« und benennt nur verurteilte Kriegsverbrecher als Schuldige. Jede Kollektivierung der Schuld wird vermieden. Doch reicht diese Erklärung zum Anlass für eine inszenierte politische Vertrauenskrise zwischen den Ethnien im Land.
Bisheriger Höhepunkt ist die „Panserbische Erklärung« vom 8. Juni. Quellen in Belgrad bezeichnen die völkerrechtlich problematischen Teile dieser Erklärung – die rechtswidrige Neuinterpretation des Dayton-Vertrages einschließlich eines Sezessionsrechts der überwiegend serbisch bewohnten Teile Bosnien-Hercegovinas – und den politischen Angriff auf die Integrität des Staates als balkanische Rhetorik. Doch die politische Spitze der bosnischen Serben in Banja Luka arbeitet bereits an der Umsetzung der Proklamation. Jetzt ist konstruktive Klugheit aller gefragt. Der Dayton-Vertrag verbietet Sezession. Die Vielvölkerlandschaft im Westbalkan lässt sich nicht durch Grenzverschiebungen befrieden. Wer in Bosnien und Hercegovina bestimmte Regionen ausschließlich einer Ethnie zuschreibt, zerstört das fragile Vertrauen der Menschen in eine gemeinsame Zukunft in einem integrierten Europa.
Seit 1995 setzt man auf Funktionalität des Staates und juristische Aufarbeitung mit starker internationaler Hilfe. Kriegsverbrecher wurden verurteilt. Gemeinsame Aufarbeitung der Vergangenheit aber hat in der Breite der Gesellschaft nicht stattgefunden. Stattdessen werden Feindbilder der Vergangenheit weiter politisch instrumentalisiert. Kriegsverbrecher werden wieder gefeiert. Es bedurfte einer gesetzlichen Anordnung des Verfassers, um künftig die Übernahme öffentlicher Wahlämter durch verurteilte Kriegsverbrecher zu untersagen.
Der Präsident der „Republika Srpska“, einer der beiden Entitäten des Landes, erdreistet sich, die genaue Zahl der Opfer in Srebrenica politisch zu thematisieren. Er holt sich seinen Rat hierfür wohl auch bei Wladimir Putin, den er im Monatsabstand besucht – und der mutmaßlich seinen Einfluss nutzen könnte, zumindest Unruhe (und mehr?) in Bosnien-Hercegovina zu stiften. Der Weg geduldiger Versöhnung ist schwierig, aber unabdingbar.
Und das setzt nicht erst bei den Kriegsjahren von 1991 bis 1995 an. Die Aggression Hitlers und die Rolle seiner Verbündeten in der Region ist nicht umfassend aufgearbeitet. Deutschland muss zur Darlegung geschichtlicher Wahrheit beitragen. Auch die Erinnerung an das KZ Jasenovac oder an Kragujevac, wo 1941 die Wehrmacht 2800 serbische Menschen hinrichtete, muss in das gemeinsame „Nie wieder!« münden. Ohne allseitige Klarheit, Ehrlichkeit und Vertrauen wird die Zukunft beschädigt. Die Einladung an Bosnien-Hercegovina vom 21. März, Beitrittsverhandlungen mit der EU aufzunehmen, war wichtig und richtig. Aber dieser Weg ist schwierig. Er muss von einem strategischen und werteorientierten gesellschaftlichen Engagement und den stabilisierenden Garantien des Dayton-Vertrags begleitet werden. Mit den verantwortungsbewussten proeuropäischen einheimischen Kräften kann es gelingen. In Wahrheit haben weder die EU noch die Dayton-Vertragspartner noch Bosnien-Hercegovina eine Wahl. Die Folgen eines Scheiterns sind nicht kalkulierbar. Die Menschen in Bosnien-Hercegovina entscheiden sich bereits jetzt jeden Tag in großer Zahl individuell für den Weg zur EU.