Deutschland hat, anders als andere Nationen, kein ausformuliertes Gesamtkonzept einer nationalen Sicherheitsstrategie, wie auch aus dem aktuellen Koalitionsvertrag hervorgeht. Bereits mit dem Weißbuch 2006 wurde zwar ein Begriff „vernetzter Sicherheit“ eingeführt. Allerdings betonte dieser vor allem Deutschlands Einbindung in, und seine Mitwirkung an, multinationalen Organisationen, während er hingegen verstetigte und ressortübergreifende Strukturen für das Inland nur als Absicht formulierte. Das Weißbuch 2016 („Zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“) wurde hinsichtlich der Bedrohungsperzeption wesentlich deutlicher als das Weißbuch von 2006 und benannte erstmals konkret den freien Zugang zu Informations‑, Kommunikations‑, Versorgungs‑, Transport- und Handelslinien sowie die Sicherheit der Rohstoff- und Energieversorgung als zentrale Interessen einer deutschen Sicherheitspolitik. Doch das Weißbuch 2016 ließ noch nicht erkennen, welche Mechanismen für einen koordinierten Ansatz zum Schutz dieser Interessen etabliert werden sollten.
Der völkerrechtswidrige Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 hat die Augen dafür geöffnet, dass eine Sicherheitsstrategie nicht nur militärische Sicherheit, sondern auch Energiesicherheit (darum eben kein Nord Stream 2!) und andere Felder, eingebunden in eine koordinierte und vorausschauend geplante Gesamtstrategie, umfassen muss. Damit ist auch die zivile Wirtschaft angesprochen, die in Deutschland weit mehr als andere Volkswirtschaften im Euroraum durch die Existenz signifikanter länder- und branchenspezifischer Klumpenrisiken geprägt ist. Nötig ist eine solche Strategie geworden, weil der historisch überproportional hohe Anteil an weltweiter Wertschöpfung, auf den sich die Bundesrepublik Deutschland jahrzehntelang stützen konnte, unwiderruflich Geschichte geworden ist, seit China im Jahr 2005 Deutschland im Ranking der führenden Wirtschaftsnationen überholt hat. Damit sind auch nicht-militärische Einflussmöglichkeiten (Stichwort „deutsche Scheckbuch-Diplomatie“) deutlich geringer geworden. Die Mitgliedschaft Deutschlands in der NATO sichert zwar Deutschlands militärische Sicherheit, kann aber nicht vor denjenigen nichtmilitärischen Sicherheitsbedrohungen im Inland (wie beispielsweise der Gefährdung der Energieversorgung) schützen, auf die nur eine gesamtgesellschaftliche Antwort möglich ist. In einer Welt zunehmender Unsicherheit (erinnert sei an die Rede des damaligen Außenministers Frank-Walter Steinmeier aus dem Jahr 2016: „Die Welt aus den Fugen – was hält uns zusammen?«) sollte ein gesamtstaatlicher und ‑gesellschaftlicher Entwurf unserer Sicherheit selbstverständlich sein.
Wie oben skizziert, wurden in den letzten beiden Weißbüchern von 2006 und 2016 bereits ansatzweise solche Ziele in Richtung einer gesamtstaatlichen Sicherheitsvorsorge formuliert; dennoch ist Deutschland von einer Verstetigung dieses Auftrags, wie dies z.B. die USA und, uns besser vergleichbar, Japan tun, noch meilenweit entfernt. Es gibt zwar den Bundessicherheitsrat und das gelegentlich tagende Sicherheitskabinett, aber keinen verstetigten Mechanismus, aus dem sich ablesen lässt, dass eine nationale Sicherheitsstrategie als ständige Aufgabe wahrgenommen wird. In Japan besteht mit dem Nationalen Sicherheitsrat (National Security Council, Kokka anzen-hoshō-kaigi) ein ständiges Gremium des Kabinetts, das sich mit den Richtlinien der Landesverteidigung, der Verteidigungsrahmenplanung, der Rahmenplanung für die Produktion von Rüstungsgütern, aber auch allen strukturellen Faktoren ziviler kritischer Infrastrukturen und Einrichtungen befasst.
Ins Leben gerufen wurde es von der Legislative durch das Gesetz zur Einrichtung des Nationalen Sicherheitsrates, das auch das Portfolio der Aufgaben definiert. Dem Gremium gehören die Minister der Kernressorts sowie der Vorsitzende der Nationalen Kommission für Öffentliche Sicherheit an.
Insbesondere die Verteidigungsrahmenplanung ist ein rollierendes Dokument, das turnusmäßig überarbeitet wird. Das für die nationale und internationale Öffentlichkeit sichtbarste Ergebnis dieses verstetigten Prozesses ist das jährlich erscheinende Verteidigungsweißbuch mit umfassender Darstellung der regionalen und weltweiten Sicherheitslage. Die Verteidigungsrahmenplanung mündet außerdem in einen rollierenden mittelfristigen Planungsprozess, der strukturell unserer mittelfristigen Haushaltsplanung vergleichbar ist. Dieses mehrstufige System leistet, was Deutschland fehlt: Eine Verstetigung der Auseinandersetzung mit den Risiken eines sich ständig wandelnden sicherheitspolitischen Umfeldes und den möglichen Auswirkungen auf Frieden und Wohlstand. Nicht zuletzt stellen Staaten, die für uns Kooperationspartner und zugleich systemische Konkurrenten sind, ihre komplette Wirtschaft in den Dienst nationaler Sicherheit – das sollte Deutschland so nicht nachahmen, aber darauf sollten wir vorbereitet sein.
Ein letztes Wort: Sollte der angedachte 100-Milliarden-Euro Sonderfonds für die Bundeswehr Wirklichkeit werden, dann ist eine solide strategische gesamtstaatliche Sicherheitsplanung schon aus Haushaltsperspektive zwingend erforderlich, damit das Geld nicht verpufft wie ein Lottogewinn.