„Russland wird weiter versuchen, die Europäer zu spalten“ – so äußerte sich Norbert Röttgen im Januar 2022 zur Lage an der russisch-ukrainischen Grenze. Das war vor dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine. Putin setzte auf ein gespaltenes Europa, doch seine Militäroffensive hat die EU im Eiltempo politisch geeint. Wird diese neue Einheit Europas von Dauer sein? Und: Wissen Sie, wer Odysseas Elytis ist?
In Zeiten wie diesen müssen wir uns ins Gedächtnis rufen, dass Deutschland ein meinungsbildender Akteur in Europa ist. Das Land ist trotz seiner intellektuellen Orientierung Richtung angelsächsischer Welt eine wichtige Referenz für verschiedene politische Strömungen in ganz Europa, auch wenn dies in der Selbstwahrnehmung nicht immer deutlich werden mag. In den Medien erfährt man in Deutschland kaum etwas darüber, welche Debatten in den anderen Mitgliedstaaten Europas geführt werden und welche Diskurse jeweils im Inland aktuell sind. Es ist, als würde man einen Austausch auf Augenhöhe scheuen. Die auffällige Absenz internationaler Themen im Wahlkampf zeigt, wie wenig den Zuhörerinnen und Zuhörern zugetraut wird, sich mit diesen Themen zu befassen beziehungsweise wie wenig sie sich wirklich dafür interessieren.
Zu Recht ist das Dritte Reich mit verschuldeten vielen Millionen Todesopfern ein Trauma in der deutschen politischen Selbstwahrnehmung. Andererseits hat Deutschland aber auch einflussreiche politische Denker wie Lorenz von Stein oder Jürgen Habermas hervorgebracht, die über seine Grenzen aufklärend und demokratisierend gewirkt haben. Die Errungenschaften der Märzrevolution, die Bundespräsident Steinmeier in seinem kürzlich erschienen Buch „Wegbereiter der Demokratie“ würdigt, mögen im Ausland vielleicht nicht sehr bekannt sein. Trotzdem hat die Art des Umgangs mit Politik, den wir in Deutschland gelernt, gelitten und erkämpft haben, aufgrund eben dieser vielfältigen Auseinandersetzung und Literatur auf dem Gebiet, wie man die Teilhabe der Bevölkerung an der Macht organisiert, einen großen Einfluss auf andere europäische politische Denkrichtungen.
Der Professor für Diplomatiegeschichte Alan K. Henriksons zeigt in „The Future Of Diplomacy? Five Projective Visions“ hinsichtlich der innereuropäischen Diplomatie das Problem der illusion of familiarity auf: Weil sich Politiker und Politikerinnen auf dem europäischen Parkett ständig begegnen, unterliegen sie der Illusion, dass sie sich – und ich füge hinzu: die Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten ebenso – wirklich kennen. Das bedeutet aber nicht, dass sich Europäerinnen und Europäer im täglichen Leben und in der Mentalität tatsächlich nahe seien. Auch wenn Erasmus+Programme und günstige Flüge innerhalb der EU bestimmt einiges dazu beigetragen haben, den Austausch auch auf Bürger*innenebene zu fördern, so mangelt es doch oft an echter Kenntnis der jeweils anderen Kultur, Sprache, Geschichte und – ja auch – der nationalen Traumata. Europa fehlt eine gemeinsame europäische kulturelle Geschichtsschreibung außerhalb des Bezugs auf die römische und griechische Antike und gegeneinander geführter Kriege.
Die deutsche Politik hat es seit 1945 vermieden, offen eine Führungsposition innerhalb der EU einzunehmen, die sie aber aufgrund des geschichtlichen und wirtschaftlichen Gewichts trotzdem innehat. Ich möchte dafür werben, diese Führungsrolle bewusst zu gestalten, da mit ihr natürlich auch Verantwortung einhergeht. Zum Glück leben wir nicht
mehr in Zeiten und Regionen, in denen leadership notwendigerweise mittels der militärisch geprägten Logik des Autoritären sowie top-down umgesetzt wird, wie ein Blick auf die verheerende autokratisch geprägte Außen- und Innenpolitik Putins beweist; tansformative leadership, wie es gegenwärtig an Universitäten wie der Oxford Saïd Business School gelehrt wird, geht die Wege des Inklusiven, des bottom-up und des Zuhörens. Hier eröffnen sich für die Demokratie und die EU fantastische Möglichkeiten. Denn gerade auf dem gemeinsamen Weg in die weitere Kohäsion und Stabilisierung Europas wird sich noch zu wenig gegenseitig zugehört. Die öffentlichen Debatten in Deutschland sollten in diesem Licht möglichst damit beginnen, auch andere innereuropäische Quellen in Betracht zu ziehen. Gleichzeitig sollte der eigene Diskurs auch deswegen kritisch betrachtet werden, weil er im Ausland oft interessiert mitgelesen wird. Im Folgenden möchte ich erklären, warum.
Eine der zentralen Fragen für mich ist zum Beispiel, wie wir im inneren öffentlichen Diskurs mit unseren europäischen Verbündeten umgehen. Eine große Hürde für ein wertschätzendes Miteinander ist meines Erachtens, dass sich in der deutschen Wahrnehmung das Bild des sogenannten Gastarbeiters fest als Teil des sozialen Gefüges eingebrannt hat: arme Südeuropäerinnen und Südeuropäer, die ab den 1960er-Jahren nach Deutschland kamen, im Gepäck die mit der Migration verbundenen Hoffnung auf Stabilität und Wohlstand, um der BRD beim wirtschaftlichen Wiederaufbau zu helfen und die nach Möglichkeit schnell wieder in ihr Land zurückgehen sollten, sobald ihre Arbeit in Deutschland abgeschlossen war. Ich halte dieses damals entstandene Bild noch heute für ein grundliegendes Problem und für einen der Gründe, die eine wirkliche europäische Kohäsion zwischen dem Norden und dem Süden verhindern, denn diese Denkweise entzieht vielen die Möglichkeit, sich gegenseitig als gleichgestellte Mitbürgerinnen und Mitbürger einer gemeinsamen Kultur anzuerkennen und verstärkt eine kryptokoloniale Mentalität, wie sie der Migrationsforscher Mark Terkessidis beschreibt.
Ich möchte anhand des folgenden Beispiels verdeutlichen, wie schnell sich in Deutschland die Akzeptanz der südeuropäischen Mitbürgerinnen und Mitbürger als gleichwertige Europäer verflüchtigen kann. In der Zeit der Eurokrise 2008 und in den folgenden Jahren wurden in Teilen der deutschen Presse, besonders in der Berichterstattung des FOCUS, der Welt und der BILD-Zeitung, Ressentiments gegenüber den Schuldnerländern des Südens geschürt. Professor Bickes, Linguist an der Leibnitz Universität Hannover, beschrieb die Auswirkungen im Kontext der deutsch-griechischen Beziehungen folgendermaßen: „Das […] geschaffene Stereotyp vom kulturlosen, verwahrlosten und maßlosen Griechen einerseits und das in beunruhigend kurzer Zeit wiederbelebte Stereotyp vom machtgierigen und gefühlskalten Deutschen, der immer noch vom Geist Hitlers besessen ist, andererseits, wird die Beziehung der beiden Länder noch lange nachhaltig belasten.“
In meinen Augen liegt hier nicht nur eines der großen Dramen für die innereuropäische Kohäsion, sondern dies öffnet denjenigen Interessengruppen, die die EU schwächen und spalten möchten, Tür und Tor.
In Zeiten ‚großer‘ Themen, wie der eines Krieges in der Ukraine und dem Konkurrenzkampf demokratischer politischer Systeme, mag die Herausforderung der europäischen Kohäsion für einige Entscheidungsträgerinnen und ‑träger zweitrangig sein. Dabei ist gerade dieses Problem von besonderer Relevanz: Sollten wir es nicht schaffen, dass sich jeder Mitgliedstaat und jede europäische Kultur als gleichwertiges Mitglied der EU fühlt, wird es immer politische Kräfte geben, die empfänglich für Diskurse sind, die die EU infrage stellen. Dies ist das Einfallstor für die geostrategischen Interessen, die die innere Kohäsion der Union schwächen und unser Friedens- und Demokratieprojekt zum Straucheln bringen wollen. Damit sich die EU im Konkurrenzkampf politischer Systeme behaupten kann, muss die illusion of familiarity zu einer echten familiarity wachsen. Die Rolle Deutschlands kann hier positiv und entscheidend sein.
Nachdem jeder Nationalstaat sein Bestes gegeben hat, um seine kulturellen und geistigen Repräsentantinnen und Repräsentanten als einen Faktor der inneren Kohäsion zu stilisieren, ist nun vielleicht die Zeit gekommen, dass wir die großen Köpfe der Mitgliedsländer kennen- und schätzen lernen, dass wir gegenseitig zuhören, was der andere kulturell zu sagen hat. Denn Kultur ist ein zentraler Punkt der Union und steht als solcher in der Präambel des Lissaboner Vertrags. Aus verschiedenen Gründen fällt es der Union noch schwer, innerhalb Europas einen effektiven Kulturdialog zu fördern, aber es ist an der Zeit, dass wir uns auch kulturell und historisch nicht nur im klassischen Altertum und den langen Jahren der gegeneinander geführten Kriege begegnen, und dass man – wenn wir dem oben angegebenen Beispiel folgen – in Griechenland nicht nur einen Heinrich Böll kennt, sondern in Deutschland auch einen Odysseas Elytis, denn beide sind europäische Literaturnobelpreisträger. Diese Art des gegenseitigen Kennens und Zuhörens würde neue Möglichkeiten eröffnen, sich innerhalb der Union wertschätzender zu begegnen und in gegenseitigem Respekt zu leben, der im Folgenden zu einer wahren Union führen kann. Aus der illusion of familiarity könnte eine echte familiarity wachsen, vielleicht sogar eine echte europäische Identität.