Am 10. Juli 2024 veröffentlichten die Regierungen der Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland am Rande des Gipfeltreffens der NATO in Washington, D.C., folgende gemeinsame Erklärung zur Stationierung weitreichender Waffensysteme in Deutschland:
„Die Vereinigten Staaten von Amerika werden, beginnend im Jahr 2026, zeitweilig weitreichende Waffensysteme ihrer Multi-Domain Task Force in Deutschland stationieren, als Teil der Planung zu deren künftiger dauerhafter Stationierung. Diese weitreichenden konventionellen Fähigkeiten werden, wenn vollständig entwickelt, SM‑6, Tomahawks und derzeit in Entwicklung befindliche hypersonische Waffen umfassen, die über eine deutlich größere Reichweite verfügen als die derzeitigen landgestützten Systeme in Europa. Das Üben mit diesen modernen Fähigkeiten wird das Engagement der Vereinigten Staaten von Amerika für die NATO sowie deren Beiträge zur integrierten Abschreckung in Europa deutlich machen.“[1]
Im Einvernehmen mit der Bundesregierung werden die USA im Jahr 2026 also drei Waffensysteme stationieren: die Boden-Luft-Flugabwehrrakete SM‑6, den Marschflugkörper Tomahawk und die noch in der Entwicklung befindlichen Long-Range Hypersonic Weapon (LRHW) Dark Eagle. Sie sollen im Rahmen der amerikanischen 2nd Multi-Domain-Task Force (MDTF mit Hauptquartier in Wiesbaden) zunächst periodisch, später dauerhaft in Deutschland stationiert werden. Von den MDTF gibt es weltweit fünf; ihr Zweck ist die Bündelung von weitreichendem Feuer (Artillerie wie HIMARS, Marschflugkörper wie Tomahawk und Boden-Boden-Raketen wie LRHW Dark Eagle) mit Luftverteidigungssystemen.
Im Zusammenhang mit der Stationierung der MDTF sprechen viele Kommentatoren vom Schließen einer Fähigkeits- oder Schutzlücke. Diese Lücke lässt sich wie folgt beschreiben:
- Luftverteidigung, weitreichende Artillerie und ‚Deep-Precision-Strike‘-Fähigkeiten sind drei von mehreren Top-Fähigkeitsprioritäten des militärischen NATO-Oberbefehlshabers in Europa (SACEUR), die er aus den von den Verteidigungsministern der NATO gebilligten (regionalen und taktischen) Operationsplänen für die Verteidigung des gesamten Bündnisgebiets und dessen kritischer Regionen entlang der Ostflanke abgeleitet hat.
- Diese Prioritäten stellen zugleich mit die größten Defizite der NATO-Europäer dar. So hat sich die Zahl der möglichen verteidigungsrelevanten zivilen und militärischen Ziele in Europa, die in einem Krieg gegen Angriffe aus der Luft (mit Kampfflugzeugen, Raketenartillerie, taktischen und strategischen ballistischen Raketen oder Marschflugkörpern) geschützt werden müssen, mit dem russischen Großangriff gegen die Ukraine im Februar 2022 vervielfacht, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich Russland militärisch auch gegen einen oder mehrere NATO-Staaten wendet. Dem steht in der NATO nur eine begrenzte Zahl von Luftverteidigungssystemen gegenüber, die den großen Raum des NATO-Gebiets und die darin befindlichen Schutzobjekte nur sehr bedingt schützen können.
- Die Lösung dieses Dilemmas liegt jedoch nicht allein in mehr Luftverteidigung, sondern im strategischen Prinzip „Don´t try to defend against all arrows but try to hit the bow“. Die Umsetzung dieses Prinzips verlangt die Fähigkeit zum frühen Ausschalten besonders von Führungszentren, Radaranlagen, Marschflugkörper- und Raketenstellungen und Flugplätzen ‚in der Tiefe des Raums‘. Aber auch für den taktisch-operativen Zweck, also die Lähmung und schließliche Abwehr konventioneller russischer Angriffe entlang der Front, zeigt der Krieg in der Ukraine praktisch täglich die Notwendigkeit weitreichender land- oder luftgestützter Abstandswaffen – zur Ausschaltung von Gefechtsständen, weitreichender Artillerie, Logistik-Depots, Brücken und Bahnlinien u.a.m. weit hinter der Front.
- Die Stationierung der amerikanischen MDTF und ihrer Systeme sind die überfällige Antwort auf die russischen (mit konventionellen oder nuklearen Sprengköpfen bestückten) Mittelstrecken-Marschflugkörper 9M729 oder SSC‑8, mit der Moskau schon im Jahr 2017 den Vertrag über die Abschaffung von Intermediate-Range Nuclear Forces (INF) in Europa brach. Darüber hinaus bedroht Russland seitdem mit seinen Anti-Access/Area Denial (A2/AD)-Fähigkeiten in der russischen Enklave Kaliningrad, die mit der 9K720 ISKANDER auch nuklearfähige Raketen kurzer Reichweite (bis 500 km) umfassen, die Sicherheit des Bündnisses im Nordisch-baltischen Raum.
Damals entschied die NATO, nicht mit der Stationierung von zusätzlichen Nuklearwaffen in Europa zu antworten, sondern sich auf verstärkte Aufklärung, weitreichende, zielgenaue konventionelle Mittel, Flug- und Raketenabwehr und den „Erhalt funktionsfähiger nuklearer Mittel“ zu beschränken. Im Jahr 2018 kündigte der damalige amerikanische Präsident Donald Trump aufgrund der anhaltenden russischen Vertragsverletzung den INF-Vertrag. Danach wurden die SSC‑8 und weitgehend auch die ISKANDER zu Unrecht kaum mehr thematisiert, vor allem nicht öffentlich – bis zum Beginn des Großangriffs auf die Ukraine im Februar 2022. - Die mit der Stationierung von amerikanischen Mittelstreckenwaffen verbundene Botschaft an die russische Führung lautet: Bedroht Russland NATO-Europa oder greift einen oder mehrere Bündnisnationen militärisch an, ist sein Territorium kein Sanktuarium. Weitreichende Mittelstreckenwaffen der USA in Deutschland, die militärisch hochwertige Ziele in Russland treffen können, sind also ein wichtiges Mittel der konventionellen Abschreckung der NATO, wie dies auch Verteidigungsminister Pistorius zu Recht herausgestellt hat.
Es ist zu begrüßen, dass die amerikanische und deutsche Regierung ihren Beschluss zur Stationierung von weitreichenden Abstandswaffen beim Washingtoner Gipfel bekanntgaben, weil dadurch sichtbar wurde, dass Deutschland damit einen wichtigen Beitrag zur Verteidigungsfähigkeit der NATO und zur Stärkung der konventionellen Abschreckung des Bündnisses leistet – eines von drei Hauptthemen des Gipfels. In diesem Zusammenhang wurde auch bekannt, dass Deutschland, Frankreich, Italien und Polen gemeinsam bodengestützte Marschflugkörper entwickeln wollen. Man sollte hoffen, dass die EU dieses Vorhaben mit ihren Mitteln unterstützen wird.
Was die politische Kommunikation der Bundesregierung angeht, so trifft zu, dass die „Entwicklung und Einführung von Zukunftsfähigkeiten wie abstandsfähigen Präzisionswaffen“ bereits in der Nationalen Sicherheitsstrategie verankert ist und Bundeskanzler Scholz dies in seiner Erklärung bei der Münchner Sicherheitskonferenz bekräftigte. Eine ausführliche sicherheitspolitische Begründung durch den Bundeskanzler im Bundestag wäre angesichts der Bedeutung und strategischen Reichweite der gemeinsamen amerikanisch-deutschen Entscheidung gleichwohl angemessen und wünschenswert, um die Akzeptanz für das Vorhaben in der Bevölkerung zu fördern.
[1] Following discussions ahead of the NATO Summit, the governments of the United States and Germany released the following joint statement: The United States will begin episodic deployments of the long-range fires capabilities of its Multi-Domain Task Force in Germany in 2026, as part of planning for enduring stationing of these capabilities in the future. When fully developed, these conventional long-range fires units will include SM‑6, Tomahawk, and developmental hypersonic weapons, which have significantly longer range than current land-based fires in Europe. Exercising these advanced capabilities will demonstrate the United States’ commitment to NATO and its contributions to European integrated deterrence.